Ungarn ist eine Wahlautokratie

Veröffentlicht
January 4, 2023
Autor
Melani Barlai

„The situation has deteriorated such that Hungary has become an “electoral autocracy” heißt es im Pressestatement des Europäischen Parlaments anlässlich der Vorstellung des aktuellen Reports des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) über Ungarn (EP 2022).

Diese Einschätzung von 433 EP-Abgeordneten, die dem Inhalt des Berichts zustimmten, kam insofern nicht überraschend, als Ungarn seit der Machtübernahme des Ministerpräsidenten Viktor Orbán in allen Indizes zur Messung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eine drastische Herabstufung erfuhr. Seit 2020 wird Ungarn beispielsweise bei Freedom House nicht mehr unter den Demokratien aufgelistet (Freedom House 2020; 2021; 2022).

Aber was bedeutet es, wenn ein Staat als eine elektorale Autokratie eingestuft wird? Die Fachliteratur unterscheidet elektorale Demokratien von elektoralen Autoritäten dahingehend voneinander, dass in elektoralen Autokratien bestehende liberal-demokratische Institutionen ausgehöhlt und parallele institutionelle Strukturen ausgebaut werden, die dann massiven systematischen Manipulationen ausgesetzt werden. In autokratischen politischen Systemen „governments deploy a broad repertoire of manipulative strategies to keep winning elections. The ban parties, prosecute parties, harass journalists, intimidate voters, forge election results, and so forth“ (Schedler 2013:1). Im System Orbán sollen elektorale Manipulationen aller Colour dabei helfen, die für Fidesz-KDNP angegebenen Wählerstimmen zu maximieren. Gemäß diesem machiavellistischen Signum wurde auch das Wahlsystem angepasst. Es entstand ein System des elektoralen Missbrauchs, in dem neben institutionellen und administrativen Missbrauchsformen auch systematische Manipulationen des Wählerwillens nachweisbar sind.

Auf der institutionellen und administrativen Ebenen betrifft es die Änderungen von Wahlgesetzen, die der Machterhaltung der Regierenden dienen. Diese reichen von der politischen Neuziehung von Wahlkreisgrenzen über die Beeinflussung der Meinungsumfragen und der Wahlkampagnen bis hin zum Verletzen und Manipulieren der Gleichheit des Wahlrechts und des aktiven und passiven Wahlrechts (vgl. Birch 2011).

In Ungarn erfolgt die Neuziehung der Wahlkreisgrenzen willkürlich und aus einer politischen Motivation heraus. Es existiert weder eine transparente mathematische Formel für die Berechnung der Wahlberechtigten in den Einerwahlkreisen, noch werden externe Experten und Oppositionspolitiker in die Entscheidungsfindung einbezogen. Aufgrund der teilweise gravierenden Abweichungen in der Anzahl der Wahlberechtigten (bis zu 33 Prozent vom Durchschnittswert) in den Einerwahlkreisen (maximal +-10 Prozent wäre der Idealfall) gelten die von Fidesz beschlossenen Wahlkreiseinteilungen nach wie vor selbst nach ungarischem Gesetz als gesetzwidrig.

Zwar verfügen die ungarischen Bürgerinnen und Bürgern über ein universelles Wahlrecht, dennoch geraten insbesondere Wählergruppen ins Visier der gouvernementalen Manipulationen, die eine Anti-Regierungshaltung aufweisen, sowie jene Bürgerinnen und Bürger, die von den Abhängigkeits- und klientilistischen Strukturen am stärksten betroffen sind. Ihnen wird der Wahlzugang erschwert und ihr Wahlrecht eingeschränkt. Das 2011 eingeführte Nationalitätenmandat, das den 13 in Ungarn lebenden Minderheiten mehr politisches Mitspracherecht garantieren sollte, ist aus mehreren Gründen problematisch. 2018 und 2022 schaffte der Kandidat der deutschen Minderheit, Imre Ritter, über die Minderheitenliste (durch eine die bevorzugte Umrechnung der Wählerstimmen) den Einzug ins Parlament. Ritter kann allerdings als ein „trojanisches Pferd“ von Fidesz bewertet werden, zumal er Jahre lang Parteimitglied von Fidesz war, und sein parlamentarisches Abstimmungsverhalten eine hundertprozentige Fidesz-treue bezeugt, dass zumindest bis 2018 als Absicherung für die Zweidrittelmehrheit von Fidesz diente.

