Sommerlektüretipps: Die Nominierungslisten zum Deutschen Jugendliteraturpreis und zum Preis der Leipziger Buchmesse 2023

Sommerzeit ist Lesezeit – und damit Gelegenheit, sich mit den Nominierungslisten des Preises der Leipziger Buchmesse und des Deutschen Jugendliteraturpreises zu beschäftigen. Beide wurden am 23.3. 2023 verkündet, der Preis der Buchmesse am 27.4. verliehen, während der Deutsche Jugendliteraturpreis am 20.10. im Rahmen der Frankfurter Buchmesse verliehen wird.

Für den Deutschen Jugendliteraturpreis wurden 32 Titel von 669 eingereichten Bewerbungen aus rund 7.500 Titeln nominiert, die jährlich auf dem deutschen Kinder- und Jugendliteraturmarkt erscheinen. Der Deutsche Jugendliteraturpreis kann in dieser unübersichtlichen Fülle an Angebot eine erste Orientierungshilfe bieten. Die Nominierungen der Kritikerjury sind in die Kategorien Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch gegliedert, gesondert herausgestellt werden der Preis der Jugendjury und der Sonderpreis Neue Talente. Die Zusammenstellung der nominierten Titel ist in Form und Inhalt abwechslungsreich und die kurzen Inhaltsangaben der Jurys wirken teilweise sofort lesemotivierend. Vertreten sind neben Romanen spielerische Bilderbücher zum Mitmachen (Wie man bis eins zählt oder Spinne spielt Klavier), Versromane (Die Sonne, so strahlend und Schwarz) und Graphic Novels (Harte Schale, Weichtierkern).

Auch auf inhaltlicher Ebene stellt die Nominierungsliste eine Auswahl an Literatur dar, die eine Vielfalt an Identifikationsangeboten für Kinder und Jugendliche bietet: Die Titel handeln unter anderem von dem Verhältnis zwischen den Generationen (Wie anders ist alt), queerer Liebe (Queergestreift), Verlust (Birdie und ich) und Kinderarmut (Nordstadt). Viele Protagonist:innen scheinen auf der Suche nach ihrer Identität für sich und innerhalb der Gesellschaft zu sein, stellen dabei aber verschiedene Lebensbereiche in den Fokus. Die Vorsitzende der Kritikerjury, Prof. Dr. Iris Kruse fasst zusammen: „Es sind kraftvolle Titel, die mit beachtlicher Kreativität Themen verhandeln, die für ein gerechtes und gutes Zusammenleben in einer Gesellschaft wichtig sind.“ Die Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis kann daher auch für den Deutschunterricht interessant sein und die Bücherwahl für das kommende Schuljahr inspirieren. Lit4School wird in den nächsten Wochen und Monaten nominierte Titel in der Datenbank aufnehmen und – sofern schon vorhanden – die Praxistipps für eine Umsetzung im Unterricht des Arbeitskreis Jugendliteratur verlinken.

Perspektivreich für den Deutschunterricht – und somit lohnend für die Sommerlektüre von Lehrkräften – sind auch die Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse: Neben Dinçer Güçyeters Unser Deutschlandmärchen, dem Gewinner, wurden Ulrike Draesners Die Verwandelten Joshua Groß’ Prana Extrem, Clemens Setz’ Monde vor der Landung sowie Angela Steideles Aufklärung nominiert. Auch auf dieser Liste findet sich eine Fülle von Themen und Formen: Das Gewinnerbuch Unser Deutschlandmärchen zeichnet in experimentellen Formen, die Gebete, Monologe, Dialoge und Chöre verbinden die Suche einer türkisch-deutschen Familie nach Sprache und Heimat. Im Mittelpunkt steht das Anwerbeabkommen der Bundesrepublik Deutschland, dessen Folgen für die Angeworbenen vor allem aus weiblicher Sicht dargestellt werden. Unser Deutschlandmärchen könnte als Gegenstand des Deutschunterrichts vor allem für westdeutsche Bundesländer mit einem hohen Anteil Türkeistämmiger interessant sein.

Eine ganz andere, aber ebenfalls weiblich dominierte und transnationale Familiengeschichte erzählt Ulrike Draesners Die Verwandelten. In der Begründung der Jury heißt es: “Die Verwandelten sind Frauen, die im Zuge von Krieg und Ideologie ihre Rolle oder gar ihre Identität wechseln mussten. Ulrike Draesner folgt den weiblichen Linien einer verzweigten Familie, um über Macht und deren Wirkung zu erzählen. Die zeitlich und regional unterschiedlich gefärbte Sprache des Romans, die auch Humor kennt, führt drängend zu Fragen der Gegenwart.”

Sächsichen Lehrkräften möchten wir besonders Angela Steideles Aufklärung ans Herz legen: Dieser Roman über das Leipzig des 18. Jahrhunderts wird erzählt von Dorothea Bach, der ältesten Tochter Johann Sebastian Bachs. Auch hier dominiert also ein weiblicher Blick und stiftet ungewöhnliche Einsichten in die Kultur der Aufklärung, in Musik, Dichtung und Wissenschaft des 18. Jahrhunderts. Durch den “fremden” Blick Dorothea Bachs erweisen sich viele der behandelten Themen als überraschend aktuell.

