Heute vor 150 Jahren, am 27. März 1871, wurde der Schriftsteller Heinrich Mann geboren. Ein Blick auf und in sein umfangreiches Werk lässt Erstaunliches zu Tage treten. In einer Zeit als deutschtümlich, kaiserlich und militaristisch Kernmerkmale der Geisteshaltung vieler deutscher Intellektueller waren, wendet er sich Frankreich zu, nimmt gesellschaftliche Missstände kritisch in den Blick und ruft zum Pazifismus auf. Es entstehen zahlreiche Romane, einige Dramen und unzählige essayistische, historische, aber auch dezidiert zeitbezogene Arbeiten: Zu seinen bekannten Romanen gehören Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen, die sogenannte Kaiserreich-Trilogie mit dem Roman Der Untertan als Höhepunkt, außerdem Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Neben den belletristischen Texten schreibt Heinrich Mann Zeit seines Lebens Essays, die berühmtesten erscheinen unter dem Titel Geist und Tat. Franzosen 1780–1930. Nirgendwo ist seine immer unangestrengt wirkende glasklare Simplizität, geschult am französischen Vorbild, so offensichtlich. Auch diese Tatsache ist es, die Thomas Mann 1950 anlässlich des Todes seines Bruders würdigt. In Bezug auf Heinrich Manns Memoirenbuch Ein Zeitalter wird besichtigt schreibt er etwas, das diesen Blogbeitrag gewissermaßen einfordert: „Ja, ich bin überzeugt, daß die deutschen Schullesebücher des 21. Jahrhunderts Proben aus diesem Buch als Muster führen werden.“ – Er sollte Recht behalten. Heinrich Mann schaffte es in den Schulkanon, wenn auch mit einem anderen Werk, dem Roman Der Untertan. Nahezu mit preußischer Pünktlichkeit erscheint zum 150. Geburtstag Heinrich Manns eine Neuauflage dieser beißenden Satire auf das Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs (vollendet im Sommer 1914). Der Held, den diese Persiflage eines Bildungsromans begleitet, heißt Diederich Heßling. Diederich Heßling war ein weiches Kind, so beginnt es, aber aus dem weichen – also formbaren – Jungen wird ein autoritätsgläubiger Ehrgeizling, dessen Ziel, eins zu werden mit dem Kaiserreich, ihn zum Prototypen eines nach unten Tretenden und nach oben Buckelnden macht. Nichts scheint unausweichlicher als der Erste Weltkrieg und nichts unmöglicher, als ihn aufzuhalten. Parallelen zu unserer Welt, zu unseren Problemen zu finden, dürfte nicht schwerfallen: zu anschaulich, zu scharf werden die Mechanismen der wilhelminischen Gesellschaft gezeichnet, zu oft meint man, Konstellationen aus dem eigenen Alltag wiederzuerkennen, zu oft beobachtet man auch heute noch die „Sucht, zu befehlen und zu gehorchen“ (Kurt Tucholsky). – Gründe genug, Der Untertan wieder zur Schullektüre des 21. Jahrhunderts zu machen!
Nachschrift: Anlässlich des 150. Geburtstags strahlt 3sat am 27. März, 20.15 Uhr den Spielfilm Der Untertan (DDR 1951) aus. Eine bestechende Literaturverfilmung! (Und zugleich Brennglas deutsch-deutscher Geisteshaltung nach dem Zweiten Weltkrieg.)
— Frieder Stange