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 Beat Siebenhaar

Sprechtempo und Reduktion im Deutschen (SpuRD)

Projektabschluss

Deutsche Zusammenfassung

Das SpuRD-Projekt ist die erste Überblicksdarstellung zur Regionalität von Sprechtempo und Aussprachereduktion im gesamtdeutschen Sprachraum. Die Ergebnisse bieten künftigen Untersuchungen von Lautwandel und sprechsprachlicher Reorganisation eine Grundlage, die der Phonetik, Dialektologie und Sprachwandelforschung bislang gefehlt hat.

Die Datenbasis dazu entstammt dem Deutsch heute-Korpus des IdS: 327 Sprecher aus 165 Orten des deutschsprachigen Raumes haben die Fabel Nordwind und Sonne jeweils normal und schnell eingelesen. Die Aufnahmen wurden zuerst maschinell mit dem Online-Tool MAUS (vgl. Kisler et al. 2017) vorsegmentiert. Anschließend wurden Zeitmarken und Annotationen für ca. 350.000 Lautsegmente manuell überprüft und angepasst. Faktorenanalysen identifi-zieren Sprachräume mit ähnlichen Varianzen ihrer Segmentdauern und Verschleifungs-tendenzen und erlauben, diese exemplarisch zu kartieren.

Der Vergleich dieser standardintendierten Leseaussprache mit basisdialektalen Sprachatlanten offenbart neue Verbindungen von dialektal-regionalsprachlichen und standardintendierten Registern auf einer segmentdauer- und prozessbasierten Ebene, die bislang nicht sichtbar gemacht werden konnten.

In Karten wurde dokumentiert, wo wie schnell gelesen wird und wo welcher Verschleifungsgrad besteht. Zudem wurden Variablen extrahiert, die ursächlich für diese Variation sind:

  1. regional variierende intrinsische Lautdauerverhältnisse (z. B. bei /z/, /i:/ etc.).
  2. Variationslinguistisch deutbare regionale Umsetzungsunterschiede der Standardaussprache (Elision z. B. bei Schwa und Plosiven, Assimilation in Nebensilben) sowie
  3. regional unterschiedliche Beschleunigungsstrategien (Reduktion vs. Kompensation, sprachdynamisches Potenzial).

Die Ergebnisse zeigen die sprachgeographische Variation des Artikulationstempos im Deutschen. Im Wesentlichen bildet sich für die Artikulationsdauer ein Nord-Süd-Gegensatz, mit niedrigeren Dauern im Norden und Westen, hohen Dauern im Süden sowie mittleren Dauern im Ostmitteldeutschen. Begründet werden diese Unterschiede über die alltagsprachliche Bedeutung der Standardaussprache in den betreffenden Regionen sowie über die phonetische Distanz der jeweiligen Regiolekte zur Standardaussprache.

Auch das Ausmaß an Elisionen im Vergleich zur kodifizierten Standardaussprache variiert regional. Tendenziell korreliert die geringe Lesezeit im Norden mit der höheren Verschleifung, während die Sprecher im Süden mehr Zeit benötigen, da sie sich stärker an der kanonischen Grundlage orientieren und damit ‚buchstabentreuer‘ lesen. Die Sprecher im Nordwesten Deutschlands verhalten sich aufgrund der phonetischen Nähe zwischen ihrem Regiolekt und der Standardaussprache auch kolloquialer in der Lesesituation, d. h. sie reduzieren stärker, da sie stärker an diese Sprechlage gewöhnt sind. Im Detail sind aber viele weitere Aspekte bzw. regional differenzierte Elisionen und Assimilationen sowie unterschiedliche intrinsische Segementdauern bedeutsam, die komplex ineinandergreifen und die kleinräumigeren Unterschiede erklären.

Die sorgfältig aufbereiteten Daten bergen ein enormes Ausnutzungspotenzial und werden weitere Beiträge ermöglichen. Die bisher entstandenen Karten zeichnen in Bezug auf Elisions- und Assimilationsprozesse schon jetzt ein realistischeres und schärfer aufgelöstes Bild für den regionalen Gebrauch der deutschen Standardaussprache.

English summary

The SpuRD project is the first overview of the regionality of speech tempo and pronunciation reduction in the German-speaking world and provides a basis for future studies in phonetics, dialectology and language change research.