— Silke Horstkotte und Charlotte Nagels



Am 9. Februar 2022 wurde bekannt gegeben, dass auch 2022— im dritten Jahr in Folge— keine Leipziger Buchmesse stattfindet. Noch wenige Tage und Wochen zuvor schienen die Zeichen positiv zu stehen, denn die sächsische Corona-Schutzverordnung hätte die Großveranstaltung mit Besuchern und einer 2G-Plus-Regelung zugelassen.

Allerdings hatten zwischenzeitlich zahlreiche Verlage und Aussteller ihre Teilnahme abgesagt. Als Grund wurden Personalmangel für den Messeauftritt und die Befürchtung zahlreicher Ausfälle nach Infektionen genannt. 

Durch die Terminierung im Frühjahr eines jeden Jahres gilt die Leipziger Buchmesse als erster großer Branchentreff und erlaubt dem Publikum das Entdecken von Neuerscheinungen im breiten Rahmen. Denn die Leipziger Buchmesse ist nach der Frankfurter Buchmesse — die zweitgrößte Deutschlands, anders als diese jedoch hauptsächlich eine Publikumsmesse. 

Einige Lichtblicke bleiben für alle Buchliebhaber*innen bestehen. Auf auf dem Gelände des Werk 2 am Connewitzer Kreuz findet die Pop-Up-Buchmesse mit Ausstellungen und Lesungen statt. Über 60 Verlage präsentieren hier an Ständen und in Lesungen ihre Neuerscheinungen. Tickets sind auf zwei Stunden begrenzt und online erhältlich.

Auch der Preis der Leipziger Buchmesse wird trotz der Absage vergeben. Am heutigen Donnerstag, den 17. März 2022 um 16 Uhr, findet die Verleihung in der Glashalle auf dem Leipziger Messegelände statt und kann über die Website im Livestream verfolgt werden. Die siebenköpfige Jury, bestehend aus Literaturkritiker*innen und -wissenschaftler*innen, nominierte unter dem Vorsitz von Insa Wilke insgesamt 15 Autor*innen in den drei Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Der hochkarätige Preis, der die Vielfalt von Gegenwartsliteratur abbilden möchte, ist mit 60.000 Euro dotiert und zieht breites Interesse auf sich. Die Spannung steigt also nicht nur bei den Autor*innen, wer die diesjährigen Preisträger*innen sein werden. 

Und: Leipzig liest trotzdem. Dezentral findet das alljährliche Lese-Festival mit Autor*innen-Lesungen und Gesprächen an unterschiedlichen Orten statt. Literatur hat eine Bühne und den Zugang zum Publikum.

 Zuletzt bleibt die Hoffnung auf die Buchmesse vom 2023. Bis dahin: weiterlesen.

— Anne Seeger


Knapp 30 Preise gibt es, die in Deutschland für deutschsprachige Jugendbücher vergeben werden. Der öffentlichkeitswirksamste unter ihnen ist der seit 1956 vergebene und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendgestiftete Deutsche Jugendliteraturpreis. Dieser umfasst allerdings mehr als nur einen Preis: Während eine Kritiker*innenjury Preise in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch vergibt, lobt eine Jugendjury, bestehend aus sechs Leseclubs, zusätzlich den „Preis der Jugendjury“ aus. Eine Sonderpreisjury verleiht schließlich eine Auszeichnung für Nachwuchsschriftsteller*innen sowie für das schriftstellerische Gesamtwerk eines*r Autor*in. Insgesamt sind die Preise mit 72.000 Euro dotiert.

Seit der Leipziger Buchmesse im Frühjahr sind die jeweils sechs nominierten Bücher in jeder Sparte bekannt. Nun wurde der Deutsche Jugendliteraturpreis 2020 auf der Frankfurter Buchmesse vergeben. In der Kategorie Bilderbuch gewinnt die Trilogie Dreieck Quadrat Kreis von Mac Barnett (Text) und Jon Klassen (Illustration), übersetzt von Thomas Bodmer. Als Kinderbuch wird Freibad. Ein ganzer Sommer unter dem Himmel von Will Gmehling prämiert. Den Preis der Sparte Sachbuch erhält A wie Antarktis. Ansichten vom anderen Ende der Welt von David Böhm (Text und Illustration), übersetzt von Lena Dorn. Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte von Dita Zipfel (Text) und Rán Flygenring (Illustration) ist das Jugendbuch des Jahres und Wer ist Edward Moon? von Sarah Crossan (Text) in Übersetzung von Cordula Setsman erhält den Preis der Jugendjury.

Den Sonderpreis als „Neues Talent“ erhält Rieke Patwardhan für ihr Kinderbuch Forschungsgruppe Erbsensuppe oder wie wir Omas großem Geheimnis auf die Spur kamen. Für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet wird Cornelia Funke.

