Probleme der Empirie

Es gibt zwei grundlegende Probleme, die sich in der empirischen Sozialforschung ergeben: Kann Realität theoretisch erfasst und sprachlich vermittelt werden? Diese Überlegungen sind keine Pflichtlektüre für die empirische Forschung, sondern eher für Studierende gedacht, die sich tiefergehend mit diesem Thema auseinandersetzen möchten.

1 Basissatzproblem

Das Basissatzproblem beschäftigt sich mit der Unmöglichkeit der direkten und unmittelbaren Realitätsbeobachtung. Empirische Beobachtungen werden in sogenannten Basissätzen (auch: Beobachtungsaussagen) formuliert. Das Basissatzproblem beschreibt die Annahme, dass die Realität durch Beobachtende nur verzerrt wiedergegeben werden kann. Beobachtungen (also z.B. eine empirische Erhebung) und ihre Beschreibungen können die Realität nicht korrekt abbilden, weil sie immer theorieabhängig sind, also von bestimmten theoretischen Vorannahmen geleitet werden. Basissätze sind damit nicht verifizierbar. Stattdessen können sie durch die Scientific Community lediglich kritisch betrachtet und als vorläufig gültig anerkannt werden.

2 Korrespondenzproblem

Das Korrespondenzproblem beschreibt die Schwierigkeit, eine Theorie und ihre Begriffe und Konstrukte beobachtbaren Indikatoren zuzuordnen. Um erkenntnistheoretisch verwertbare Ergebnisse produzieren zu können, müssen die gemessenen Variablen oder Indikatoren auch inhaltlich den abstrakten Begriffen und Konstrukten (z.B. Intelligenz) entsprechen, die sie messen sollen. Zur Lösung des Korrespondenzproblems werden Korrespondenzregeln aufgestellt, die vorschreiben, wie theoretische Konstrukte empirisch erfasst werden können. Konstrukte korrespondieren meist mit mehr als einem Indikator.

Weitere Probleme
Probleme selektiver Wahrnehmung

Pseudoregelmäßigkeiten
Experimente zeigen, dass Menschen eine starke Neigung dazu haben, Muster und Regelmäßigkeiten zu erkennen (etwa in Tintenklecksen, Sternenhaufen oder Wolkenbildern). Im Forschungsprozess kann dies zu falschen Annahmen und Fehlinterpretationen führen, zumal die vermeintlichen Regelmäßigkeiten und Muster – einmal überzeugt von ihrer Existenz und Bedeutung – oft nur schwer wieder außer Acht gelassen werden können.

Erwartungsabhängige Beobachtung
Alltagsbeobachtungen sind von Erwartungen und Vorurteilen geprägt. So sind beispielsweise Akzentuierungseffekte bei der Einschätzung der Größe von Münzen in Abhängigkeit von ihrem Wert zu beobachten (je höher ihr Wert, desto größer wird die Münze geschätzt). Für den Forschungsprozess wird davon ausgegangen, dass solche Erwartungseffekte bei der Beobachtung sozialer Aktivitäten eine wichtige Rolle spielen und deshalb kontrolliert werden müssen.

Selektive Wahrnehmung
Im Alltag sind die Wahrnehmungen von Menschen notwendigerweise selektiv. Selektive Wahrnehmung kann in der Forschung jedoch zu erheblichen Irrtümern führen und ist damit für die Prüfung von Zusammenhängen besonders problematisch. So werden beispielsweise präferierte Hypothesen und Vorurteile auch präferiert wahrgenommen und können damit einen Bestätigungsbias erzeugen. In der Wissenschaft gibt es jedoch Verfahren, die es ermöglichen, solche Verzerrungen (Bias) zu überprüfen und kontrollierbar zu machen.

Deduktionsfehler
Falsche Schlussfolgerungen werden als Deduktionsfehler bezeichnet, wovon vor allem die intuitive Schätzung von Wahrscheinlichkeiten betroffen ist. Da in Teilen der sozialwissenschaftlichen Forschung diese Schätzungen eine besondere Rolle spielen, werden dort logische und mathematische Kontrollwerkzeuge eingesetzt, um Deduktionsfehler zu vermeiden.

Probleme der Prüfung von Hypothesen

Eine wichtige Aufgabe der standardisierten (quantitativen) Sozialforschung ist die Hypothesenprüfung. Diese wird gerade dort relevant, wo zwei Hypothesen zu gegensätzlichen Prognosen führen. Hypothesen können durch die systematische Erhebung und Analyse von Daten falsifiziert werden. In der Datenerhebung und -auswertung können verschiedene Probleme auftreten.

