Was ist ein Diskurs?
Diskurs in der Alltagssprache
Der Begriff Diskurs stammt vom lateinischen discursus, was etwa so viel wie „umherlaufen“ bedeutet. Um die Feinheiten der Diskursanalyse erklären zu können, muss der wissenschaftliche Diskursbegriff zunächst deutlich vom mittlerweile alltäglichen und umgangsprachlichen „Diskurs“ getrennt werden: Seit einigen Jahren ist es in den Medien, in der Politik und teils in der Wissenschaft üblich, von Diskurs zu sprechen, wenn Debatte, Diskussion oder – noch allgemeiner – Thematisierung gemeint ist. Formulierungen wie „der aktuelle Diskurs zum Abgasskandal“ oder „der Diskurs zur Ablösesumme von Neymar ist aufgeheizt“ sind alltagssprachlich und haben meist keine theoretische Tiefe.
Erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt
Die Rede vom Diskurs ist eng verwoben mit theoretischen Perspektiven, die dem Poststrukturalismus zugeordnet werden. Ihr Ausgangspunkt sind vor allem die Arbeiten von Ferdinand de Saussure und Michel Foucault. Während Sprache zuvor meist als (defizitäres) Abbild der Wirklichkeit interpretiert wurde, kehrt sich die Perspektive um: Die Sprache – verstanden in einem sehr weiten Sinn, also als alles, was sich als Zeichen deuten lässt – bildet ein Netz aus historisch wandelbaren Deutungsmustern, die es überhaupt erst ermöglichen, Wirklichkeit wahrzunehmen. Nicht die vermeintlich einfach so vorhandene äußere Realität liefert die Bedeutung der Zeichen oder Wörter. Vielmehr produziert ein instabiles Netz aus Begriffen (Signifikanten) das, was sie als ihre Bedeutung (das Signifikat) erhalten. Daraus folgt, dass sich das Wissen des Menschen über sich und die Welt nicht einfach so aus objektiven Tatsachen speist. Vielmehr liefern geschichtlich wandelbare Wissenssysteme oder Vorstellungswelten, also bestimmte Diskurse, einen prinzipiell wandelbaren Deutungszusammenhang.
Der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt von Diskursanalysen ist also oft recht nah bei konstruktivistischen Perspektiven. Sie wollen zeigen, dass auch Dinge, die man für natürlich oder essentiell hält, von Menschen gemacht sind. Diese Dinge sind also historisch wandelbar.
Beispiel
Die Geschlechtlichkeit von Männern und Frauen, ihre Eigenschaften und Vorstellungen zu ihren Körpern, wurde lange Zeit als selbstverständlich und als natürliche Gegebenheit verstanden. Mittlerweile wird in den meisten wissenschaftlichen Kreisen jedoch davon ausgegangen, dass Geschlechtlichkeit ein Produkt von Diskursen ist.
Das heißt allerdings nicht, dass eine solche Perspektive, die oft mit dem Begriff Diskurs arbeitet, einfach alles dem Bereich kultureller Produktion zurechnet und alles Natürliche ablehnt. Entscheidend ist, dass die Grenze zwischen Kultur und Natur immer instabil ist. Wir können also nie restlos und völlig sicher sagen, dies oder das sei „von Natur aus“ so (und deshalb richtig oder falsch).
Wenn also alles erkenntnistheoretisch konstruiert ist, dann ist gewissermaßen auch alles Diskurs. (Das heißt nicht, dass alles Sprache ist. Diese Überlegung würde vom verkürzten, umgangssprachlichen Diskursbegriff ausgehen.) Diskurs lässt sich auch als die Möglichkeit des Sagbaren verstehen. Er bildet jenen Rahmen, der konkrete Aussagen erst ermöglicht, weil er sie sinnvoll werden lässt, also verständlich und von anderen verstanden. Aussagen einer einzelnen Person sind also noch kein Diskurs. Vielmehr bedienen sich einzelne Personen bestimmter Diskurse, um sich verständlich zu machen und zu kommunizieren.
