Grounded Theory

Die Grounded Theory ist eine Art Forschungsstil, also eine ergebnisoffene Serie von methodischen Operationen, die eine datengestützte Theoriebildung ermöglichen soll. Sie ist keine Methode im klassichen Sinn. Vielmehr verschränkt die Grounded Theory Deduktion (also methodisch gewonnene Ableitungen aus Materialien) dicht mit Induktion (also mit theoriegenerierenden Elementen). Ziel ist es, realitätsnahe und empirisch gesättigte Theorieelemente zu entwerfen.

Erster Untersuchungsschritt ist die sequenzielle Analyse von Texten. Es wird mit einem Codierverfahren gearbeitet, über das sukzessive theoretische Zusammenhänge erschlossen werden. (Hier besteht die Gefahr, schnell in Richtung Inhaltsanalyse zu verkürzen. Dies wäre nicht mehr im Sinne der Grounded Theory, weil das theoriegenerierende Element wegfallen würde.)

Auf den ersten Blick erscheint dieser Zugang vielleicht einfach. Allerdings ist es wichtig, nicht nur zu klassifizieren und zu sortieren, sondern den komplexen Interpretationsvorgang dieser Methode verstehen und anwenden zu lernen. Zum Einstieg ist es hilfreich, vorhandende Untersuchungen nachzuvollziehen.

Sinnvoll für …

Die dichte Verschränkung von qualitativer Auswertung und Theoriebildung erlaubt recht weitläufige Operationen. Das liefert Freiheiten, erschwert allerdings die konkrete Übersetzung oder Operationalisierung. Für Haus- oder Abschlussarbeiten ist die Grounded Theory eher ungeeignet. Thematisch gibt es jedoch keine Einschränkungen.

Mögliches Material

Aufgrund des Methodenmixes und der Flexibilität der Grounded Theory gibt es eigentlich keine Beschränkungen, was die Materialien angeht.

Erhebungsinstrumente

Prinzipiell gilt: „All is data.“ Alles kann also analysiert werden: Interviews, Gerichtsverhandlungen, Feldbeobachtungen, Tagebücher, Fragebogen, Statistiken etc. Der Schwerpunkt liegt nicht auf der Form der Erhebung, sondern auf dem Prozess des Samplings und der Theoriebildung selbst. Sobald man anfängt, das Material zu analysieren, bildet man die ersten (heuristischen, nicht statistischen) Hypothesen, die fortlaufend überprüft und modifiziert werden. Auf dieser Basis wird neues Material (möglicherweise auf anderen Wegen) erhoben, anhand dessen die entstehende Theorie geprüft und weiterentwickelt wird.

Grundprinzipien

1. Theoretisches Sampling und ständiger Wechselprozess von Datenerhebung und Auswertung
Zunächst wird nur wenig Material erhoben (z. B. ein Interview). Dieses Material wird „expansiv“ analysiert: Alles, was relevant sein könnte, wird berücksichtigt. Später wird zugespitzt, und Dinge, die am Anfang wichtig erschienen, sind möglicherweise nicht mehr so relevant, weil sich andere, bedeutendere Aspekte gezeigt haben. Die ersten Konzepte sind also vorläufig und erweisen sich erst in der Gesamtschau als möglicherweise relevant, etwa wenn sie sich im später erhobenem Material wiederholen. Das erste Sampling ist also eine Art Zugang zum Feld: Es gibt ein grobes Interesse und man sucht entsprechende Beobachtungsobjekte aus. Jedes weitere Sampling basiert auf weiterentwickelten Kategorien und Konzepten. Es werden also eigentlich nicht mehr Personen gesampelt, sondern Situationen, Ereignisse, Schilderungen. Das alles soll zur theoretischen Sättigung beitragen (vgl. Samplingstrategien).

2. Theoretisches Codieren und Verknüpfen
Theoretisches Codieren und Verknüpfen ist der nächste Schritt nach dem Zugang zum Feld oder zum Thema. Damit entsteht eine Art theoretische Integration von Konzepten und Kategorien.
Hier handelt es sich nicht einfach um das Transkribieren von Material. Vielmehr werden die Rohdaten in Konzepte überführt, die Daten werden präpariert: Das, was in einem bestimmten Vorgang oder in einer konkreten Äußerung zum Ausdruck kommt, wird zu einem Konzept verdichtet. Aus mehreren Konzepten, die sich auf dasselbe Phänomen beziehen, werden schließlich Kategorien gebildet. Diese Kategorien (höherwertige, abstrakte Konzepte) bilden die Eckpfeiler für die zu entwickelnde Theorie. Aber: Man gibt den Konzeptbündeln nicht einfach nur einen neuen Namen, sondern sie sind das Ergebnis von Interpretationen und Deutungen. Sie erfassen Zusammenhänge zwischen Konzepten und müssen diesen Sinnzusammenhang in der Bezeichnung erkennen lassen. Möglicherweise stellt man fest, dass die Konzepte noch keine Kategorienbildung zulassen. Dann wird mehr Material benötigt.

3. Orientierung am permanenten Vergleich
Der Forschungsprozess ist demnach ein permanenter Vergleich zwischen den untersuchten Materialien, den generierten Konzepten (oder Memos) und den abgeleiteten Kategorien. Empirie und Theorie sollen, anders formuliert, ganz eng verschränkt sein und permanent ineinandergreifen.

4. Schreiben theoretischer Memos über den gesamten Forschungsprozess
Gegen Ende dieses Prozesses wird der Erkenntnisweg selbst interessant. Das heißt, der gesamte Forschungsprozess wird einer Reflexion unterzogen, was praktisch mit Memos erfolgt, also kurzen, fortlaufend geführten Notizen zum jeweiligen Vorgehen und zum Erkenntnisprozess.

5. Relationierung oder Einordnung von Erhebung, Codierung und Memos
Am Ende wird die gesamte Forschungsleistung in den Kontext theoriebildender Sozialforschung gestellt und reflektiert. Dies soll, wenn alles gut läuft, die Theorieentwicklung an sich vorantreiben.

 


Literatur
  • Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm G. (1998). Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern: Huber.
  • Heiser, Patrick (2018): Awareness of Dying. Oder: Die Grounded Theory Methodologie. In Heiser, Patrick: Meilensteine der qualitativen Sozialforschung. Studientexte zur Soziologie. Springer VS, Wiesbaden, S. 205–267./li>
  • Strübing, Jörg (2019): Grounded Theory und Theoretical Sampling. In: Baur, Nina & Blasius Jörg (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 525–544.
  • Przyborski, Aglaja & Monika Wohlrab-Sahr (2014): Qualitative Sozialforschung: ein Arbeitsbuch. 4., erweiterte Auflage. München: Oldenburg, S.190–222.
  • Breuer, Franz (2010): Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.