Twitter-Poesie: Wie soziale Plattformen die Lyrik verändern

Reisewarnung für die ganze Welt

Und auf dem Mars der Rover sitzt und bellt

Begreift nicht, was die Erde grad befällt

Die Anglerfische tief im Meer erhellen

Ihr sorgenvolles Antlitz. Robben bellen:

Die Warnung gilt nur für die ganze Welt

Doch Gottseidank nicht für die ganzen Wellen

(Clemens Setz, 2024)

Soziale Medien sind ein Ort des Austauschs und der Mittelungen. Längst haben dies auch Dichter:innen für sich entdeckt: ganz ohne direkt ein Buch schreiben zu müssen, können niedrigschwellig kleine Gedichte auf dem eigenen Account hochgeladen werden. Diese Gedichte können sich auf die Beiträge anderer Nutzer:innen, alltägliche Situationen oder auch auf Werbung beziehen, die auf der Plattform geschaltet wurde. Meistens sind sie durch ein Zeichenlimit und einen Algorithmus beschränkt, der beispielsweise anstößige Wörter herausfiltert und den entsprechenden Beitrag meldet.

Die Ausgestaltung ist ansonsten völlig frei und kann von der Autorin oder dem Autoren selbst bestimmt werden: ob Reim oder freie Verse, der Verwendung von Großschreibungen, Emojis oder absichtlichen Falschschreibungen ist völlig ihnen überlassen, solange sie nicht die von den Plattformen vorgegebenen Regeln – Zeichenlimits o.ä. – verletzen.

Einer dieser Online-Poeten ist Clemenz Setz, der 2024 sein Buch Das All im eigenem Fell herausbrachte. Dort beschreibt er die Anfänge seiner Twitter-Poesie und sammelt zum einem seine eigenen Twitter-Gedichte, stellt aber zum anderen auch die Poet:innen vor, die ihn inspiriert haben. Neben Gedichten über Jahreszeiten und aktuellen Begebenheiten wie der Corona-Krise reagiert er häufig auf die Tweets anderer Nutzer:innen, vertont Tarotkarten und Wikihow-Artikel und schreibt Schlagzeilen weiter. Das obige Gedicht beispielsweise ist auf eine Schlagzeile hin entstanden, bei der während der Corona-Krise eine Reisewarnung in Österreich verhängt wurde. Wenn er bei einem Gedicht nicht weiterkam, haben ihm teilweise auch befreundete Autor:innen geholfen und sein Gedicht retweetet, um es weiterzuschreiben.

So kann mit Online-Poesie eine neue Unterkategorie von Lyrik entstehen, die eigenen Regeln folgt und neue Möglichkeiten bietet.

— Susanna Frank