Ein Diskurs ist also eine „Beobachtung zweiter Ordnung“ (Niklas Luhmann): Man beobachtet die Beobachtenden und analysiert, wie (mit welchen sprachlichen Mitteln) sie ihre Beobachtungen oder Beschreibungen anstellen. Dabei ist es meist egal, wer spricht: Die Möglichkeiten des Sagbaren bestimmen die Aussage, nicht die Intelligenz oder Bedeutung des sprechenden Subjekts. Ein Diskurs liefert also den Rahmen für die erhebliche Neujustierung eines sozial- oder geisteswissenschaftlichen Blicks. Die Diskursanalyse wiederum arbeitet mit räumlich oder zeitlich abgrenzbaren Diskursen, die sich verändern, widersprechen oder bekämpfen. Diskurs meint dann eine konkrete und unterschiedlich abgrenzbare Formation des Wissens, mit der bestimmte Deutungen einhergehen.
Beispiel
„Der Diskurs des Neoliberalismus ist seit einigen Jahren allgegenwärtig“ bedeutet, dass bestimmte sprachliche Setzungen und Deutungen eine bestimmte Art der Wirklichkeitsbeschreibung erzeugen. Wenn fast überall von „investieren“ die Rede ist, ein aus der Wirtschaft stammender Begriff, dann zeigt sich, dass ein spezifisches ökonomisches Denken das Soziale überformt oder auf eine bestimmte Art produziert. Der Begriff Investition beinhaltet eine Vorstellung von Rendite und Gewinn. Wenn es möglich ist, davon zu reden, man müsse „in eine Beziehung investieren“, dann hat ein bestimmter ökonomischer Diskurs die Deutungshoheit erlangt.
Auch wenn der eine oder die andere sagen würde, dass es sich nur um ein unwichtiges Wort handelt, sind für Diskursanalysen genau solchen Verschiebungen oder Veränderungen wichtig. Sie sind aussagekräftig, weil die Signifikanten, die verketteten Zeichen, das Signifikat (die Bedeutung) erst erschaffen und weil sich damit die Vorstellung zum Beispiel von Beziehungen zwischen zwei Menschen verändert.
Wer diskursanalytisch arbeiten will, wird den Diskursbegriff unterschiedlich skalieren. Je nach Forschungsfrage können Diskurse eher klein sein (etwa „Geschlechtervorstellungen in der jüngeren polnischen Literatur“) oder eher groß („Der Begriff Nation im historischen Wandel“). Von dieser Skalierung ist auch abhängig, wie viel Material bearbeitet werden muss.
Von einem Diskurs, der sich analysieren lässt, kann man dann reden, wenn bestimmte Formulierungen oder Zeichen immer wieder auftauchen und erkennbar wird, dass mit ihnen auf eine bestimmte Weise eine verschobene Bedeutung generiert wird.
Beispiel
Wenn in nur einer auffindbaren Quelle in einem Zeitraum von fünf Jahren und nur in einem bestimmten Raum irgendjemand mal von „investieren“ in Bezug auf eine intime Beziehung gesprochen hat, lässt sich daraus kein Diskurs ableiten.
Für eine Diskursanalyse ist eine gewisse Sättigung nötig. Es müssen also mehrere diskursiv verknüpfte Aussagen häufig genug auftauchen, sodass sich eine Bedeutungsverschiebung erkennen lässt. Wann eine Sättigung erreicht ist, wann es also als plausibel gelten kann, dass eine bestimmte Aussageformation neue Möglichkeiten des Sagbaren eröffnet hat, ist nicht so einfach festzulegen.
Da Diskursanalysen (nicht zuletzt aus erkenntnistheoretischen Befunden heraus) meist keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder restlose Objektivität erheben, sondern eher explorativ und vorsichtig tastend agieren, ist die textinterne Plausibilität relevanter. Das heißt jedoch nicht, dass sich Diskursanalysen nicht am Material orientieren. Das Material muss die Argumentation schon stützen.
- Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 1991
- Michel Foucault: Archäologie des Wissens [1969], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981