The database originates from the Deutsch-heute-corpus of the IdS: 327 speakers from 165 locations in the German-speaking area read the fable North Wind and Sun in normal and fast tempo. The recordings were automatically presegmented, then time stamps and annotations for approximately 350,000 segments were manually adjusted. Factor analyses identify areas with similar variances in segmental durations and assimilation tendencies, allowing them to be mapped.

Maps document where and how fast reading occurs and what degree of reduction exists. In addition, variables causing this variation were extracted:

  1. regionally varying intrinsic segment durations (e. g. for /z/, /i:/ etc.).
  2. regional differences of standard pronunciation (e. g. elision of schwa or plosives, assimilation in suffixes), as well as
  3. regionally different acceleration strategies (reduction vs. compensation, linguistic dynamic potential).

Comparisons of these standard-intended pronunciations with dialect atlases reveal new connections of dialectal-regional language and standard-intended registers on a segment duration and processbased level, which could not be visualized before.

On the level of linguistic geography, a north-south contrast is observed for articulation durations, with lower durations in the north and west, high durations in the south, and medium durations in east-central German. These differences are explained by the role of the standard pronunciation in everyday speech in the respective regions as well as by the phonetic distance of the regiolects to the standard pronunciation.

The elision rate compared to the codified pronunciation also varies regionally. There is a tendency for lower reading time in the North to correlate with increased elisions, while speakers in the South need more time because they are more oriented towards the canonical base and thus read more 'true-to-the-letter'. Correspondingly, speakers in the northwest of Germany behave more colloquially in the reading situation due to the phonetic proximity between their regiolect and the standard pronunciation, i. e. they reduce more, since they are more accustomed to this speech situation. In detail, however, many other aspects or regionally differentiated elisions and assimilations as well as different intrinsic segment durations are significant, which intertwine in a complex way and explain the smaller-scale differences.

The carefully prepared data hold enormous exploitation potential and will allow further contributions. The maps produced so far already paint a more realistic and sharper picture of regional use of standard German pronunciation in terms of elision and assimilation processes.

An der Stelle noch Ergebnisse aus der ersten Projektphase, die ergänzt werden sollten....

Die Sprechgeschwindigkeit beeinflusst die Aussprache. Eine Erhöhung des Sprechtempos hat systematische Veränderungen zur Folge. Eine Untersuchung mit dem IdS-Korpus "Deutsch heute" zeigt aber nicht nur eine Systematik, sondern eine eine große Variation in diesen Veränderungen. Erste Auswertungen bietet gehen der Frage nach, inwiefern Sprechtempo und phonetische Reduktion in der deutschen Leseaussprache regionaler Variation unterliegen. Dazu werden in zwei intendierten Tempi eingelesene Aufnahmen des „Nordwind und Sonne“-Textes ausgewertet, die es ermöglichen, einen direkten Vergleich zwischen den bisher 67 über den deutschsprachigen Raum verteilten Ortspunkten zu ziehen. Diese Variation im Zusammenspiel von Sprechtempo, phonetischer Reduktion und regionaler Variation möchte ich mit einem erweiterten Korpus genauer ansehen.


Erste Ergebnisse

Die folgenden von Matthias Hahn erstellten Karten mit ersten Ergebnissen zeigen zuerst, dass die Artikulationsdauer regional unterschiedlich ist. Deutlich ist die längere Artikulationsdauer im Osten, während im Westen eine kürzere Artikulationsdauer vorherrscht. Die beiden weiteren Karten machen dann aber deutlich, dass für die unterschiedliche Artikulationsgeschwindigkeit unterschiedliche Faktoren,  Artikulationsrate (Segmente/s) und Segmentelisonsrate (Elision von Segmenten) zusammenspielen. Für jeden Aspekt sind zwei Karten abgebildet. Die linke Karte repräsentiert jeweils die 'normale' Lesegeschwindigkeit, die rechte Karte zeigt die Daten für die erhöhte Lesegeschwindigkeit.

Artikulationsdauer
Artikulationsrate: Segmente/s

Die beiden Karten zeigen die Artikulationdauer in s, d.h. die Lesedauer abzüglich der Pausen. Auffällig ist die längere Artikulationsdauer im Osten des deutschen Sprachgebiets, während insbesondere der Südwesten eine kürzere Artikulationsdauer aufweist.

