Narrationsanalyse

Die Narrationsanalyse ist eine erzähltheoretisch fundiert Perspektive, die sich mit Lebensgeschichten und mehr oder weniger subjektiven Erzählungen (Narrationen) auseinandersetzt. Ganz allgemein werden Prozessstrukturen untersucht, die im Interview oder in anderen Materialien rekapituliert und in der Analyse rekonstruiert werden. So lässt sich Wissen generieren über Personen, Personengruppen und soziale Strukturen. Die Narrationsanalyse ist langfristig. Sie fokussiert nicht nur einzelne Gesprächssituationen oder Begegnungen, sondern die Narration besteht aus autohistorischen/autobiografischen, beziehungsgeschichtlichen und/oder kollektiv-historischen Abläufen. Typisches Erhebungsinstrument sind narrative Interviews.

Wichtig ist ebenfalls die doppelte Aspekthaftigkeit: Prozesse haben einen Außenaspekt, also den äußeren Ablauf von Ereignissen, und einen Innenaspekt, also den damit verbundenen Änderungen von Zuständen individueller und kollektiver Identitäten. Nicht alles wird sofort aus dem Gesagten „an der Oberfläche“ deutlich. Einiges wird nur angedeutet, ist also impliziert. Man analysiert daher die Struktur der Erzählung, der Argumentationen und der Beschreibungen.

Sinnvoll für …

Mit der Narrationsanalyse können gut theoretische Modelle zu spezifischen Arten von Lebensläufen untersucht werden, also Personengruppen anhand besonderer sozialer oder biografischer Bedingungen.

Beispiel
Gibt es in den Biografien von Karrierefrauen Gemeinsamkeiten?

Finden sich vergleichbare Ereignisse im Leben von Menschen, bei denen eine schwere Krankheit diagnostiziert wurde?

Auch grundlagentheoretische Fragen können bearbeitet werden, indem anhand von spezifischen Gruppen allgemeinere Aussagen formuliert werden.

Beispiel
Die Lebensgeschichten chronisch Kranker verdeutlichen grundlegende Strukturen des Verhältnisses von Alltagszeit und Lebenszeit.

Adoptivfamilien können Wissen über fundamentale Prozesse des Aufbaus familialer Wirklichkeit liefern.

Mögliches Material
  • Transkripte von narrativen Interviews
  • Zeitungsartikel (die allerdings anders gelesen werden als im Rahmen von Diskursanalysen etwa)
  • Analysen von Beratungsgesprächen
  • strategische Interaktionen vor Gericht oder bei Behörden etc.
Woran erkennt man Erzählungen?

Erzählungen sind temporal – also zeitlich – verknüpft, sie sind kein singuläres Ereignis, also kein einzelnes Geschehen. Die Erzählung im Rahmen der Narrationsanalyse hat also einen längeren zeitlichen Bogen und liefert Zusammenhänge.

Aufbau einer Erzählung

Das Transkript eines narrativen Interviews sollte für die Auswertung sortiert werden, damit die Erzählung einfacher analysiert werden kann. Eine typische Struktur sieht so aus:

  1. Abstract/Überblick/Zusammenfassung: Worum handelt es sich? Warum wird die Geschichte erzählt?
  2. Orientierung: Wer, wann, was, wo? (Das ist nicht immer ein geschlossener Abschnitt; Teile der Orientierung können schon im Abstract oder erst später stehen.)
  3. Handlungskomplikation: Was passierte dann?
  4. Evaluation: Was soll das Ganze? Was ist die Pointe? (Auch das ist meist kein geschlossener Teil, sondern setzt sich häufig aus verschiedenen Evaluationspassagen zusammen.)
  5. Resultat/Auflösung: Wie ging es aus?
  6. Coda: Überleitung zur Gegenwart. (Sie kommt nicht in allen Erzählungen vor. Manchmal wird erwähnt, wie die Erzählenden heute zu den Ereignissen stehen. Manchmal endet eine Erzählung einfach mit „Jetzt weiß ich nicht, was ich noch erzählen soll. Vielleicht stellen Sie erst mal ein paar Fragen?“)
Teile von Erzählungen

Beschreibungen

Beschreibungen sind Passagen, in denen allgemeine Sachverhalte, wiederkehrende Ereignisse oder typische Charakteristika von Personen, Milieus oder Situationen dargestellt werden. Anders als Passagen, die die Handlung vorantreiben („Handlungskomplikation“) sind Personen und Situationen in beschreibenden Passagen keine Handlungs- und EreignisträgerInnen, sondern TrägerInnen von Eigenschaften und sozialen Beziehungen.

