Befragung

Die Befragung kommt immer dann zum Einsatz, wenn das, was interessiert, nicht beobachtet, sondern nur über Versprachlichung erfasst werden kann. Dies ist häufig dann der Fall, wenn es um Meinungen, Einstellungen, Werte oder Emotionen geht.

Mit Ausnahme von Arbeiten, die Sprache und Sprachgebrauch erforschen, ist die Sprache in der Regel nicht selbst Gegenstand der Untersuchung, sondern Medium. Dies ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung:

  1. Sprachliche Kommunikation ist immer situations- und kontextgebunden. Der Sinn des Gesagten lässt sich nicht aus der bloßen Wortbedeutung erschließen, sondern entfaltet sich erst im konkreten Gebrauch. Die KommunikationspartnerInnen müssen einander also „richtig“ verstehen, nicht aneinander vorbeireden oder nur das hören, was sie gern hören wollen. Das heißt auch, dass sprachliche Äußerungen eingebettet sind in Interaktionen und deshalb das Agieren der oder des Einen nicht ohne das Agieren der oder des Anderen nachvollzogen werden kann. Das, was der Forscher/die Forscherin sagt oder nicht sagt, tut oder nicht tut, beeinflusst das, was die Befragten sagen oder nicht sagen, tun oder nicht tun.
  2. Menschen werden bei Befragungen veranlasst, sich zu sich selbst zu äußern – sei es zu ihren Einstellungen und Werten, Alltagspraktiken oder Arbeitsweisen. Menschen können sich jedoch irren, falsch oder unvollständig erinnern, lügen oder sich selbst zu positiv oder zu negativ einschätzen. Und nicht alles, was die Forschung interessiert, ist den Befragten bewusst. Selbst- und Fremdperspektive sind also nicht zwangsläufig deckungsgleich; subjektive Einschätzungen dürfen nicht mit objektiven Tatsachen verwechselt werden. Wichtig ist auch, dass immer klar ist, wer spricht – der Forscher/die Forscherin oder der/die Befragte.
Grade der Standardisierung

Bei Befragungen geht es also – wie in der alltäglichen Kommunikation – um wechselseitiges Fremdverstehen. Anders als in der Alltagskommunikation muss dieses Fremdverstehen in der Forschung methodisch abgesichert werden, um wissenschaftlich verwertbare Ergebnisse zu erzielen. Dafür gibt es drei Wege (den Grad der Standardisierung bestimmt das Forschungsdesign):

Standardisierte Befragung

Die Versprachlichung wird maximal überindividuell und kontextfrei gehalten, sodass alle Befragten unabhängig von ihren eigenen kulturellen, sozialen oder sonstigen Prägungen das Gesagte gleich verstehen. Dies ist typisch für standardisierte Fragebogen mit ausschließlich geschlossenen Fragen, wo die Befragten aus vorgegebenen Antwortmöglichkeiten die für sie passende wählen. Alle Beteiligten sollten also die Fragen und Antworten gleich verstehen. Die Standardisierung eines Fragebogens führt zu einer stabilen Befragungssituationen (Konstanthaltung). Die Rahmenbedingungen sind somit für alle Befragten möglichst gleich, was bei ausreichend großer Zahl an befragten Personen (vgl. Stichprobe) auf Basis statistischer Analysen einen Schluss auf die Gesamtpopulation erlaubt. Standardisierte Befragungen werden also der hypothesenprüfenden Forschung zugeordnet und lassen sich statistisch auswerten und absichern.

Halbstandardisierte Befragung

Die Versprachlichung ist nur teilweise individuell. Das halbstandardisierte Interview (auch teilstandardisiertes, offenes Leitfadeninterview oder leitfadengestütztes Interview) gehört eigentlich nicht zu den klassischen Erhebungsinstrumenten der Sozialforschung. Dennoch wird es häufig eingesetzt. Meist ist die Begründung, dass die narrativen Formen zu unstrukturiert oder zu sprunghaft erscheinen und damit schwer auszuwerten sein dürften. Das ist allerdings nicht zwingend der Fall, kann aber zum praktischen Problem werden. Anders als bei nichtstandardisierten Befragungen können die Interviewten nicht oder nur sehr bedingt selbst entscheiden, worüber sie sprechen möchten. Der Leitfaden gibt von Anfang an die Themen und ihre Reihenfolge vor. In sozialwissenschaftlicher Terminologie heißt das: Die Interviewten können keinen eigenen Relevanzrahmen setzen, keine eigene Erzähllogik entfalten. Diese Interviewform ist geeignet, um ExpertInnen zu befragen, deren eigener Erzählbogen nachrangig ist. Man gelangt präziser und schneller zu den für die Forschungsfrage relevanten Punkten.

