„Die Gefahr einer einzigen Geschichte“ oder „The danger of a single story“ – der so betitelte Vortrag der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie ist mit fast 9,5 Millionen Aufrufen auf youtube (Stand November 2021) eines der am meisten gesehenen Videos einer TEDx-Konferenz.
Von welcher Geschichte erzählt die Autorin? Adichie schrieb schon als Kind Geschichten. Geschichten, in denen zunächst ausschließlich weiße Menschen des globalen Nordens vorkamen und das, obwohl sie selbst nie außerhalb Nigerias gewesen war. Denn die Protagonist*innen ihrer Geschichten ähnelten den Figuren, die sie selbst aus ihren Kinder- und Jugendbüchern kannte.
Als Adichie zum ersten Mal ein Buch des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe liest, macht sie eine bestärkende, augenöffnende Entdeckung: Figuren, die ihr Leben widerspiegeln, die ihr ähnlich sind und sie repräsentieren. Adichie weist anhand weiterer Beispiele daraufhin, wie iel Macht Geschichten haben und welche Gefahr damit einhergeht, wenn nur eine Perspektive beziehungsweise eine Erzählung über eine Region oder Gruppe an Menschen gelesen oder gehört wird: die – der Realität innewohnende – Komplexität wird zugunsten von Stereotypen und Vorurteilen aberkannt.
Wie können wir dieser „einzigen Geschichte“ entkommen und unseren Blick weiten? Wir brauchen neue Geschichten und diverse Erzählungen. Und aus diesem Grund sollten Gruppen, die weniger gesellschaftliche Macht haben, zum Beispiel Migrant*innen, Schwarze Menschen oder Personen mit Behinderung, die Möglichkeit bekommen, ihre Geschichten zu teilen. Und wo, wenn nicht im Kindergarten oder in der Schule wäre ein geeigneter Ort, an dem wir lernen, zuzuhören und zu erzählen, diese verschiedenen Geschichten zu lesen und zu schreiben?
Seit der Tötung George Floyds im Mai 2020 und den sich anschließenden Protesten zum Thema „Black Lives Matter“ bekomme das Thema Rassismus und Anti-Diskriminierung in der Bildung endlich auch in Deutschland mehr Aufmerksamkeit, so die Literaturwissenschaftlerin Élodie Malanda und die Pädagogin und Kulturmittlerin Sarah Berg. In ihrem Vortrag „Wie es beginnt- Racial Diversity im Kinder- und Jugendbuch“, der am 21. Oktober im Haus des Buches in Leipzig stattfand, stellten sie Bücher vor, die eine positive, selbstermächtigenden Wirkung erzielen können. Sie schlugen Literatur vor, die dazu beitragen soll, dass alle Kinder sich in Figuren mit selbstbewusst handelnden und fordernden Akteur*innen wiedererkennen.
Wie wählt man nun als Pädagog*in Bücher aus? Hier liefert die „Fachstelle Kinderwelten für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung“ Prüffragen, um Kinderbücher besser einschätzen zu können. Die Fragen können anregen den aktuellen Kanon zu überdenken und bewusste Neuanschaffungen zu tätigen:
- Welche Kinder finden sich mit ihrer Familienkultur – ihren Sprachen, Festen, Alltagsabläufen, Wohnformen, Interessen, Äußerlichkeiten wieder? Welche nicht?
- Welche Personen haben (k)eine aktive Rolle?
- Wer wird als „normal“ dargestellt? Wer muss seinen Wert beweisen?
- Liegen der Charakterisierung einzelner Menschen Vorurteile über bestimmte Gruppen zugrunde?
- Auf wessen Kosten funktionieren die Witze oder die „Moral von der Geschichte“?
Lit4School versucht die Suche nach den neuen, diversen Geschichten zu vereinfachen. Wie unser Blogbeitrag aus dem Juli 2021 dargelegt, ist es Lit4School ein Anliegen Gegenstände für den Literaturunterricht vorzuschlagen, die bisher keine oder nur wenig Berücksichtigung gefunden haben. Das zeigt sich unter anderem in unserem Auswahlkriterium „Diversität“.
Denn Bücher haben eine große Bedeutung: Kinder machen sich durch das Betrachten und Lesen ein Bild von sich, von anderen Menschen und der Welt. Wie erstrebenswert scheint es da, wenn die uns umgebende reale Vielfalt auch in Kinder- und Jugendbüchern sichtbar(er) wird.
— Anne Seeger