Objektive Hermeneutik

Hermeneutik heißt so viel wie Erklären‚ Auslegen oder Übersetzen. Gedeutet werden Aussagen, Zeichen und Symbole. Es geht um subjektives und intersubjektives Sinnverstehen, also um die Deutung von Zeichen über die individuelle Ebene hinaus. Auf die eine oder andere Weise ist jede Methode hermeneutisch, weil Aussagen, Zahlen etc., selbst wenn sie errechnet wurden, gedeutet und interpretiert werden müssen.

Die objektive Hermeneutik versucht, Material (was im Prinzip alles sein kann) sinnverstehend zu deuten, ohne dabei ins rein Subjektive zu verfallen. Es geht also weniger um die Frage, was etwa der oder die InterviewpartnerIn „eigentlich“ sagen wollte, relevant ist weniger die innere Welt des Sprechens. Stattdessen sollen die objektiven Sinngehalte, die zum Ausdruck kommen, gedeutet werden. Letztlich geht es also um eine objektive Interpretation von Daten, auch wenn sich die Subjektivität der Forschenden nie restlos tilgen lassen wird.

Sinnvoll für …

unter anderem für Forschungen, die Sinn- und Handlungszusammenhänge von Menschen rekonstruieren wollen. Für studentische Belange eher unüblich.

Mögliches Material

Bevorzugt werden Protokolle natürlicher Interaktionen untersucht, also nichtstandardisiertes, teils wörtliches Material. Oder Protokolle von Handlungen (nicht von Befragungen), weil die Methode auf die Rekonstruktion objektiver Strukturen abstellt. Rekonstruiert werden soll das, was sich während einer Interaktion an objektiver Bedeutung dokumentiert. Ein Interviewtranskript ist zum Beispiel das Protokoll einer Interaktion zwischen InterviewerIn und Interviewten.

Es kann also alles untersucht werden, was als selbstläufige Darstellung entsteht: biografische Erzählungen, Interaktionen in Familien oder Gruppen, Protokolle formeller Interaktionen (wie Parlamentsprotokolle), Interaktionen zwischen ÄrztInnen und PatientInnen, Tatortprotokolle von KriminalistInnen, Fernsehansprachen, Filmplakate, Werbespots, literarische Texte, Dokumente, Kunstwerke etc.

Nicht geeignet sind dagegen strenge leitfadengestützte Interviews, da die Interaktionen zu stark gesteuert und daher kaum interpretierbar sind.

Grundprinzipien

Das Verfahren der objektiven Hermeneutik ist einigermaßen kompliziert. Zur Stabilisierung der Interpretation werden jedoch einige recht klare Arbeitsschritte vorgeschlagen, die Vergleichbarkeit ermöglichen sollen.

Analyseebenen
Die Deutung findet auf unterschiedlichen Analyseebenen statt.
  1. Latente Sinnstruktur/objektive Bedeutungsstruktur eines Textes im Sinne der Realität möglicher Lesarten. Was wird oberflächlich gesagt? In welche Richtungen könnte man das Gesagte deuten, auch ohne den Kontext der Situation zu kennen?
  2. Bedeutungen, die SprecherInnen subjektiv intentional realisieren. Was möchte der oder die SprecherIn eigentlich sagen?
  3. Die Fallstruktur wird aus dem Verhältnis von Ebene (1) und Ebene (2) rekonstruiert. Die Fallstruktur wird zum einen darin erkennbar, dass das, was als objektiver Sinn in einer Äußerung zum Ausdruck kommt, sich an mehreren Stellen wiederholt. Zum anderen wird sie erkennbar im Verhältnis, in dem der subjektiv gemeinte Sinn zum objektiven Sinn steht. Kurz: Es ist nicht nur interessant, was gesagt wird, sondern auch wie es gesagt wird und was noch gesagt oder formuliert hätte werden können.

    Beispiel
    Eine Äußerung ist als Lob gemeint und als Lob formuliert, aber die Art, in der es hervorgebracht wird, impliziert faktisch eine Diskreditierung der angesprochenen Person, was im Text nachweisbar ist. Folge ist eine spannende Diskrepanz zwischen Ebene 1 (das Lob) und Ebene (2) die Diskreditierung, deren Bedeutung und Funktion zu interpretieren wäre (Ebene 3).

  4. Rekonstruktion der Genese der Fallstruktur. Wie konnte im vorliegenden Fall die Struktur, die in Ebene (3) analysiert wurde, überhaupt entstehen?

    Beispiel
    Wie war der soziale oder institutionelle Kontext, dass unter dem Deckmantel des Lobes eine Diskreditierung geäußert werden konnte?

Interpretationsregeln

Selektivität erschließen
Man wählt Aspekte aus, die nicht alternativlos sind, aber für die man sich in einer konkreten Situation (oft unbewusst) entscheidet. Dinge, die normal erscheinen, werden hinterfragt und kritisch betrachtet. Vorsicht: Keine Wertung! Ungeübte haben oft einen Schutzreflex gegenüber der vertrauten Aktion. Doch nur so kann soziale Regelhaftigkeit erschlossen werden.