Ähnlich problematisch ist die im Juni 2013 in Kraft getretene Änderung des Wahlverfahrensgesetzes. Dieses entzieht ohne Begründung den Zugang zur Briefwahl jenen ungarischen Staatsbürgern, die in Ungarn eine gültige Wohnadresse haben, sich jedoch am Tag der Parlamentswahl im Ausland aufhalten. Sie müssen oftmals mehrere 100 Kilometer reisen, um ihr Wahlrecht in einer der ungarischen Botschaften oder Konsulaten ausüben zu können. Dahingegen dürfen Auslandsungarn ohne gültige Wohnadresse in Ungarn weiterhin per Brief abstimmen. Gegen diese Art von Diskriminierung hat ein Wähler nach der Parlamentswahl 2014 eine Verfassungsbeschwerde eingereicht, die ohne materiell-rechtliche Prüfung vom Verfassungsgericht abgelehnt wurde. Das Gericht verwies absurderweise darauf, dass das Wahlgesetz bestimmten Wählergruppen die Abstimmung per Briefwahl nicht ermöglicht, und somit die Betroffenheit des Klägers nicht gegeben ist (UVerfG Beschluss Nr. 3048/2014). Zumindest gab es damals eine materiell-rechtliche Prüfung der Beschwerde, denn durch die systematische Beschneidung der richterlichen Kompetenzen seit 2010 wird auch das ungarische Verfassungsgericht in seinem Wirken als Schützer des Wahlrechts zunehmend beeinträchtigt:  Zwischen Januar 2013 (am 1. Januar 2013 trat das neue Wahlverfahrensgesetz in Kraft) und Juni 2017 wurden von den insgesamt 117 eingereichten Verfassungsbeschwerden lediglich sieben vom Verfassungsgericht materiell-rechtlich geprüft (vgl. Bodnár/Mécs 2018).

Kürzlich wurde mit der Modifizierung des Meldegesetzes Wahlen manipuliert. Ab dem 1. Januar 2022 können auch unbewohnte Wohnungen als Wohnadressen gemeldet werden. Damit wurde die früher gesetzwidrige Registrierung von fiktiven Wohnadressen legalisiert. Die neue Regelung ist insofern problematisch, als der sogenannte „Wahltourismus“, dessen Ausmaß bei den vergangenen Wahlen für internationale Aufmerksamkeit sorgte, nicht länger unter Strafe gestellt werden kann. Bei der Parlamentswahl am 3. April 2022 konnten Auslandsungarn mit doppelter Staatsbürgerschaft, die durch die nun legal gewordene Meldung eines „fiktiven” Wohnortes, statt nur auf Parteilisten auch auf die Kandidatenlisten bestimmt. Diese Regelung kann folglich beispielsweise in stark umkämpften Einerwahlkreisen Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben, insbesondere dann, wenn von klientilistischen Strukturen betroffene Teile der Bevölkerung aus Angst um ihre Jobs und Sozialleistungen zur Ummeldung ihrer Wohnsitze gezwungen werden.

Die dritte Ebene der elektoralen Manipulationen und Missbrauchsfälle betrifft zum einen die Wählerinnen und Wähler selbst und zum anderen die Wahlhelferinnen und Wahlhelfer (Stimmenzählerinnen und Stimmenzähler), die für die Abwicklung von demokratischen Wahlen verantwortlich sind.

