Frauen sind im (Schul-)Kanon unterrepräsentiert. Dies zeigt sich unter anderem bei einer Analyse der Liste mit Lektüreempfehlungen, die dem sächsischen Lehrplan für das Fach Deutsch an Gymnasien beiliegt. Von den angegebenen Titeln stammt nur etwa ein Viertel von Autorinnen, wobei dieses Missverhältnis bei älteren Werken besonders deutlich zutage tritt. Vor allem im Literaturunterricht der höheren Klassen, in denen verstärkt Werke vergangener Epochen behandelt werden, könnte bei Schüler*innen so der Eindruck entstehen, dass Frauen lange Zeit keine erwähnenswerte Literatur geschaffen hätten. Dass dies jedoch nicht der Fall ist und sich eine Beschäftigung mit Literatur von Frauen im Literaturunterricht durchaus lohnen kann, möchte ich in diesem Blogeintrag zeigen.
Frauen waren bis ins 20. Jahrhundert kulturell, sozial und ökonomisch benachteiligt. Die strukturelle Benachteiligung zeigt sich auch darin, dass ihnen der Zugang zum Literaturbetrieb erschwert wurde. Dies fing bereits bei der Erziehung an: Das primäre Ziel war es, Frauen zur Arbeit im Haushalt zu qualifizieren; Bildungsinhalte im engeren Sinne spielten nur eine randständige Rolle. – Dies waren Disziplinen, die außerhalb des häuslichen Umfelds stattfinden. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass Hausfrauen auch zu Hause wenige Möglichkeiten hatten zu schreiben. Die Ursachen dafür beschreibt etwa Virginia Woolf in ihrem Essay A Room of One’s One: Autor*innen benötigten für ihr Schaffen sowohl eine finanzielle Grundsicherheit als auch einen Raum, in dem sie ungestört arbeiten können. Doch sowohl an finanzieller Unabhängigkeit als auch an Privatsphäre mangelte es vielen Frauen lange.
Trotz dieser erschwerten Zugangsvoraussetzungen veröffentlichten Frauen aber bereits im 17. Jahrhundert dichterische Werke unter ihrem eigenen Namen. Teilweise ließen sie sich vorher von Privatlehrern bilden oder sie bedienten Gattungen wie etwa das Gelegenheitsgedicht, in denen es weniger um formale Virtuosität als um den frommen Inhalt ging. Während im Barock die Lyrik im Vordergrund gestanden hatte, wagten sich Frauen im 18. und 19. Jahrhundert auch an andere Gattungen heran. Nicht selten veröffentlichten sie ihre Werke dabei aber anonym oder nutzten Pseudonyme. Geschah die Veröffentlichung unter dem Klarnamen, so finden sich in den Vorworten teilweise sogenannte Bescheidenheitstopoi, in denen die literarische Qualität der Werke etwa dadurch herabgewürdigt wird, dass sie als bloße Erlebnisberichte bezeichnet werden. Daneben stehen bisweilen auch Worte der männlichen Befürwortung und Rechtfertigung der Veröffentlichung.
Auch wenn nun gezeigt wurde, dass in den vergangenen Jahrhunderten durchaus Autorinnen gewirkt haben, stellt sich noch immer die Frage, weshalb sie im Literaturunterricht Beachtung finden sollten. Welchen Zugewinn bringt es dem Literaturunterricht, wenn auch Werke von Autorinnen gelesen werden? Meiner Meinung nach geht die Antwort auf diese Frage über den Hinweis hinaus, dass eine Repräsentation von Autor*innen beider Geschlechter aus Gründen der Gleichberechtigung sinnvoll wäre.
Das Ziel des Literaturunterrichts, die „Teilhabe am Handlungsfeld Literatur“ (Leubner/Saupe/Richter, De Gruyter 2016), entsteht durch ein Wechselspiel zwischen „Lesefreude”, „Textverstehen“ und „Wissen über Literatur und ihre Kontexte“ (ebd.). Diese drei Teilbereiche können durch den Einbezug von Autorinnen gestärkt werden. Die Beschäftigung mit den Hürden weiblichen Schreibens, die eng mit gesellschaftlichen Normen verbunden waren, erweitert das Epochenwissen um Facetten, die bei der Behandlung von Werken männliche Autoren nicht zur Sprache kommen. Diese neue Perspektive auf die jeweilige Epoche kann damit einhergehen, Teilziele des Textverstehen – zum Beispiel das Erkennen von Textelementen – durch die oben erwähnten Besonderheiten des weiblichen Schreibens zu erweitern. Darüber hinaus gehe ich davon aus, dass die weibliche Perspektive von Autorinnen eine ebenso starke emotionale Beteiligung und Vorstellungsbildung hervorrufen kann, wie die von einem Mann formulierte. Dass auch das ästhetische Vergnügen nicht darunter leiden muss, wenn ebenfalls Literatur von Autorinnen vergangener Jahrhunderte gelesen würden, zeigt die Tatsache, dass einige Autorinnen von ihrem zeitgenössischen Publikum besser angenommen wurden als ihre männlichen Kollegen (z.B. Victorie Gottsched und Gabriele Reuters).
Der Literaturunterricht sollte also aus ästhetischen wie auch aus fachdidaktischen Gründen durch die Literatur von Frauen ergänzt werden – zum einen, um auch die Werke von weiblichen Autorinnen sichtbar zu machen, und zum anderen, weil eine Beschäftigung mit dieser Literatur neue Perspektiven auf die jeweiligen Epochen und damit vor allem eine Erweiterung des Wissens über Literatur und ihre Kontexte ermöglicht.
Eine erste Umsetzung ist nicht von einer Änderung des Lehrplans abhängig. Es finden sich bereits jetzt Anknüpfpunkte an den Sächsischen Lehrplan für das Fach Deutsch an Gymnasien. In Klasse 8 bietet sich eine konkrete Thematisierung der Benachteiligung von Frauen in der Literatur an, um Teil des fächerübergreifend angelegten Themas “Sexuelle Bildung“ zu sein, die vorsieht, unter anderem Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu thematisieren. In Klasse 9 und 10 sollen die Schüler*innen Kompetenzen der Textanalyse und Interpretation erlangen; die Textwahl steht den Lehrkräften hier frei, solange am Text die vorgegebenen Motive und Themen erkennbar sind. In Klasse 11 und 12 ist die Lektüre verbindlich, aber auch hier könnte man mit den Schüler*innen den vorgegebenen Kanon besprechen und gemeinsam darüber diskutieren. Eine solche Diskussion regt nicht nur dazu an, das Wissen über Literatur und ihre Kontexte anzuwenden, sondern kann auch eines der allgemeinen Bildungs- und Erziehungsziele des Gymnasiums – die Reflexions- und Diskursionsfähigkeit – fördern.
Das Team von Lit4School bemüht sich, verstärkt Literatur von Autorinnen aus vergangenen Jahrhunderten in der Datenbank zu integrieren. Eine Übersicht der Titel findet man gesammelt unter der Filterkombination Identitäten: Weibliche Stimmen und Veröffentlichungsjahr: vor 1945. Auch das dazugehörige Thema kann gefiltert werden, sodass eine Anpassung von noch unbekannterer Literatur an die Ziele des Lehrplans mit möglichst wenig Aufwand verbunden ist.
– Charlotte Nagels