„Und darf nur heimlich lösen mein Haar“ – zum 225. Geburtstag von Annette von Droste-Hülshoff

Deutsch · 11 Januar 2022

Wenn Sie an deutschsprachige Lyrikerinnen denken, wer fällt Ihnen ein? Wie viele Autorinnen konnten Sie nennen? Und: ist von Droste-Hülshoff eine von Ihnen? 

Annette von Droste-Hülshoff wurde 1797 auf dem Wasserschloss Hülshoff nahe Münster als zweites von vier Kindern in eine angesehene, westfälische Adelsfamilie geboren. Über Generationen war diese maßgeblich an der politisch-geistlichen Führung des Landes beteiligt gewesen. Zum Ende des 18. Jahrhundert bröckelte die Macht der Fürstentümer in Folge der französischen Revolution jedoch auch in Deutschland. Zu von Droste-Hülshoffs Lebzeiten war die Autorin deutlich weniger bekannt als sie es heute ist, obwohl ihre literarische und musikalische Begabung früh erkannt und gefördert wurde. Ihre erste halb-anonyme Veröffentlichung des Gedichtbandes 1838 war ein Misserfolg mit nur 74 verkauften Exemplaren- den Zeitgenos*innen erschien die schreibende adelige Frau als unschicklich. Doch von Droste-Hülshoff schrieb weiter. Ihr literarisches Werk gewann erst im „Kulturkampf“ der 1870er Jahre (20 Jahre nach ihrem Tod) an Bedeutung, in welchem sie – mit den Attributen „katholische“ und „westfälisch“ versehenen – zur Gallionsfigur stilisiert wurde. So erklärte man sie zur „größten deutschen Dichterin“, was ihr wissenschaftliches Interesse und einen prominenten Platz in der Literaturgeschichte, aber auch Fehldeutungen ihres Werkes einbrachte.

Die vielfältige Literatur von Droste-Hülshoffs verbindet Romantik, Realismus und Biedermeier. Ihre eigene Ambivalenz ihrer weiblich-ständischen und ihrer dichterischen Rolle gegenüber prägt fast all ihre Arbeiten und trägt sehr zu ihrer Wirkung bei. Heute ist Annette von Droste-Hülshoff als eine der wenigen Frauen fest im Literaturkanon etabliert. Anna Bers schreibt hierzu im Nachwort ihrer Anthologie Frauen I Lyrik: „Kanones, die meist nach verborgenen, aber machtvollen Normen gebildet werden, kann man am besten durch empirische Untersuchungen beschreiben […] Ein wertvolles und umfangreiches Datenprojekt hat Hans Braam verfolgt: Bei einer Auswertung von über 75.000 Texten findet sich an 63. Stelle der am häufigsten anthologisierten Texte Annette von Droste-Hülshoffs „Knabe im Moor“– als erstes Gedicht einer Autorin. Davor finden sich 23 Gedichte von Goethe.“

Lit4School stellt das Gedicht „Am Turme“ von Droste-Hülshoff vor. Dieses ist im Winter 1841/1842 auf der Meersburg am Bodensee entstanden und reflektiert in vier Strophen die gesellschaftliche Stellung der Frau, beschäftigt sich mit dem Gedankenexperiment „ein Jäger auf freier Flur zu sein“ und kann daher als emanzipatorischer Text gelten. Als Projekt, das durch seine Auswahl von Texten für Schulen ebenfalls zur Kanonisierung beiträgt, versuchen wir scheibenden Frauen* eine Plattform zu geben, damit sie gleichberechtigt gelesen werden. Das zeigt sich mitunter am angegebenen Kontext „Weibliche Stimme“, unter welchem Sie Texte von Frauen finden. 

Annette von Droste-Hülshoff hat erreicht, was auch heute noch längst nicht die Normalität ist – als schreibende Frau im literarischen Kanon etabliert zu sein. Von Droste-Hülshoffs Biografie zeugt von einem schriftstellerischen Selbstbewusstsein, das sie trotz hegemonialer Macht auf dem Feld der Literatur nicht davon abhielt zu schreiben. Uns bleibt, unsere Kanones zu hinterfragen und sie um die vielfältigen, interessanten Texte zu erweitern, die bereits von Frauen* geschrieben wurden und werden.

— Anne Seeger

Buchempfehlung: Anna Bers: Frauen | Lyrik. Reclam 2020.