„Und darf nur heimlich lösen mein Haar“ – zum 225. Geburtstag von Annette von Droste-Hülshoff

Wenn Sie an deutschsprachige Lyrikerinnen denken, wer fällt Ihnen ein? Wie viele Autorinnen konnten Sie nennen? Und: ist von Droste-Hülshoff eine von Ihnen? 

Annette von Droste-Hülshoff wurde 1797 auf dem Wasserschloss Hülshoff nahe Münster als zweites von vier Kindern in eine angesehene, westfälische Adelsfamilie geboren. Über Generationen war diese maßgeblich an der politisch-geistlichen Führung des Landes beteiligt gewesen. Zum Ende des 18. Jahrhundert bröckelte die Macht der Fürstentümer in Folge der französischen Revolution jedoch auch in Deutschland. Zu von Droste-Hülshoffs Lebzeiten war die Autorin deutlich weniger bekannt als sie es heute ist, obwohl ihre literarische und musikalische Begabung früh erkannt und gefördert wurde. Ihre erste halb-anonyme Veröffentlichung des Gedichtbandes 1838 war ein Misserfolg mit nur 74 verkauften Exemplaren- den Zeitgenos*innen erschien die schreibende adelige Frau als unschicklich. Doch von Droste-Hülshoff schrieb weiter. Ihr literarisches Werk gewann erst im „Kulturkampf“ der 1870er Jahre (20 Jahre nach ihrem Tod) an Bedeutung, in welchem sie – mit den Attributen „katholische“ und „westfälisch“ versehenen – zur Gallionsfigur stilisiert wurde. So erklärte man sie zur „größten deutschen Dichterin“, was ihr wissenschaftliches Interesse und einen prominenten Platz in der Literaturgeschichte, aber auch Fehldeutungen ihres Werkes einbrachte.

Die vielfältige Literatur von Droste-Hülshoffs verbindet Romantik, Realismus und Biedermeier. Ihre eigene Ambivalenz ihrer weiblich-ständischen und ihrer dichterischen Rolle gegenüber prägt fast all ihre Arbeiten und trägt sehr zu ihrer Wirkung bei. Heute ist Annette von Droste-Hülshoff als eine der wenigen Frauen fest im Literaturkanon etabliert. Anna Bers schreibt hierzu im Nachwort ihrer Anthologie Frauen I Lyrik: „Kanones, die meist nach verborgenen, aber machtvollen Normen gebildet werden, kann man am besten durch empirische Untersuchungen beschreiben […] Ein wertvolles und umfangreiches Datenprojekt hat Hans Braam verfolgt: Bei einer Auswertung von über 75.000 Texten findet sich an 63. Stelle der am häufigsten anthologisierten Texte Annette von Droste-Hülshoffs „Knabe im Moor“– als erstes Gedicht einer Autorin. Davor finden sich 23 Gedichte von Goethe.“

Lit4School stellt das Gedicht „Am Turme“ von Droste-Hülshoff vor. Dieses ist im Winter 1841/1842 auf der Meersburg am Bodensee entstanden und reflektiert in vier Strophen die gesellschaftliche Stellung der Frau, beschäftigt sich mit dem Gedankenexperiment „ein Jäger auf freier Flur zu sein“ und kann daher als emanzipatorischer Text gelten. Als Projekt, das durch seine Auswahl von Texten für Schulen ebenfalls zur Kanonisierung beiträgt, versuchen wir scheibenden Frauen* eine Plattform zu geben, damit sie gleichberechtigt gelesen werden. Das zeigt sich mitunter am angegebenen Kontext „Weibliche Stimme“, unter welchem Sie Texte von Frauen finden. 