Zeitform: Solche Elemente können im Präsens oder Präteritum formuliert sein. Grundsätzlich sind sie – wie Argumentation/Evaluation auch – nicht in die temporale und kausale Struktur der eigentlichen Erzählung eingebunden.

Beispiel
„Und meine Schwestern sind ganz anders geworden. Die sind so geworden, wie meine Eltern sich das vorgestellt haben. Die haben geheiratet, haben ’n Haus gebaut, haben Kinder und sitzen jetzt in ihrem Häuschen, in ihrem kleinen Nestchen, alle in der Umgebung, und leben halt ihr Leben und sind und werden mit Sicherheit Hausmütterchen […].“

Hier wird nicht die Geschichte der Schwestern erzählt, sondern sie dienen zur Charakterisierung eines Typus von Person oder Lebensentwurf. Diese Beschreibung geht in eine Evaluation über:

„Ich kann nicht beurteilen, ob’s wirklich das is’, was sie sich gewünscht haben und ob sie wirklich so glücklich sind, wie sie, wie sie das gewollt haben. Aber ich bin mit Sicherheit die Ausnahme in unserer Familie […]“.

Argumentation/Evaluation

Argumentative oder evaluierende Passagen untermauern die Sichtweise der Sprecherin oder des Sprechers. Wie Beschreibungen bringen sie die Handlung nicht voran, sondern fallen aus der temporalen und kausalen Struktur der Erzählung heraus. Sie lassen sich problemlos verschieben, ohne dass der Sinn der Erzählung sofort verändert wird. Der Sprecher oder die Sprecherin erläutert Hintergründe, stellt Behauptungen auf und reflektiert Zusammenhänge. Oft finden sich an solchen Stellen Verallgemeinerungen.

Beispiel
„unglaublich gastfreundlich“, „das war wirklich absurd, was da ablief“, „natürlich“, „ist ja ganz klar“, „für uns sehr ungewohnt“, „aus meiner Sicht“

Typische Ausdrucksformen: vermuten, behaupten, Stellung nehmen, erklären, rechtfertigen, einschätzen, vergleichen, deuten, beurteilen, bewerten, anklagen etc. Typisch sind eine direkte Ansprache des Gegenüber und Einschübe.

Beispiel
„Weeste, wie?“, „Verstehen Sie?“, „You know?“
„Man muss sich das mal klarmachen, was das heißt!“, „Wenn ich heute darüber nachdenke …“

Häufig folgt auf diese argumentativen und/oder evaluativen Passagen eine Überleitung zurück zu erzählenden Passagen.

Beispiel
„Na und dann hab ich …“, „Das nur, damit du verstehst. Wo war ich? Ah, also dann …“.

Zeitform: Diese Passagen stehen meist im Präsens. Anders als das Beschriebene, was in der Vergangenheit liegt, sind die argumentativen oder bewertenden Passagen auch in der Sprechergegenwart gültig.

Interpretationsschritte

1. Formale Textanalyse

Zunächst interessieren nur die narrativen Passagen, die keinen konkreten Bezug zu Personen, Situationen, Orten und Zeitangaben oder zur präsentierten Handlungskette haben. Man spricht auch von nicht indexikalen Passagen. Sie werden erst später relevant. Dazu gehören auch beschreibende, argumentative und evaluative Passagen.

Beispiel
„Und dann nahm ich diese Stelle im Atomkraftwerk an.“ [Einschub zur allgemeinen Auseinandersetzung um Atomkraftwerke in der BRD in den 1980er Jahren] „Ja, also ich fing da an, und dann …“.

Bewertungen und Beschreibungen (allgemeine Wissensbestände) können auch in das Narrativ eingebettet sein und müssen dann dort bleiben, weil der Sprecher damit Handlungen plausibilisiert.

Beispiel
„Das war ja damals so“, „Ich hatte keine Wahl“.

Anschließend folgt die Unterteilung in sogenannte Segmente.

Beispiel
Abstract, Kindheit, Studium, Argumentation zu Thema X, beruflicher Werdegang bis jetzt etc.