Nichtstandardisierte Befragung
Die Versprachlichung wird maximal individuell belassen, sodass aus der Menge des Gesagten die für das Fremdverstehen notwendigen Kontextinformationen rekonstruiert werden können. Der oder die Interviewende kann im Gespräch selbst entscheiden, wie und in welcher Reihenfolge die Fragen gestellt werden. Nur das Thema des Interviews ist festgelegt. Dies ist typisch für narrative Interviews oder in Gruppendiskussionen, in denen die Befragten aufgefordert sind, sich möglichst frei und nach eigenem Ermessen zu einem bestimmten Thema zu äußern. Dass die Befragten dabei etwas weiter ausholen, ist erwünscht, denn nur so lässt sich nachvollziehen, wie der/die Befragte etwas meint, wie er oder sie einen bestimmten Begriff verwendet usw. Wie der/die Befragte oder die Gruppe auf einen Gesprächsimpuls reagiert, was angesprochen wird und was nicht, was für erklärungsbedürftig gehalten oder als selbstverständlich vorausgesetzt wird, verrät dem Forscher/der Forscherin bereits viel zum Thema. Eigene Zurückhaltung ist deshalb oberstes Gebot, um die Ergebnisse nicht zu verfälschen und statt der Relevanzen der Befragten nur die eigenen Schwerpunkte zu erfassen. Nichtstandardisierte Befragungen kommen für die theoriebildende Forschung zu Einsatz.

 

Die Suche nach ProbandInnen und InterviewpartnerInnen

Die Art der Kontaktaufnahme mit potentiellen StudienteilnehmerInnen beeinflusst das Sampling. Wer Menschen über 65 befragen will und einen Aufruf nur über Instagram und Aushang an der Uni startet, wird vermutlich vorrangig Menschen erreichen, die in diesem Alter Instagram nutzen oder an der Uni unterwegs sind. Das kann die Daten verzerren. Der Weg der Kontaktaufnahme muss daher beschrieben werden und eventuell kritisch in die Interpretation der Daten einfließen. Nur so kann die scientific community später den wissenschaftlichen Beitrag angemessen einordnen.

Möglichkeiten der Kontaktaufnahme

Direkte Kontaktaufnahme: Über persönliche Kontakte oder Institutionen und deren Datenbanken, per E-Mail oder Brief, öffentlich oder halböffentlich. Eine Option ist, eine Institution anzuschreiben, etwa ein Krankenhaus, mit der Bitte, die Anfrage an PatientInnen weiterzuleiten. Interessierte wenden sich anschließend direkt an die/den Forschende/n. Da Institutionen keine Adressen herausgeben dürfen (Datenschutz), ist dies der einzige Weg, Kontakt mit den PatientInnen aufzunehmen. Zudem entscheiden sie selbst, ob sie teilnehmen möchten und bleiben vor der Institution anonym.

Schneeballprinzip: „Bitte leiten Sie diese E-Mail weiter.“ oder „Bitte teilen!“ auf Social-Media-Plattformen. Diese Variante ist unter anderem für Milieustudien, also die Untersuchung von dichten sozialen Zusammenhängen geeignet.

Öffentliche Kontaktaufnahme: Aushänge, Handzettel, Anzeigen in Zeitungen oder auf Webseiten.

Persönliche oder private Kontakte: Diese Form kann problematisch sein, da Forschende die Anonymität nicht wie bei unbekannten Personen gewährleisten können. Befragte können in der Erhebung, Forschende in der Auswertung befangen sein – besonders wenn private Informationen zutage treten, die in informellen Gesprächen noch nie Thema waren.

