Ethnografisches Interview

Diese narrative Interviewform kommt aus der Enthografie, findet aber auch in anderen Bereichen Anwendung. Wichtigstes Merkmal ist, dass sich der Interviewer oder die Interviewerin von den Antworten der Befragten überraschen lassen kann, da die Erwartungshaltung so offen wie möglich ist. Ethnografische Interviews werden meist mit einer teilnehmenden Beobachtung kombiniert.

Beispiel
Sollen Hochzeitsrituale in einer indigenen Gemeinschaft im brasilianischen Regenwald untersucht werden, kann es passieren, dass eine direkte Befragung dazu nichts hergibt, weil die Menschen vielleicht gar keine Hochzeiten feiern, möglicherweise auch nicht monogam leben. Um etwas über das Zusammenleben der Gruppe zu erfahren, ist es also hilfreicher, ohne konkrete kulturelle, religiöse oder soziale Erwartungen in den Regenwald zu fahren, um dort so offen wie möglich die Menschen zu befragen.

Sinnvoll für …

Ethnografische Interviews werden allerdings nicht nur in weit entfernten Gebieten eingesetzt. Sie sind auch hilfreich, wenn der Alltag und die Lebenswelt von Menschen untersucht werden soll, die in den gleichen Breiten leben wie der oder die Forschende. Nur wer möglichst offen und ohne konkrete Erwartungen in eine Beobachtungs- oder Befragungssituation geht, kann Hierarchien, Strukturen oder unausgesprochene Regeln erkennen, die etwa in einer Familie, einem Freundeskreis, in einer Bürogemeinschaft oder einem Stadtbezirk wirken. Ebenso kann man mit dieser Interviewform Emotionen oder Erfahrungen untersuchen, die nicht expliziert werden. Viele Aspekte, die der Forscherin oder dem Forscher sonst nicht aufgefallen wären, finden so Eingang in die Interpretation und Theoriebildung. Ethnografische Interviews sind außerdem ein Instrument der Marktforschung.

Auch wenn keine Vorannahmen oder Thesen formuliert werden, hat das ethnografische Interview eine Struktur. Allerdings sind nicht die Fragen der Interviewerin oder des Interviewers leitend. Vielmehr geben die Antworten des oder der Befragten die Richtung vor. Im Zentrum steht, was den Befragten wichtig ist. Das Interview wird in der Alltagsumgebung der Befragten geführt, was dazu beiträgt, dass ihr Wissen und der Kontext, in dem dieses Wissen entsteht, miterhoben werden kann. Um die Inhalte des Gesagten auf den soziokulturellen Kontext und das Vorwissen der Befragten beziehen zu können, ist meist eine Kombination mit einer teilnehmenden Beobachtung sinnvoll. Da es häufig um unausgesprochene Verhaltensweisen, Regeln oder Abhängigkeiten geht, bieten sich außerdem Videomitschnitte an, die im Abgleich mit einem Beobachtungsprotokoll helfen, das Gesagte zu interpretieren.

 


Literatur
  • Knoblauch, Hubert & Vollmer, Theresa (2019): Ethnographie. In: Baur, Nina & Blasius Jörg (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 599–617.
  • Breidenstein, Georg et al. (2013): Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz: UVK.
  • Winterberger, Georg (2016): Eine ethnographische Forschung planen. In: Wintzer, Jeannine (Hrsg.): Herausforderungen in der Qualitativen Sozialforschung. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg; S. 51-60 (anschauliche Beispielstudie).