Für die Sequenzierung sind inhaltliche und formale Aspekte leitend. Häufige Markierungen, wann ein neues Segment beginnt, sind Formulierungen wie „Und dann …“, „Es war nun aber so, dass …“, ebenso Pausen oder Verlegenheitslaute („äh“), eine deutlich geänderte Intonation, eine plötzlich sehr viel detailliertere oder sehr viel allgemeinerere Darstellungen und Themenwechsel. Weitere Erzählpassagen, die erst im immanenten Nachfrageteil auftauchen, können neben die entsprechenden Passagen gesetzt werden, an die diese späteren Teile anschließen.

2. Strukturelle inhaltliche Beschreibung

Jetzt interessiert das Was und das Wie, also das Verhältnis von Inhalt und Form. Die Funktion der Segmente für die gesamte Erzählung wird bestimmt, Erzählketten und thematische Kreise identifiziert.

Beispiel
Für einen Lebenslauf werden institutionell festgelegte Lebensstationen, Höhepunkte, Ereignisverstrickungen, dramatische Wendepunkte, allmähliche Wandlungen etc. zusammengebracht.

3. Analytische Abstraktion

Die einzelnen Segmente werden anschließend zueinander in Beziehung gesetzt, um Prozessstrukturen zu rekonstruieren.

Beispiel
Um die Erzählung einer Biographie analysieren zu können, werden verschiedene Segmente systematisiert:

  1. Verlauf: Was erlebt der oder die HandlungsträgerIn? Was stößt ihm/ihr zu? Wie fühlt er/sie sich dabei?
  2. Biografische Handlungsschemata oder -pläne. Handlungsschemata gelten als maßgeblich für die persönlich-biographische Entwicklung: Welche Ziele hat oder hatte der/die HandlungsträgerIn? Wie plant oder plante er/sie, diese umzusetzen? Welche Entscheidungen wurden getroffen, welche Optionen gewählt?
  3. Institutionelle Ablaufmuster der Lebensgeschichte
  4. Überraschende Wandlungsprozesse

4. Wissensanalyse

Hier werden die Theorien oder Systematisierungen des/der Interviewten analysiert, die er/sie für das eigene Leben erstellt. Besonders interessant sind argumentative und evaluative Passagen und die darin zur Sprache kommenden Kausalitäten und Abhängigkeiten.

5. Kontrastive Vergleiche unterschiedlicher Interviewtexte

Nun geht es weg vom Einzelfall hin zum Vergleich verschiedener Interviews. Das Prinzip: minimaler und maximaler Vergleich. Ausschlaggebend ist das Erkenntnisinteresse, also die konkrete Fragestellung der wissenschaftlichen Arbeit.

Minimaler Vergleich: Man sucht in den Interviews nach möglichst ähnlichen Strukturen, nach Brüchen und Verläufen (ein Befund wird aus dem ersten Interview möglichst abstrakt formuliert und als struktureller Zusammenhang herausgearbeitet).

Maximaler Vergleich: Anhand der Kategorien oder Segmente, die gebildet wurden, werden Verläufe und Entwicklungen oder Ereignisse verglichen, die möglichst weit auseinandergehen. So zeigen sich alternative Strukturen und mögliche Handlungsoptionen.

Beispiel
Der Vergleich von Prozessstrukturen kann Einsichten in soziale Verhaltensmuster und Denkweisen liefern.

6. Konstruktion eines theoretischen Modells

Im letzten Schritt werden nun Erkenntnisse in der Form eines theoretischen Modells über Personen, Personengruppen oder zugrunde liegende Sturkturen gewonnen. Die Elemente der Analyse werden – theoriebildend gewissermaßen – zusammengesetzt. Allerdings ist immer Vorsicht geboten, weil der untersuchte Ausschnitt sicherlich plausible Vermutungen über allgemeine Zusammenhänge zulässt, aber kaum restlos stabiles Wissen.

 


Literatur
  • Przyborski, Aglaja & Monika Wohlrab-Sahr (2014): Qualitative Sozialforschung: ein Arbeitsbuch. 4., erweiterte Auflage. München: Oldenburg, S. 223–245.
  • Kleemann, Frank & Krähnke, Uwe & Matuschek, Ingo (2013): Interpretative Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Videovorlesung Patrick Heiser (2016): Datenauswertung mit der Narrationsanalyse.