Wie Studien zeigen (vgl. Barlai/Banuta 2018, 2019; Barlai 2022), ist die Arbeit von ungarischen Wahlkommissionen, also von jenen Organisationseinheiten, die die Wahlen abwickeln, durch gouvernementale Einmischung und klientilistische Strukturen bestimmt. Da der ungarische Gesetzgeber, entgegen der guten Praxis in den meisten EU-Ländern, die zivile Kontrolle in den Wahllokalen verbietet, wird den Wahlhelferinnen und -helfern eine besondere Bedeutung beigemessen, zumal in Ungarn Wahlunregelmäßigkeiten und massive Betrugsfälle zum Wahlalltag gehören. Die Erzählungen von Wahlhelferinnen und Wahlhelfern, die sowohl von administrativen Unregelmäßigkeiten wie auch von massiven Betrugsfällen berichten sind besorgniserregend. Viele Unregelmäßigkeiten bleiben jedoch aufgrund von unzureichenden Kenntnissen über das Protokollverfahren oder aus Angst vor weiterer Eskalation von Konflikten innerhalb den Stimmzählkommissionen ungemeldet. Denn Konflikte zwischen freiwilligen, meist oppositionellen und den von den lokalen Selbstverwaltungen „bestellten“, meist regierungsnahen Wahlhelferinnen und Wahlhelfern sind in den über 10.200 Wahllokale in Ungarn Normalität bei Wahlen – ebenso wie die Stigmatisierung und die Einschränkung der Rechte von oppositionellen Stimmenzählerinnen und Stimmenzählern. So gaben 2022 elf Prozent der befragten Stimmenzählerinnen und Stimmenzähler an, in ihrer Tätigkeit eingeschränkt worden zu sein (vgl. Barlai 2022). Am häufigsten werden oppositionellen Stimmenzählern das Führen von Wählerverzeichnissen verwehrt. Das ist insofern problematisch, als durch die Weitergabe von im Wählerverzeichnis enthaltenen persönlichen Daten eine illegale Mobilisierung von Wählern geschieht. Laut dem ungarischen Wahlverfahrensgesetz ist während der Wahl sowohl das Telefonieren im Wahllokal wie auch die Weitergabe von persönlichen Daten der Wähler ein schwerwiegender Verstoß gegen das Gesetz. Dennoch gab fünf Prozent der Interviewten Wahlhelferinnen und Wahlhelfer an, bei der Parlamentswahl 2022 Augenzeugin/Augenzeuge von illegaler Wählermobilisierung gewesen zu sein (vgl. Barlai 2022).

Den wachsenden Netzwerken des elektoralen Klientelismus, in dem Stimmenkauf, Einschüchterung und Erpressung von Wählerinnen und Wählern vor den Wahlen systematisch stattfinden, sind die Schwächsten in der ungarischen Gesellschaft am stärksten ausgesetzt. In einem quasi-feudalen System, dessen zentrale Säule das an Sozialleistungen gekoppelte staatliche Arbeitsprogramm ist, werden überwiegend Mitglieder der Roma-Minderheit für Machterhaltungszwecke instrumentalisiert, und ihre Stimmen entweder durch Wahlgeschenke im Vorfeld der Wahlen oder gegen Bargeld am Wahltag gekauft.[1] Da Roma häufig auf den örtlichen Bürgermeister angewiesen sind, der für die Zuweisung von Arbeitsaufträgen und Sozialleistungen in der Gemeinde verantwortlich ist, sind sie den klientilistischen Strukturen im besonderem Ausmaß ausgesetzt.

Aber auch in den Wahllokalen auf dem Land können diese Abhängigkeitsstrukturen Einfluss auf die Arbeit der Stimmzählkommissionen haben, insbesondere dann, wenn diese aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der lokalen Selbstverwaltung bestehen, die aus Angst um den Verlust ihrer Arbeitsplätze oder ihrer Angehörigen Unregelmäßigkeiten nicht melden.

Neben Roma und Gemeindemitarbeiter sind auch ältere Menschen den Erpressungs- und Manipulationstaktiken der „Agenten“ oftmals ausgesetzt. Viele Unregelmäßigkeiten passieren während der Abstimmung mit den fliegenden Wahlurnen. Die mobile Stimmenabgabe ist für Personen vorgesehen, die aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen nicht in der Lage sind, das Wahllokal aufzusuchen. Stimmenzählerinnen und Stimmenzähler berichteten auch 2022 über Manipulation und Erpressung des Wählerwillens von älteren und kranken Menschen (vgl. Barlai 2022). Viele dieser Fälle bleiben jedoch aufgrund von fehlenden Ereignisprotokollen, die im Beschwerdeverfahren wichtige Beweismaterialien liefern, unaufgedeckt. Aber auch, wenn Protokolle über die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlbehörden eingehen, haben sie aufgrund von institutionellen Einschränkungen kaum Erfolg bei der Rechtsprechung. In ihrem Wahlbericht zu den Parlamentswahlen 2022 schlussfolgert TASZ, eine NGO, die sich für die Einhaltung von Grundrechten in Ungarn einsetzt: „The legal framework and its institutions are inadequate to take legal action against fraud and abuse. No meaningful action or investigation can be expected in these contexts.” (vgl. TASZ 2022). In ihrem Wahlreport bemängelt auch ODIHR die Beschneidung der Rechte der Wähler, sich gegen die Entscheidungen von Wahlkommissionen zu währen: „The 2018 amendments narrowed the possibility to appeal decisions of election commissions to those citizens and legal entities whose rights are ‘affected by the case’, unduly limiting the right of all electoral stakeholders to seek effective legal remedy, at odds with international standards“ (ODIHR 2022: 18).