Annette von Droste-Hülshoff hat erreicht, was auch heute noch längst nicht die Normalität ist – als schreibende Frau im literarischen Kanon etabliert zu sein. Von Droste-Hülshoffs Biografie zeugt von einem schriftstellerischen Selbstbewusstsein, das sie trotz hegemonialer Macht auf dem Feld der Literatur nicht davon abhielt zu schreiben. Uns bleibt, unsere Kanones zu hinterfragen und sie um die vielfältigen, interessanten Texte zu erweitern, die bereits von Frauen* geschrieben wurden und werden.

— Anne Seeger

Buchempfehlung: Anna Bers: Frauen | Lyrik. Reclam 2020.


Heinrich Mann

Deutsch · 27 March 2021

Heute vor 150 Jahren, am 27. März 1871, wurde der Schriftsteller Heinrich Mann geboren. Ein Blick auf und in sein umfangreiches Werk lässt Erstaunliches zu Tage treten. In einer Zeit als deutschtümlich, kaiserlich und militaristisch Kernmerkmale der Geisteshaltung vieler deutscher Intellektueller waren, wendet er sich Frankreich zu, nimmt gesellschaftliche Missstände kritisch in den Blick und ruft zum Pazifismus auf. Es entstehen zahlreiche Romane, einige Dramen und unzählige essayistische, historische, aber auch dezidiert zeitbezogene Arbeiten: Zu seinen bekannten Romanen gehören Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen, die sogenannte Kaiserreich-Trilogie mit dem Roman Der Untertan als Höhepunkt, außerdem Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Neben den belletristischen Texten schreibt Heinrich Mann Zeit seines Lebens Essays, die berühmtesten erscheinen unter dem Titel Geist und Tat. Franzosen 1780–1930. Nirgendwo ist seine immer unangestrengt wirkende glasklare Simplizität, geschult am französischen Vorbild, so offensichtlich. Auch diese Tatsache ist es, die Thomas Mann 1950 anlässlich des Todes seines Bruders würdigt. In Bezug auf Heinrich Manns Memoirenbuch Ein Zeitalter wird besichtigt schreibt er etwas, das diesen Blogbeitrag gewissermaßen einfordert: „Ja, ich bin überzeugt, daß die deutschen Schullesebücher des 21. Jahrhunderts Proben aus diesem Buch als Muster führen werden.“ – Er sollte Recht behalten. Heinrich Mann schaffte es in den Schulkanon, wenn auch mit einem anderen Werk, dem Roman Der Untertan. Nahezu mit preußischer Pünktlichkeit erscheint zum 150. Geburtstag Heinrich Manns eine Neuauflage dieser beißenden Satire auf das Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs (vollendet im Sommer 1914). Der Held, den diese Persiflage eines Bildungsromans begleitet, heißt Diederich Heßling. Diederich Heßling war ein weiches Kind, so beginnt es, aber aus dem weichen – also formbaren – Jungen wird ein autoritätsgläubiger Ehrgeizling, dessen Ziel, eins zu werden mit dem Kaiserreich, ihn zum Prototypen eines nach unten Tretenden und nach oben Buckelnden macht. Nichts scheint unausweichlicher als der Erste Weltkrieg und nichts unmöglicher, als ihn aufzuhalten. Parallelen zu unserer Welt, zu unseren Problemen zu finden, dürfte nicht schwerfallen: zu anschaulich, zu scharf werden die Mechanismen der wilhelminischen Gesellschaft gezeichnet, zu oft meint man, Konstellationen aus dem eigenen Alltag wiederzuerkennen, zu oft beobachtet man auch heute noch die „Sucht, zu befehlen und zu gehorchen“ (Kurt Tucholsky). – Gründe genug, Der Untertan wieder zur Schullektüre des 21. Jahrhunderts zu machen!

Nachschrift: Anlässlich des 150. Geburtstags strahlt 3sat am 27. März, 20.15 Uhr den Spielfilm Der Untertan (DDR 1951) aus. Eine bestechende Literaturverfilmung! (Und zugleich Brennglas deutsch-deutscher Geisteshaltung nach dem Zweiten Weltkrieg.) 

— Frieder Stange