Soweit die Hard Facts. Das sind viele neue Ideen für die herbstliche Lesegemütlichkeit und für den Deutschunterricht natürlich! Lust auf die Vorbereitung machen die vom Arbeitskreis für Jugendliteratur zusammengestellten Praxistipps, die kostenlos zum Download bereitstehen. Diese stellen für alle prämierten und fast alle nominierten Bücher Vorschläge für den Einsatz im Unterricht sowie erste methodische Erprobungen vor. Auch für die nominierten Jugendbücher Elektrische Fische von Susan Kreller und Kein Teil der Welt von Stefanie de Velasco. Den Lit4School-Eintrag zu Kein Teil der Welt legen wir Ihnen noch einmal ans Herz. Weitere Einträge folgen! Wir lesen uns erstmal weiter durch die Liste der Prämierungen. Hier entlang für weitere Infos zu den Preisträgern und den Praxistipps!

Katharina Kraus


Gemessen an seiner öffentlichen Sichtbarkeit ist der Deutsche Buchpreis ohne Zweifel der  wichtigste jährlich vergebene Preis für einen deutschsprachigen Roman. Seit 2005 wird er jedes Jahr am Vorabend der Frankfurter Buchmesse verliehen. Gestiftet wird der Preis in Höhe von 25.000 € vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, einem eingetragenen Verein, der die Interessen der Verlage, Zwischenbuchhändler und Sortimentsbuchhandlungen in Deutschland vertritt. Mit dem Preis verbindet der Börsenverein das Ziel, „über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autor*innen, das Lesen und das Leitmedium Buch“. Der Deutsche Buchpreis ist damit ein Preis mit einem klar erkennbaren Interesse: dem Interesse des Buchhandels, Bücher zu verkaufen. Und zwar literarisch hochwertige Bücher, die von einer jedes Jahr wechselnden siebenköpfigen Jury unter einer Fülle von Einreichungen in einem mehrstufigen Verfahren ausgewählt werden. In diesem Jahr haben 120 Verlage 187 Titel eingereicht, mehr als je zuvor.

Mit Anne Webers Annette, ein Heldinnenepos wurde gestern abend ein ungewöhnlicher Sieger gekürt: die in Form eines epischen Langgedichts verfasste Geschichte der französischen Widerstandskämpferin Annette Beaumanoir, die im Zweiten Weltkrieg Juden rettete und später in der algerischen FLN aktiv war, spielt mit der ehrwürdigen Gattung Versepos, die eigentlich „seit über hundert Jahren mausetot“ ist. So schreibt es Moritz Baßler, Professor für Germanistik an der Universität Münster, in seiner (ansonsten hymnischen) Rezension. Die meisten Kommentator*innen reagierten überrascht. Als Favoritin für den Preis galt eigentlich Deniz Ohdes Roman Streulicht, der am Wochenende bereits mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet wurde.

Eine Heldinnengeschichte in einer erschwerten Form, prämiert mit dem Ziel, Aufmerksamkeit für dieses Buch zu schaffen – wie geht das zusammen? Die Jury schreibt in ihrer Begründung: „Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen: Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt und mit welcher Leichtigkeit Weber die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir zu einem Roman über Mut, Widerstandskraft und den Kampf um Freiheit verdichtet. Annette, ein Heldinnenepos ist eine Geschichte voller Härten, die Weber aber mit souveräner Dezenz und feiner Ironie erzählt. Dabei geht es um nichts weniger als die deutsch-französische Geschichte als eine der Grundlagen unseres heutigen Europas. Wir sind dankbar, dass Anne Weber Annette für uns entdeckt hat und von ihr erzählt.“

Sollten Lehrkräfte sich für den Deutschen Buchpreis interessieren? Unbedingt! Die Longlist und mehr noch die Shortlist des Deutschen Buchpreises haben einen entscheidenden Einfluss darauf, was im Herbst gelesen wird, und sie bieten eine gute Orientierung über Entwicklungen aktueller Literatur. Und ist Annette, ein Heldinnenepos auch ein Buch für den Deutschunterricht? Ja! Das Thema Held*innen und die Form des Epos legen Bezüge zur mittelalterlichen Literatur nahe, die im Unterricht (oft: zu) wenig vorkommt, obwohl sie in vielfältigen Adaptionen durch die Moderne und Postmoderne geistert – von der „Nibelungentreue“ des Deutschen Reichs (der Begriff wurde 1909 von Reichskanzler von Bülow geprägt) bis zu den vielfältigen Bezügen auf die Artusepik in Fantasy-Literatur und -Serien. Annette, ein Heldinnenepos bietet die Gelegenheit, diesen Bezügen einmal nachzugehen und dabei nach Held*innen der Gegenwart zu fragen – vielleicht in einer fächerverbindenden Einheit mit dem Religions- oder Ethikunterricht? Ein Eintrag zu Anne Webers Buch für Lit4School ist auf jeden Fall schon einmal in Arbeit!

Silke Horstkotte