Dokumentarische Methode
Diese Forschungspraxis heißt eigentlich dokumentarische Methode der Interpretation. Sie ist also ein Verfahren zur Interpretation von sprachlichen, bildlichen oder gegenständlichen Kulturobjekten (oder Kulturobjektivationen, wie es wissenschaftlich oft heißt). Grundannahme ist, dass Menschen als Kollektiv oder Gruppe sogenannte konjunktive Erfahrungsräume teilen, also beispielsweise Erfahrungen, Sicht- oder Sprechweisen.
Der erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Ansatz der Methode fokussiert die Handlungspraxis und ihre Verankerung im Kollektiv. Kollektiv geteilte Erfahrungen und kollektiv geteiltes Wissen schlagen sich im subjektiven Handeln und Erleben nieder. Kulturobjekte werden ebenso als Ausdruck sozialen Sinns verstanden wie das in Handlungs- und Wahrnehmungspraxen eingelassene Wissen. Kulturobjekte sind nicht nur Gegenstände, sondern auch Sprache, Sitten oder politische Ideen.
Die Methode möchte – ganz allgemein – die implizite Regelhaftigkeit von Erfahrungen rekonstruieren, also untersuchen, ob für einen ähnlichen Sachverhalt in verschiedenen Interviews mit unterschiedlichen InterviewpartnerInnen Muster erkennbar werden.
Die dokumentarische Methode basiert auf der Trennung von immanentem bzw. kommunikativ generalisiertem und konjunktivem bzw. dokumentarischem Sinngehalt, sie trennt also explizite, konkrete (sprachliche) Handlungen einerseits und gewissermaßen implizite Bedeutungsspuren andererseits. Die Methode versucht also, das Gesagte oder Getane mit dem (womöglich) Gemeinten oder zum Ausdruck Kommenden zu verknüpfen.
Sinnvoll für …
- Kindheits- und Jugendforschung
- Kultur- und Migrationsforschung
- Medien-, Rezeptions- und Technikforschung
- Evaluationsforschung
Mögliches Material
Transkripte von Gruppendiskussionen, ergänzt um Einzelinterviews
Zentrales Erhebungsinstrument sind Gruppendiskussionen, anhand derer die Methode entwickelt wurde.
Eine Methodentriangulation, also die Verschränkung verschiedener Methoden, liefert eine Stabilisierung des rekonstruierten Sinns. Trianguliert werden meist teilnehmende Beobachtungen, auf den individuellen Habitus zielende narrative Interviews, häufig mit Fokus auf die Biografie der Befragten, und Gruppendiskussionen, mit deren Hilfe ein gemeinschaftlicher Habitus rekonstruiert werden kann.
Wird eine Gruppe mit dem Ziel interviewt, ihre Handlungspraxen zu analysieren, und die Mitglieder der Gruppe kennen sich, bringt dies mitunter nicht viel. Innerhalb der Gruppe sind die jeweiligen Praxen bekannt und werden nicht oder kaum besprochen, schließlich teilen die Gruppenmitglieder dieses Wissen und setzen es voraus, es kann unausgesprochen bleiben. Werden allerdings über die Gruppendiskussionen hinaus Einzelinterviews geführt, kommen meist konkrete Praxen zur Sprache, die in der größeren Runde nicht thematisiert wurden. Allerdings werden im Einzelgespräch oft keine Dinge preisgegeben, die als beschämend oder peinlich empfunden werden.
Beispiel
Während es in einer Gruppendiskussion über Eltern typisch wäre, dass Kritik an den Eltern kollektiviert, also verallgemeinert wird, kann es im Einzelinterview durchaus sein, dass die Interviewten ihre Kindheitsgeschichte ganz weglassen. Teilnehmende Beobachtungen wiederum können einen Einblick gewähren in ein konkretes Tun, das nicht versprachlicht wird oder nicht versprachlicht werden kann, wie körperlich-performative Ausdrucksformen, die praktische Auslegung von in Interviews zuvor angesprochenen Regeln, Glaubenssätzen usw. Die Arbeit mit unterschiedlichen Erhebungsverfahren führt in der Gesamtschau zu einem vergleichsweise präzisen Bild, die erhobenen Kategorien sozialer Wirklichkeit ergänzen oder kompensieren einander.
- Man sucht nach Homologien, also nach Übereinstimmungen: Werden in verschiedenen Gesprächen trotz unterschiedlicher Beispiele die gleichen Bilder/Einstellungen/Sichtweisen ausgedrückt oder werden die gleichen Mechanismen wirksam?
- Man analysiert die Performanz, das heißt wie etwas gesagt oder formuliert wird, in welcher Lautstärke und Geschwindigkeit, ob im Dialekt oder nicht, ob die Parameter gleich bleiben oder sich verändern. Je größer die Gemeinsamkeiten in einer Gruppe oder bei einem Paar sind, desto mehr Bedeutung wird diesen Markierungen beigemessen.
- Mimik und Gestik werden analysiert.
- Grundsätzlich ist die Analyse sequenziell: Aussage 1 etwa ist vielleicht auf den ersten Blick eine Behauptung, aber da die Reaktion (Aussage 2) eines anderen Sprechers oder einer anderen Sprecherin auf Aussage 1 eine Antwort ist, kann man erst jetzt sehen, dass Aussage 1 tatsächlich eine Frage war. Es handelt sich also um eine Art komparativer (vergleichender) Sequenzanalyse.
Um die Regelhaftigkeit von Erfahrungen rekonstruieren zu können, sucht die dokumentarische Methode nach der Abfolge bestimmter Handlungs- oder Erzählsequenzen. Sie ist also eine komparative (vergleichende) Sequenzanalyse.
Gerade bei Experteninterviews ist oft interessant, ob die ExpertInnen ähnliche Schwerpunkte setzen oder Probleme ähnlich bearbeiten. Mit der Sequenzanalyse lässt sich also prüfen, ob das, was sich im Interview A als Ergebnis abzeichnet, auch bei B und C bedeutsam ist. Ähnlich lassen sich bei fokussierten oder episodischen Interviews Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Gemeinsame Themen zu finden, ist bei allgemein biografischen Interview etwas komplizierter. Hier müssen zunächst mögliche Themen herausgearbeitet werden, damit erkennbar wird, ob sie auch fallübergreifend relevant sind.
Ereignissequenzen schließlich sind Abfolgen von Episoden (etwa Berufsverläufe, Familienzyklen, Migrationsabläufe), die verglichen werden können.
Die Sequenzanalyse dient auch der Typenbildung oder der Bildung von mehrdimensionalen Typologien (siehe Deduktion/Induktion). Eine sinngenetische Typenbildung bedeutet etwa: In welchen unterschiedlichen Rahmen bearbeiten die Befragten Probleme oder Themen? Die sozialen Zusammenhänge und wie diese jeweiligen Rahmen entstehen, lassen sich allerdings erst über eine soziogenetische Typenbildung herausfinden.
- Nohl, Arnd-Michael (2009): Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Bohnsack, Ralf & Nentwig-Gesemann, Iris & Nohl, Arnd-Michael (Hrsg.) (2007): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften.