Gemessen an seiner öffentlichen Sichtbarkeit ist der Deutsche Buchpreis ohne Zweifel der wichtigste jährlich vergebene Preis für einen deutschsprachigen Roman. Seit 2005 wird er jedes Jahr am Vorabend der Frankfurter Buchmesse verliehen. Gestiftet wird der Preis in Höhe von 25.000 € vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, einem eingetragenen Verein, der die Interessen der Verlage, Zwischenbuchhändler und Sortimentsbuchhandlungen in Deutschland vertritt. Mit dem Preis verbindet der Börsenverein das Ziel, „über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autor*innen, das Lesen und das Leitmedium Buch“. Der Deutsche Buchpreis ist damit ein Preis mit einem klar erkennbaren Interesse: dem Interesse des Buchhandels, Bücher zu verkaufen. Und zwar literarisch hochwertige Bücher, die von einer jedes Jahr wechselnden siebenköpfigen Jury unter einer Fülle von Einreichungen in einem mehrstufigen Verfahren ausgewählt werden. In diesem Jahr haben 120 Verlage 187 Titel eingereicht, mehr als je zuvor.
Mit Anne Webers Annette, ein Heldinnenepos wurde gestern abend ein ungewöhnlicher Sieger gekürt: die in Form eines epischen Langgedichts verfasste Geschichte der französischen Widerstandskämpferin Annette Beaumanoir, die im Zweiten Weltkrieg Juden rettete und später in der algerischen FLN aktiv war, spielt mit der ehrwürdigen Gattung Versepos, die eigentlich „seit über hundert Jahren mausetot“ ist. So schreibt es Moritz Baßler, Professor für Germanistik an der Universität Münster, in seiner (ansonsten hymnischen) Rezension. Die meisten Kommentator*innen reagierten überrascht. Als Favoritin für den Preis galt eigentlich Deniz Ohdes Roman Streulicht, der am Wochenende bereits mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet wurde.
Eine Heldinnengeschichte in einer erschwerten Form, prämiert mit dem Ziel, Aufmerksamkeit für dieses Buch zu schaffen – wie geht das zusammen? Die Jury schreibt in ihrer Begründung: „Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen: Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt und mit welcher Leichtigkeit Weber die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir zu einem Roman über Mut, Widerstandskraft und den Kampf um Freiheit verdichtet. Annette, ein Heldinnenepos ist eine Geschichte voller Härten, die Weber aber mit souveräner Dezenz und feiner Ironie erzählt. Dabei geht es um nichts weniger als die deutsch-französische Geschichte als eine der Grundlagen unseres heutigen Europas. Wir sind dankbar, dass Anne Weber Annette für uns entdeckt hat und von ihr erzählt.“
Sollten Lehrkräfte sich für den Deutschen Buchpreis interessieren? Unbedingt! Die Longlist und mehr noch die Shortlist des Deutschen Buchpreises haben einen entscheidenden Einfluss darauf, was im Herbst gelesen wird, und sie bieten eine gute Orientierung über Entwicklungen aktueller Literatur. Und ist Annette, ein Heldinnenepos auch ein Buch für den Deutschunterricht? Ja! Das Thema Held*innen und die Form des Epos legen Bezüge zur mittelalterlichen Literatur nahe, die im Unterricht (oft: zu) wenig vorkommt, obwohl sie in vielfältigen Adaptionen durch die Moderne und Postmoderne geistert – von der „Nibelungentreue“ des Deutschen Reichs (der Begriff wurde 1909 von Reichskanzler von Bülow geprägt) bis zu den vielfältigen Bezügen auf die Artusepik in Fantasy-Literatur und -Serien. Annette, ein Heldinnenepos bietet die Gelegenheit, diesen Bezügen einmal nachzugehen und dabei nach Held*innen der Gegenwart zu fragen – vielleicht in einer fächerverbindenden Einheit mit dem Religions- oder Ethikunterricht? Ein Eintrag zu Anne Webers Buch für Lit4School ist auf jeden Fall schon einmal in Arbeit!
– Silke Horstkotte