Selbstselektion
Bei nichtzufallsgenerierten Stichproben können Verzerrungseffekte durch Selbstselektion auftreten. Gemeint sind Tendenzen von Befragungspersonen, eher an einer Befragung teilzunehmen als andere: So nehmen Betroffene von Diskriminierung viel eher an einer Diskriminierungsstudie teil als Personen ohne Diskriminierungserfahrungen. Effekte der Selbstselektion werden häufig als Kausaleffekte missgedeutet. Diesen Selektionsverzerrungen kann unter anderem mit einer strengen experimentellen Untersuchungsanordnung entgegengewirkt werden.

Verzerrungen durch ProbandInnen und VersuchsleiterInnen
Wird das Verhalten von Versuchspersonen durch das unbewusste Verhalten der Versuchsleiterin oder des Versuchsleiters in eine bestimmte (erwartete) Richtung gelenkt (z.B. zur Bestätigung der zu prüfenden Hypothese), wird von Versuchsleitereffekten gesprochen. Daneben können sich auch Probandeneffekte einstellen, etwa wenn die Versuchsperson die zu prüfende Hypothese bereits kennt. Beide Fehlerquellen können durch eine Doppelblindstudie beseitigt werden, bei der sichergestellt ist, dass weder VersuchsleiterIn noch Versuchspersonen die zu prüfenden Hypothesen und Versuchsbedingungen kennen. Für eine pharmakologische Studie könnte das bedeuten, dass keineR der Beteiligten weiß, ob gerade ein Placebo oder das eigentliche Medikament verabreicht wurde.

Problem durch Drittvariablen
Bei nichtexperimentellen Studien besteht das grundlegende Problem, dass sich Drittvariablen auf einen vermuteten Zusammenhang auswirken können. Ein extremer Fall ist die Scheinkorrelation: Hier wird ein nichtkausaler Zusammenhang zweier Variablen durch den Einfluss einer dritten Variable als kausal produziert. Ein bekanntes Beispiel ist die Klapperstorchhypothese, bei der die menschliche Geburtenrate mit der Zahl von Störchenpaaren in einer Region in einen Zusammenhang gebracht wird.

Werturteilsproblem und Forschungsethik

Interessen, Ideologien und Wertvorstellungen von AuftraggeberInnen und Forschenden können einen erheblichen Einfluss auf die Forschung(sergebnisse) haben.

Relevanzproblem
Wertentscheidungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Auswahl von Forschungsproblemen. Ebenso verhält es sich mit der Festlegung von Forschungsgebieten an Lehrstühlen von Hochschulen und Universitäten. Stellt man die Frage, ob z.B. die Forschung zu sozialer Ungleichheit priorisiert werden soll oder lieber die Erforschung von Managementstilen, wird deutlich, dass die Wahl eines Forschungsthemas eine politische Entscheidung ist, bei der Werturteile viel größeren Einfluss haben als etwa der verfügbare Methodenkanon.

Werturteile in wissenschaftlichen Aussagen
Mit der Forderung Max Webers, auf wertende Aussagen in wissenschaftlichen Arbeiten zu verzichten, entbrannte der sogenannte Werturteilsstreit, der bis heute anhält. Weber verstand Werturteile als private Äußerungen, die in wissenschaftlich-empirischen Abhandlungen eine Scheinobjektivität erhalten würden, weshalb auf diese verzichtet werden sollte. Andere vertreten die Ansicht, dass die Gültigkeit empirischer Aussagen von der Weltanschauung der Forschenden nicht eingeschränkt wird, da diese bei korrektem Ablauf der Untersuchungen geprüft werden könnten.

Persönlichkeitsschutz von Versuchspersonen
Forschungsethische Probleme können auch im Umgang mit Versuchspersonen entstehen: bei Fragen des Datenschutzes, bei der Täuschung von Versuchspersonen im Experiment oder in Experimenten, die Folgen (z.B. psychischer Natur) für die ProbandInnen und ihr Umfeld haben können wie das Gehorsamkeitsexperiment von Stanley Milgram (Milgram-Experiment 1961). Verschiedene wissenschaftliche Zusammenschlüsse und Dachorganisationen (so z.B. die Deutsche Gesellschaft für Soziologie) haben daher eigene Verhaltenskodexe entwickelt. Außerdem muss der gesetzliche Datenschutz eingehalten werden.

 


Literatur
  • Diekmann, Andreas (2010): Empirische Sozialforschung: Grundlagen, Methoden, Anwendung, 4. Auflage. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, S. 47–89 (Auszüge).
  • Döring, Nicola; Bortz, Jürgen (2016): Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften. Berlin, Heidelberg: Springer. Kapitel 2: Wissenschaftstheoretische Grundlagen der empirischen Sozialforschung.
  • Raithel, Jürgen (2008): Quantitative Forschung. Ein Praxiskurs, 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Kapitel 2: Grundlagen und -probleme empirischer Sozialforschung, S. 11–23.
Allgemeines
Was sind Methoden, wozu sind sie da? Welche Probleme macht die Empirie, was unterscheidet deduktiv von induktiv und qualitativ von quantitativ?