Im System Orbán dient nicht der Staat dem Volk, sondern das Volk dem Staat.

Für das ungarische Wahlsystem gilt: institutionelle, administrative Manipulationen und, bedingt durch die Klientel- und Abhängigkeitsstrukturen, Manipulationen des Wählerwillens sind systemcharakteristisch. All diese Trends sind Symptome für die Erosion demokratischer Standards, einschließlich der Integrität von Wahlen. Die massive systematische Manipulation auf allen Ebenen des Wahlsystems lässt die Schlussfolgerung zu, dass Ungarn eine Wahlautokratie ist, in der Regierungen ein breites Repertoire an manipulativen Strategien einsetzen, um Wahlen zu gewinnen. Das Verständnis gegenüber den wachsenden Herausforderungen für die Integrität der Wahlen in Ungarn ist von enormer Bedeutung. Die Erfassung von dysfunktionalen Prozessen auf den kleinsten Ebenen des Wahlmanagements kann symptomatisch für das Versagen von Wahlsystemen stehen. Daher ist mehr Forschung über die Tätigkeit von Stimmenzählern auch in Mittelosteuropa zu leisten.

Referenzen:

Barlai, Melani (2022): SZSZB Tapasztalatok a 2022-es országgyülési választáson, (Erfahrungen von Wahlhelfern bei der Parlamentswahl 2022), https://www.unhackdemocracy.eu/hu/home, 15.12.2022.

Barlai, Melani/Banuta Zsófia (2018): Electoral Irregularities at the Hungarian Parliamentary Election 2018, https://www.academia.edu/40836184Electoral_Irregularities_at_the_Hungarian_Parliamentary_Election_2018., https://de.euronews.com/2019/12/03/the-brief-from-brussels-wahlmanipulation-in-ungarn, 10.12.2022.

Birch, Sarah (2011): Electoral Malpractice. Oxford: Oxford University Press.

Bodnár, Eszter/Mécs, János (2018): Az alkotmányjogi panasz szerepe a választójog védelmében [The importance of the constitutional complaint in protecting the right to vote], in: MTA Law Working Papers (3).

European Parliament (2022): Hungary can no longer be considered a full democracy. https://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20220909IPR40137/meps-hungary-can-no-longer-be-considered-a-full-democracy, 30.11.2022.

Freedom House (2020; 2021; 2022): https://freedomhouse.org/country/hungary, 10.12.2022.

ODIHR (2022): Hungary, Parliamentary Elections and Referendum, 3 April 2022: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/files/f/documents/4/6/515111_1.pdf, 14.12.2022

Schedler, Andreas (2013): The Politics of Uncertainty: Sustaining and Subverting Electoral Authoritarianism, Oxford.

TASZ (2022): Tanulságok a választási csalásokról [Lektionen über Wahlbetrüge], https://ataszjelenti.444.hu/2022/04/15/nem-a-szavazokorokben-tortenik-es-nem-lehet-ellene-jogilag-fellepni-tanulsagok-a-valasztasi-csalasokrol, 13.12.2022.


[1] Nachweise von landesweiten Wählerstimmenkäufen bei der Parlamentswahl 2022 liefert die von der ungarischen NGO, Zivil Kollegium Stiftung (Civil Kollegium Alapítvány) gestartete Kampagne „Saubere Wahlen“: https://www.facebook.com/tisztaszavazas/videos/369540398514978/