 

Artikulationsrate: Segmente/s
Artikulationsrate: Segmente/s

Die beiden Karten zeigen die Artikulationsrate in einem Maß Laute/s. Deutlich ist die höhere Artikulationsrate im Süden.

 

Segmentelisionsrate: Anteil der elidierten Segmente gegenüber der kodifizierten Standardaussprache
Segmentelisionsrate

Die beiden Karten zeigen die Segmentelisionsrate. Deutlich ist die höhere Anzahl Elisionen im nördlichen und mittleren Westen des deutschen Sprachgebiets..

 

Die hier präsentierten ersten Resultate machen also deutlich, dass im Westen schneller gesprochen wird, als im Osten. Allerdings wird das höhere Tempo jeweils anders erreicht: Während im Südwesten ganz einfach mehr Laute in derselben Zeit realisiert werden, werden im Norden mehr Laute weggelassen. Details müssen aber noch geklärt werden, genau so wie die Produktion von Pausen.

Der Vergleich der beiden Sprechtempi zeigt jeweils ganz ähnliche Verteilungsmuster, wobei der Kontrast beim erhöhten Lesetempo etwas verstärkt wird. Die basisdialektalen Raummuster – im Hintergrund ist die Dialekteinteilung von Wiesinger (1982) abgebildet – sind bislang beschränkt wiederzuerkennen. Im Projekt liegt bislang auch erst ein Bruchteil der analysierten Orte und Sprecher vor, so dass eine feinere räumliche Struktur erst mit der Zeit deutlich werden wird. Die Detailanalyse wird zudem genauere Strategien der Sprechgeschwindigkeitserhöhung zeigen, also z.B. welche Laute im Nordwesten weggelassen oder zusammengezogen werden oder wie die Laute im Südwesten verkürzt werden. Die weitere Analyse wird sicher noch das eine oder andere (Vor-) Urteil zur Sprechgeschwindigkeit in Frage stellen.

Mitarbeiter

Matthias Hahn (WMA) und Marvin Müller, Henrik Achten, Simon Oppermann, Hanna Bezanava


Publikationen

Hahn, Matthias (2022): Sprechgeschwindigkeit und Reduktion im deutschen Sprachraum. Eine Untersuchung zur diatopischen Variation standardintendierter Vorleseaussprache. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms. (= Deutsche Dialektgeographie)

Hahn, Matthias und Beat Siebenhaar (2019): "Spatial Variation of Articulation Rate and Phonetic Reduction in Standard-Intended German". In: Calhoun, Sasha, Paola Escudero, Marija Tabain und Paul Warren (Hg.): Proceedings of the 19th International Congress of Phonetic Sciences, Melbourne, Australia. Melbourne: 2695–2699. (Vorabdruck als pdf-Datei)

Siebenhaar, Beat und Matthias Hahn (2019): "Vowel space, speech rate and language space". In: Calhoun, Sasha, Paola Escudero, Marija Tabain und Paul Warren (Hg.): Proceedings of the 19th International Congress of Phonetic Sciences, Melbourne, Australia. Melbourne: 879–883. (Vorabdruck als pdf-Datei)

Hahn, Matthias und Beat Siebenhaar (2019): "Schwa unbreakable – Reduktion von Schwa im Gebrauchsstandard und die Sonderposition des ostoberdeutschen Sprachraums". In: Kürschner, Sebastian, Mechthild Habermann und Peter O. Müller (Hg.): Methodik moderner Dialektforschung: Erhebung, Aufbereitung und Auswertung von Daten am Beispiel des Oberdeutschen. Hildesheim: Olms: 215–236. (= Germanistische Linguistik 241–243) (Vorabdruck als pdf-Datei)

Hahn, Matthias und Beat Siebenhaar (2016): "Sprechtempo und Reduktion im Deutschen (SpuRD)". In: Jokisch, Oliver (Hg.): Elektronische Sprachsignalverarbeitung 2016. Dresden: TUDpress: 198–205. (= Studientexte zur Sprachkommunikation 81) (Vorabdruck als pdf-Datei) und Karten in besserer Auflösung
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