Beispiel
In unseren Breiten ist es normal, einander beim ersten Treffen die Hand zugeben. Für andere ist das keineswegs üblich.

Sequenzielle Interpretation
Texte gelten als sequenziell, sie werden also Sinneinheit für Sinneinheit interpretiert, weil soziales Handeln sequenziell ist (Grund-Folge-Beziehung). Man schaut, welche Optionen sich in einer Situation für HandlungsträgerInnen wirklich ergeben und welche sie davon auswählen (Selektivität).

Gedankenexperimentelle Explikation
Diese Regel bezieht sich auf die Konstruktion von Lesarten. Wie könnte eine Interaktionssequenz motiviert sein? Die Frage nach der Motivation soll helfen, nicht vorschnell zu entscheiden, warum jemand etwas macht, sondern sich zunächst zu überlegen, welche Motive überhaupt möglich sind. Dadurch wird das Spezifische einer Sequenz deutlich. Am Anfang werden so viele Lesarten wie möglich eruiert, bis man auf einige wenige realistische kommt, weil man nach und nach einzelne Situationen ausgeschlossen hat. Damit wird die Struktur des Falls sichtbar. Oder man fragt, in welchen unterschiedlichen Kontexten eine Äußerung oder Handlung sinnvoll wäre. Es werden also Kontextvariationen für die gleiche Interaktionssequenz erdacht.

Beispiel
Die Situation ermöglicht aufgrund institutioneller Restriktionen nicht, dass wirklich jemand kritisiert wird. Stattdessen formuliert der Sprecher oder die Sprecherin ein Lob. Oder ist es eine ambivalente Beziehung, in der Sarkasmus die einzig passende Ausdrucksform ist?

Sparsamkeitsregel
Es sind nur Kontexte relevant, die ohne aufwendige Zusatzannahmen mit dem Text kompatibel sind.

Wörtlichkeit
Jede Interpretation ist am Text selbst nachzuweisen. Erst dann kommen Theorien ins Spiel.

Totalität
Ein ausgewählter Textabschnitt wird komplett interpretiert und jedes Element – egal wie „unpassend“ – auf seinen Sinn hin analysiert. Schließlich geht es nicht um das Ein- und Aussortieren passender Elemente nach vorher festgelegten Kriterien, sondern um die innere Gesetzmäßigkeit des Falls.

Äußerer versus innerer Kontext einer Handlung
Fallspezifisches Wissen (also ein äußerer Kontext) wird zunächst ausgeblendet. Es werden kontextfreie einzelne Sequenzen interpretiert, um nicht vorschnell eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Die herausgearbeitete Struktur wird als innerer Kontext erschlossen, ehe der äußere Kontext einer Sequenz (also die tatsächliche Situation) herangezogen wird. Dazu kommt Welt- und Regelwissen des oder der Interpretierenden.

Interpretation zusammen mit anderen
Besser ist es, wenn mehrere Leute interpretieren, damit man möglichst viele Perspektiven erschließen kann und einzelne Interpretationen ausgelassen werden können. Welche Interpretation als nicht objektiv gilt und damit ausgeschlossen wird, entscheidet die ganze Gruppe nach einer Diskussion zu jeder Sequenz. Sinnvoll ist dieses Vorgehen für Abschlussarbeiten: Wenn man sich zu einer Gruppe zusammenschließt, können aus der Interpretation anderer Fälle Aspekte des eigenen Falls erkennbar werden. Das ist ein großer Vorteil, wenn es um die Validität der eigenen Forschung geht.

Nachweis und Falsifikation von Strukturhypothesen
Jede Fallinterpretation bringt eine andere Strukturhypothese hervor, für die man Mechanismen an mehreren Stellen im Fall nachweisen sollte (maximal vier, die jeweils nicht länger als zwei Seiten sein sollten). Gemeint ist die Reproduktionsgsetzlichkeit eines Falles (Analyse der inneren Logik, mit der sich ein Zusammenhang herausbildet und reproduziert; von hier aus könnte auch eine Transformation der Struktur ihren Ausgang nehmen). Danach wird geprüft, ob diese Fallstruktur nicht auch falsifiziert werden kann (dann wird sie verworfen).

Die sequenzielle Interpretation wird nicht am gesamten Transkript vorgenommen, aber das Material dient zur Überprüfung der Fallstruktur.

Strukturgeneralisierung
Schließlich ergibt sich eine Basis für die Verallgemeinerbarkeit: Die Fallstrukturen sind einerseits besonders (konkrete Lebenspraxis, Resultat eines individuellen Bildungsprozesses, Entscheidungsautonomie der Handelnden), andererseits allgemein (orientiert an bedeutungsgenerierenden, also gesellschaftlichen Regeln; exemplarische Realisierung/Referenzfall eines Milieus etwa). Der Fall ist eine Antwort auf eine allgemeine Problemstellung – mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Jeder Fall bringt etwas Neues hervor (Emergenz), nimmt aber Bezug auf Vorhandenes (Determination).