Beispiel
Das Thema ist „Kinderbetreuung an der Uni Leipzig“, der Fokus liegt auf Studierenden mit Kind. Die Uni selbst darf einerseits keine Adressen herausgeben und weiß andererseits nicht, welche Studierenden Kinder haben und welche nicht. In diesem Fall ist es also nicht möglich, ein Anschreiben an die Univerwaltung zu schicken, in der um eine Liste mit allen Studierenden gebeten wird, die ein Kind haben. Für eine solche Untersuchung wären Aushänge oder die halböffentliche Absprache an der Uni denkbar, etwa in der Uni-Kita. Wo sonst noch Aushänge sinnvoll sind, hängt wiederum von der Forschungsfrage ab: Befinden sich nur vor der Kita der Uni Aushänge, werden nur Eltern erreicht, die ihr Kind in dieser Kita betreuen lassen. Eltern, die aus welchen Gründen auch immer ihr Kind nicht dort untergebracht haben, fallen jedoch aus der Erhebung heraus. Wer diesen Gründen nachspüren will, muss andere Wege der Kontaktaufnahme berücksichtigen.

Vorbereitung

Vor allem bei den ersten Terminen sollte lieber zu viel Zeit eingeplant werden als zu wenig. Hier eignet sich ein Probedurchlauf, mit dem geprüft wird, wie lange ein Gespräch dauern könnte – mit Begrüßung, Fragen von der anderen Seite, etwas Small Talk etc.

Verbindlichkeit ist wichtig. Kurzfristige Terminverschiebungen oder Unpünktlichkeit kommen nicht gut an und können sich negativ auf die Erhebung auswirken.

Der oder die TeilnehmerIn sollte gefragt werden, ob er oder sie bereit ist, auch nach der Erhebung Fragen zu beantworten. Oft lässt sich nicht alles sofort klären. Vielleicht möchte jemand später noch etwas hinzufügen. Gerade bei privaten oder emotionalen Themen wollen Befragte manchmal nicht alles auf einmal erzählen.

Obligatorisch ist die Frage danach, ob er/sie einverstanden ist mit der Erhebungsform, und der Hinweis auf Datenschutz und Anonymität.

Für jede Befragung, die nicht online stattfindet, gilt:

  • Ruhiger Raum (draußen gibt es oft Ablenkung; Qualität von Mitschnitten leidet, Blätter fliegen weg)
  • Möglichst keine Unterbrechungen durch KollegInnen, MitbewohnerInnen, Kinder
  • Handy aus, Computer aus (wenn nicht Teil der Erhebung)
  • Getränk für InterviewpartnerIn, Essen stört allerdings eher
  • Keine weiteren ZuhörerInnen im Raum (Vertrauensfrage; Einfluss auf Antworten)
  • Aufnahmegerät vorher testen
  • Aufnahme vor Interviewbeginn starten, damit der Anfang nicht fehlt
Ablauf der Befragung

Befragungen können schriftlich oder mündlich, von Angesicht zu Angesicht, telefonisch oder online durchgeführt werden. Welche Form geeignet ist, hängt vom Forschungsdesign, vom Standardisierungsgrad und von den Rahmenbedingungen der Erhebung ab. Alle Varianten sollten drei Phasen umfassen (ausgenommen ist die Online-Erhebung):

1. Phase: Einstieg

  • Smalltalk („Haben Sie gut hergefunden?“, „Ach, dieses Wetter!“)
  • Aufnahmegerät so bald wie möglich einschalten, am besten nach dem Smalltalk (Gewöhnungseffekt) und so, dass die Einverständniserklärung zu Teilnahme und Aufzeichnung mit aufgenommen wird
  • Hinweis auf Vertraulichkeit/Anonymisierung der Daten
  • Noch einmal Einverständnis zur Teilnahme und/oder Aufzeichnung
  • Auflockerung („Lassen Sie sich von der merkwürdigen Situation nicht stören, nehmen Sie sich Zeit.“)
  • Hinweise zum Ablauf

2. Phase: Die Befragung

  • Je nach Art unterschiedlich

3. Phase: Dank & Verabschiedung

  • Befragung/Gespräch abrunden
  • Für die Teilnahme bedanken (vielleicht gibt es ja auch eine Gegenleistung, eine Kleinigkeit? Geld?)
Wie viel sollten die Befragten über das Forschungsprojekt wissen?

