Narratives Interview

Interviews sind eine typische Form der qualitativen Datenerhebung. Mit ihnen werden auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Zielen Aussagen, Sinnstrukturen und Bedeutungsinhalte erhoben, die dazu dienen, eine Forschungsfrage zu beantworten. Narrative, also erzählende Interviews gelten als nichtstandardisierte Befragungen von Einzelpersonen, Paaren oder Gruppen. Spezielle Formen sind das ethnografische und das fokussierte Interview. Als Einstieg dient meist ein Stimulus, der die Befragten motivieren soll, frei zu sprechen. Anschließend stellt der Interviewer oder die Interviewerin weitere Fragen.

Ablauf des Interviews

Für narrative Interviews gelten die gleichen Grundregeln wie für alle Befragungen. Der Ablauf eines narrativen Interviews unterscheidet sich allerdings im Hauptteil von standardisierten (Fragebogen) oder halbstandardisierten (leitfadengestützten) Erhebungsformen.

1. Phase: Einstieg
  • Smalltalk („Haben Sie gut hergefunden?“, „Ach, dieses Wetter!“)
  • Aufnahmegerät so bald wie möglich einschalten, am besten nach dem Smalltalk (Gewöhnungseffekt) und so, dass die Einverständniserklärung zu Teilnahme und Aufzeichnung mit aufgenommen wird
  • Hinweis auf Vertraulichkeit/Anonymisierung der Daten
  • Noch einmal Einverständnis zur Teilnahme und/oder Aufzeichnung
  • Auflockerung („Lassen Sie sich von der merkwürdigen Situation nicht stören, nehmen Sie sich Zeit.“)
  • Hinweise zum Ablauf („Ich werde erst einmal nur zuhören und wenig fragen. Sprechen Sie einfach darüber, was Ihnen einfällt.“)
2. Phase: Eingangsfrage/Erzählstimulus

Nun tauschen sich die Rollen: Nicht der Forscher oder die Forscherin ist jetzt ExpertIn, sondern der oder die Befragte. Den Start für die eigentliche Erhebung gibt eine allgemeine Frage, die einen Bezug zum Thema herstellt.

Beispiel
Thema: Gründe für Menschen, den Beruf freiwillig zu wechseln
Frage: „Wie war das damals, als Sie den Beruf gewechselt haben? Wie kam das?“

Thema: Biografische Brüche bei ArbeiterInnen im Bergbau
„Vielleicht können Sie erzählen, wie Ihr Leben so verlaufen ist. Also wo sind Sie aufgewachsen, zur Schule gegangen …?“

Der Interviewer oder die Interviewerin sagt möglichst nichts, sondern nickt nur und gibt vielleicht hin und wieder ein „mhm“ als Bestätigung, dass er oder sie verstanden hat. Fragen sollten nur gestellt werden, wenn man etwas grundsätzlich nicht verstanden hat und man vielleicht nicht weiter folgen könnte. Dieses leise Zuhören erfordert etwas Übung, da es kein alltägliches Gespräch ist, sondern zu einem Monolog auffordern soll.

Dieser Frageteil kann recht lang sein (bis zu 60 Minuten). Die Phase gilt als abgeschlossen, wenn der oder die Befragte nichts mehr zu sagen weiß, auch nicht nach einer längeren Pause über mehrere Sekunden. Häufig artikulieren Befragte diesen Punkt: „So, mehr weiß ich jetzt auch nicht.“ oder „Stellen Sie doch mal ne Frage!“

3. Phase: Immanente Fragen

Immanente Fragen beziehen sich unmittelbar auf das Gesagte. Es handelt sich um Aufforderungen oder Bitten, noch einmal genauer auf etwas einzugehen. Mit diesen Rückgriffstrategien gelingt es dem oder der Forschenden sehr viel besser, relevante Aussagen für die spätere Analyse zu erheben, da die SprecherInnen noch mitten im Erzählen sind und ein Interesse daran haben, Bezüge klarer zu machen, um verstanden zu werden.

Frage nach Details

  • „Sie haben öfter Punkt X betont. Das scheint wichtig für Sie zu sein. Können Sie da näher drauf eingehen?“
  • „Ich muss noch mal nachfragen: Dieses Projekt, in dem Sie gearbeitet haben, womit beschäftigt sich das genau?“
  • „Ihr habt vorhin über Klamotten gesprochen. Könntet Ihr dazu noch mehr sagen?“

Leerstellen füllen

  • „Sie haben nur kurz von der Geburt Ihres Kindes gesprochen und sind dann gleich zum Berufseinstieg gekommen. Wie viel Zeit lag denn dazwischen?“
  • „Sie sagten, dass Sie mehrfach den Wohnort gewechselt haben. Wo genau haben Sie damals gewohnt?“

Abgebrochene Passagen vervollständigen

  • „Vorhin hast du kurz diese Party angedeutet. Wer hat denn da gefeiert?“
  • „Sie haben gesagt, dass der Prozess unerwartet ausgegangen ist. Wie lautete das Gerichtsurteil?“
4. Phase: Exmanente Fragen

Exmanente Fragen ergeben sich nicht oder nur entfernt aus dem Gesagten, sondern zielen auf das spezifische Erkenntnisinteresse der Forscherin oder des Forschers. Das sind zum Beispiel Fragen nach Begründungen, Meinungen, Deutungsversuchen oder Einschätzungen („Warum glauben Sie, ist das in diesem Berufsfeld anders?“; „Meint Ihr, es wäre besser, so etwas in der Klasse zu besprechen?“).

Hier können auch Widersprüchlichkeiten, Auffälligkeiten oder Kernkonflikte angesprochen werden, aber man sollte vorsichtig sein, die GesprächspartnerInnen nicht zu diskreditieren oder in Gruppen, die vielleicht schon heiß diskutiert haben, Feindseligkeiten zu schüren. Auch sollten in Gruppen keine Einzelpersonen mit solchen Nachfragen bloßgestellt werden.

5. Phase: Gespräch abrunden
  • Befragung/Gespräch abrunden
  • Für die Teilnahme bedanken (vielleicht gibt es ja auch eine Gegenleistung, eine Kleinigkeit? Geld?)

 


Literatur
  • Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis 3, S. 283–293.
  • Przyborski, Aglaja & Monika Wohlrab-Sahr (2014): Qualitative Sozialforschung: ein Arbeitsbuch. 4. erweiterte Auflage. München: Oldenburg, S. 79–87.
  • Küsters, Ivonne (2009): Narrative Interviews. Grundlagen und Anwendungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 68–693.
  • Lucius-Hoene, Gabriele & Deppermann, Arnulf (2020): Rekonstruktion narrativer Identität – Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.