Schritte der Interpretation

Vor der Interpretation muss immer eine Forschungsfrage stehen, man interpretiert nicht ins Blaue.

  1. Interpretation der äußeren biographischen/objektiven Daten
    Zuerst werden die objektiven Daten beachtet, nicht die subjektive Darstellung: soziale Herkunft (Beruf und Einkommensverhältnisse der Eltern), Eltern, Geschwister, Wohnorte, Wohnortswechsel, Bildungs- und Berufsbiografie, Einkommen, soziales und politisches Engagement (nicht nur Einstellungen), Partnerschaften, Kinder, Trennungen, gravierende Krankheiten, Unfälle etc. Die Daten werden aus dem Interview zusammengetragen oder im Anschluss an das Interview erhoben. Daraus wird die erste Hypothese abgeleitet.
  2. Segmentierung des Interviewtranskripts oder Interaktionsprotokolls
    Dieser Schritt ist eher eine Art Hilfsmittel oder Vorstufe für die Feininterpretation (wie bei der Narrationsanalyse). Es handelt sich um ein Verzeichnis der Themenabfolge mit kurzer Inhaltsangabe, eine knappe Übersicht also.
  3. Feinanalyse des Interviewbeginns
    Die Feinanalyse beginnt immer am Anfang des Interviews. Oft stellen die Personen sich verdichtet vor und geben eine Art Motto preis, das zum Thema passt. Außerdem stellt der Anfang die Weichen für alles Folgende.Die Schritte sind nicht immer trennscharf und ihre Abfolge kann variieren:
    • Charakterisierung der Sequenz (Wie ist die Situation davor? Welche Zwänge, Verpflichtungen, Einschränkungen, Möglichkeiten ergeben sich?)
    • Kurze Inhaltsangabe dessen, was gesagt oder getan wurde
    • Selektivität feststellen (Welche der Möglichkeiten, die sich ergeben haben, wurde tatsächlich umgesetzt?)
    • Genaue sprachliche Analyse der Sequenz (Wortwahl, Pausen etc.)
    • Was ist die (offensichtliche) Intention des Sprechers?
    • Was sind die sinnvollen Motive in der Sequenz?
    • Lesartenbildung (Welche sozialen Bedingungen müssen gelten, damit die Äußerung/Handlung sinnvoll erscheint?)
    • Vergleich allgemeiner Bedingungen der Lesarten mit konkretem Kontext (Kontextwissen und Weltwissen)
    • Vergleich der Sequenz mit bereits interpretierten Sequenzen (Rekonstruktion der Sinnstuktur) und Ausschluss von Möglichkeiten, die nicht mehr logisch sind
    • Fallstrukturhypothese formulieren
    • Formulierung allgemeiner theoretischer Zusammenhänge (Anschluss an vorhandene Theorien)
  4. Feinanalyse weiterer Interviewsequenzen
    Maximal drei weitere Segmente von etwa zwei Seiten werden analysiert, ohne das Wissen aus der ersten Feinanalyse einzubeziehen. Dies braucht Übung und Selbstdisziplin. Die Arbeit in der Gruppe kann helfen, wirklich unvoreingenommen an weitere Segmente zu gehen, also ohne das Wissen aus der vorherigen Analyse einfließen zu lassen. Die insgesamt maximal vier Einzelanalysen werden am Ende zu einer Fallstrukturhypothese verdichtet, die also auf vier verschiedenen, unabhängigen Textpassagen basiert.
  5. Überprüfung der Fallstruktur auf Modifikation und Falsifikation
    Der restliche Text wird nicht interpretiert, sondern auf mögliche Diskrepanzen hin abgesucht. Findet man welche, wird die Fallstrukturhypothese modifiziert oder sogar falsifiziert und damit verworfen.
  6. Interpretation weiterer Fälle
    Für eine Typen- oder Modellbildung sollten nach der Analyse andere Fälle erhoben werden (dann schon mit Blick auf die erste Fallstrukturanalyse). Das Vorgehen ähnelt dem Theoretical Sampling. Die Auswertung sollte von Fall zu Fall weniger zeitintensiv sein.

 


Literatur
  • Andreas Wernet (2000): Einführung in die Interpretationstechnik der objektiven Hermeneutik, Opladen.
  • Ulrich, Oevermann (2000): Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis, in: Kraimer, K. (Hg.): Die Fallrekonstruktion, Frankfurt/M.: 58–153.
  • Przyborski, Aglaja & Monika Wohlrab-Sahr (2014): Qualitative Sozialforschung: ein Arbeitsbuch. 4., erweiterte Auflage. München: Oldenburg, S. 246–270.