Menschen, die an einer Befragung teilnehmen, haben ein berechtigtes Interesse daran, etwas über den Hintergrund der Befragung zu erfahren. Darüber sollte sich der Forscher/die Forscherin schon allein aus Gründen des Respekts nicht hinwegsetzen. Wie viel und wie detailliert die Befragten informiert werden sollten, hängt jedoch stark von deren Persönlichkeit und von der Befragungsform ab und kann nicht pauschal festgelegt werden. Wichtig ist, dass jegliche Vorab-Informationen das Antwortverhalten beeinflussen können. Es ist deshalb erforderlich, sich genau zu überlegen, was genau man über das Forschungsinteresse und die Untersuchung mitteilen kann und möchte. Um die Teilnahmebereitschaft und das Vertrauensverhältnis nicht zu gefährden, sollten im Zweifelsfall allgemeinere, jedoch grundsätzlich wahre und verständliche Angaben gemacht werden. Soll im Rahmen der Unterrichtsforschung beispielsweise untersucht werden, wie Lehrkräfte Arbeitsaufträge an SchülerInnen formulieren, wäre es nicht ratsam, die Lehrkräfte vorher darauf aufmerksam zu machen, weil die Gefahr besteht, dass sie die Arbeitsaufträge anders formulieren als sonst. Stattdessen könnte etwa allgemein Unterrichtsgestaltung als Forschungsgegenstand angegeben werden. Zudem müssen allgemein ethische und rechtliche Aspekte eingehalten werden.

Gebe ich Aufnahmen/Transkripte/Untersuchungsergebnisse an die Befragten weiter?
Manchmal bitten ProbandInnen vor oder nach der Befragung um die Ton- oder Videoaufzeichnungen, um Transkripte oder die fertigen Untersuchungsergebnisse. Das ist nachvollziehbar, schließlich speist sich die Bereitschaft zur Teilnahme häufig aus einem Interesse an der Sache und beinhaltet einen Vertrauensvorschuss in den Forscher/die Forscherin. Auch der Forscher/die Forscherin ist manchmal geneigt, schon allein aus Dankbarkeit oder Pflichtgefühl über die Teilnahmebereitschaft der Befragten, die Materialien herauszugeben.

Trotzdem ist hier Vorsicht geboten: Einerseits sieht und/oder hört sich der/die Befragte in Ton- oder Bildaufzeichnungen plötzlich von außen, was – man denke an eigene Familienvideos – nicht immer eine angenehme Erfahrung ist. Andererseits resultiert der Wunsch, Zugriff auf diese Materialien zu haben, nicht selten aus der Angst davor, falsch wahrgenommen zu werden. Diese Angst verstärkt sich erfahrungsgemäß jedoch eher in einer von eben dieser Angst motivierten „Aufarbeitung“ der Befragung. Schlimmstenfalls zieht der/die ProbandIn sein/ihr Einverständnis zur Teilnahme zurück.

Nicht unerheblich ist zudem, dass das Versprechen, Materialien zur Verfügung zu stellen (Aufzeichnungen, Transkripte oder Interpretationen), das Verhalten und die Objektivität des Forschers/der Forscherin im Forschungsprozess beeinflussen kann. Mit dem Gedanken, dass sich der oder die Befragte die Aufzeichnung später anhört oder gar Verwandten und FreundInnen zeigt, formuliert der/die InterviewerIn die Fragen vielleicht unbewusst anders oder verzichtet auf die eine oder andere Nachfrage, um nicht spitzfindig oder naiv zu wirken. Zudem schreibt sich eine Interpretation schwerer mit dem Gefühl, dass der/die Befragte die eigene Deutung seiner/ihrer Aussagen später liest.

Insgesamt gilt deshalb: Die Weitergabe dieser Materialien sollte vermieden werden. Allenfalls bei Ton- oder Videoaufzeichnungen kann das in Ordnung sein. Bei der Aufzeichnung von Gruppen ist jedoch zwingend, dass alle Gruppenmitglieder mit der Weitergabe einverstanden sind (Datenschutz). Um dem Wunsch der Befragten entgegenzukommen, könnte man ihnen die fertige Arbeit als Kopie (sofern möglich) anbieten oder auf die Publikation verweisen. Das natürlich nur, wenn man das Versprechen auch hält.Wenn bereits im Vorfeld der Befragung ein Unwohlsein auf der Seite des/der Befragten spürbar wird, empfiehlt es sich, dies nicht zu übergehen, sondern offen anzusprechen und erneut auf die Freiwilligkeit der Teilnahme hinzuweisen. Hat der/die ProbandIn weiterhin Bedenken, ist es besser, auf die Befragung zu verzichten.

 


Literatur