Leitfadengestütztes Interview
Das leitfadengestützte Interview (auch halb- oder teilstandardisiertes Interview, offenes Leitfadeninterview) gehört eigentlich nicht zu den klassischen Erhebungsinstrumenten der Sozialforschung. Es wird dennoch häufig eingesetzt, da die narrativen Formen zu unstrukturiert oder zu sprunghaft erscheinen können, was die Auswertung möglicherweise erschwert.
Anders als in nichtstandardisierten Erhebungsformen können die Befragten bei halbstandardisierten Interviews meist nicht oder nur sehr bedingt selbst entscheiden, worüber sie sprechen möchten. Der Leitfaden gibt von Anfang an die Themen und ihre Reihenfolge vor. Die Interviewten können also keinen eigenen Relevanzrahmen setzen, keine eigene Erzähllogik entfalten. Wenn Interviewte abschweifen oder das Thema wechseln, ist es Aufgabe des Interviewers, der Interviewerin, sie vorsichtig zurück zum Thema zu führen.
Es gibt Schlüsselfragen, also solche, die auf jeden Fall gestellt werden sollten, um dem Thema gerecht zu werden. Oft folgen immanente Nachfragen, die das bereits Gesagte aufgreifen und die Schlüsselfragen ergänzen. Andere Themen, die für die Befragten möglicherweise spannend sind, aber nicht mit den Schlüsselfragen abgedeckt wurden, kommen im exmanenten Nachfrageteil gegen Ende des Interviews zur Sprache, weil es durchaus interessant sein kann, welche Themen als angrenzend und bedeutsam erachtet werden.
Vor- und Nachteile
Diese Befragungstechnik hat einige Vorteile, etwa gegenüber Fragebogen: Der oder die Befragte kann in eigenen Worten antworten und hat ausreichend Zeit und Raum dafür. Ein Nachteil besteht darin, dass durch die recht freie Form der Rede und des Gesprächsverlaufs anders als in Fragebogen der Vergleich verschiedener Interviews kompliziert werden kann und häufig etwas vage bleibt.
Sinnvoll für …
Leitfadengestützte Interviews kommen häufig als Experteninterviews zur Anwendung, was allerdings nicht heißt, dass nur WissenschaftlerInnen auf diese Weise befragt werden können. Ein leitfadengestütztes Vorgehen ist dann möglich und sinnvoll, wenn der eigene Erzählbogen oder Relevanzrahmen der Befragten nachrangig ist. Im Vergleich zu narrativen Interviews kann es mit diesem Vorgehen möglich sein, präziser und schneller zu den für die Forschungsfrage relevanten Punkten zu kommen.
Häufig werden mehrere leitfadengestützte Interviews geführt. Wie viele genau, hängt sehr von der Fragestellung und der Größe des Projekts ab. Für studentische Qualifizierungsarbeiten sind mehr als 10 Gespräche selten. Über Codes und Codebäume lassen sich alle Interviews miteinander vergleichen.
Der Frageweg: vom Allgemeinen zum Spezifischen
- Die erste Frage oder Erzählaufforderung sollte möglichst offen sein (narrativ), auch wenn das Thema recht eng ist, um keine zu knappen Antworten zu erhalten:
- „Zunächst würde mich interessieren, wie Sie dazu gekommen sind, als Anwalt zu arbeiten.“
- „Erzählen Sie doch bitte zunächst, wie Sie sich kennengelernt haben und ein Paar geworden sind.“
- „Beschreiben Sie doch bitte erst einmal, wie ein üblicher Arbeitstag bei Ihnen abläuft.“
- Die folgenden Fragen schließen daran an. Gut ist es, wenn die Fragen thematisch passen, damit der Leitfaden nicht zum Krampf und das Gespräch so natürlich wie möglich wird. Zu strikte Frageanordnungen hemmen das Gespräch ebenso wie zu sprunghafte. Neue Themenkomplexe können durchaus erneut mit einer offene Frage eingeleitet werden, z. B.: „Sie haben bereits angedeutet, dass … Erzählen Sie doch einmal genauer, wie es dazu kam.“
- Die Schlussfrage(n) beziehen sich auf eher allgemeine Deutungen, Einschätzungen, Ausblicken oder Stellungnahmen zum Thema
- Helfferich, Cornelia (2019): Leitfaden- und Experteninterviews. In: Baur, Nina & Blasius Jörg (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 669–686.
- Kleemann, Frank & Krähnke, Uwe & Matuschek, Ingo (2013): Interpretative Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften.