Sicherung der Rechtsstaatlichkeit in Polen durch zivilgesellschaftliche Akteure?

Veröffentlicht
April 6, 2021
Autor
Jolanthe Stosik

Vor dem Hintergrund anhaltender Konflikte um die Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedsstaaten ist in der Öffentlichkeit vermehrt von der Europäischen Union „als einem zahnlosen Tiger“ die Rede – als etwas, das zunächst mächtig erscheint, letztlich aber nur eine geringe Bedeutung bezüglich der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit besitzt. Bisherige Instrumente der EU wie der Artikel 7 EUV Verfahren hinderte die polnische Regierung nicht daran Gesetzesänderungen durchzuführen, deren kumulativer Effekt die Stärkung der Befugnisse der Exekutive ist.

Allerdings bleibt dies auf nationaler Ebene keineswegs unkommentiert: In Polen gehen seit mehreren Monaten Menschen auf die Straße, um gegen die Schaffung sogenannter „LGTBIQ[1] freier Zonen“ zu demonstrieren. Die Errichtung jener freien Zonen bezieht sich auf Beschlüsse polnischer Gemeinden, Städte und Woiwodschaften, die in Form einer „regionalen Familiencharta“ oder als „Resolution gegen LGTB-Ideologie“ verabschiedet wurden. Erstere hebt die Bedeutung der traditionellen Familie wie „die Identität der Ehe als Beziehung zwischen Frau und Mann“ hervor und kündigt die Verteidigung dieser Werte an. So sollen „Kooperationsprogramme mit sozialen Organisationen […] das Prinzip der Stärkung von Familie und Ehe berücksichtigen und die Finanzierung von Projekten ausschließen, die gegen diese Werte verstoßen.“ Infolgedessen werden alldiejenigen exkludiert, die den traditionellen Geschlechterrollen nicht entsprechen. Damit wird eine gewisse Gruppe nicht nur gesellschaftlich, sondern auch institutionell diskriminiert.

Das Beispiel der LGTBIQ freien Zone verdeutlicht, dass Recht als Institution Konflikte nicht allein lösen kann. Es benötigt ergänzend AkteurInnen, die die Einhaltung von Rechtsnormen einfordern – birgt die Zivilgesellschaft in Polen dieses Potenzial?

Die Wirkungsfähigkeit ist insofern vorhanden, als das sich der Protest nicht nur auf der Straße, sondern vor allem auch in den Sozialen Medien abspielt. Das Aufkommen von Social Media Kanälen bringt neue Möglichkeiten, die Praxis der politischen Partizipation zu erweitern und bestimmte Gruppen, die bisher weniger aktiv waren, mit einzubeziehen.

Allerdings wäre es fahrlässig die Zivilgesellschaft in Mittel- und Osteuropa als einen allseits anerkannten, geschlossenen Akteur zu bezeichnen, der außerhalb der politischen Auseinandersetzungen ringsum Akzeptanz erfährt. Eine konzeptionelle Abgrenzung von Zivilgesellschaft und der damit verbundenen zivilgesellschaftlichen Akteure ist unscharf (vgl. Burnell 2004: 111). Der zivilgesellschaftliche Raum in den Ländern Mittel -und Osteuropas ist durch die Präsenz von illiberalen, nationalistischen oder rechtsextremen Akteuren kompetitiver geworden. Das Beispiel der Einrichtung von LGTBIQ freien Zonen illustriert die Polarisierung der zivilgesellschaftlichen Szene in Polen. Hinzu kommt die schwache Ausprägung außerhalb der Großstädte. Insbesondere junge Menschen wandern aus den ländlichen Regionen in städtische Gebiete oder ins Ausland ab (vgl. Komornicki 2016: 151- 160). Zudem sind die finanziellen Ressourcen zivilgesellschaftlicher Organisationen meist rar und die Finanzierung durch EU-Gelder kann schnell als eine illegitime Einmischung von außen wahrgenommen werden.

Wie kann die europäische Zivilgesellschaft unterstützen?

Eine Lösungsvariante stellt die Förderung transnationaler Kooperationsbeziehungen zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus verschiedenen Mitgliedsstaaten im Sinne einer europäischen Zivilgesellschaft dar. Diese umfassen ein breites Themenspektrum, das in der Rechtsstaatlichkeit ein wesentliches Element darstellt. Beispielsweise können internationale Städtepartnerschaften, Vereine oder Partnerschulen Themen rund um LGTBIQ in gemeinsamen Projekten zur Sprache bringen. Weiterführend wäre es spannend zu erforschen, mit welchen Erwartungen die AktivistInnen in Polen an die europäische Zivilgesellschaft herantreten. Möglicherweise in Form eines moralischen Beistands via Social Media Plattformen oder durch die finanzielle Unterstützung transnationaler NGOs? Kann dies als Teil eines europäischen Bürgerschaftsverständnisses wahrgenommen werden?

Allenfalls ist es wichtig, die Konflikte nicht zu nationalisieren und eine Stigmatisierung der Gesamtbevölkerung Polens zu vermeiden. Daher ist eine Mehrebenenperspektive mit Blick auf die nationalen Kontextfaktoren relevant. Am Ende ist ein Zusammenspiel von vielseitigen Akteuren unabdingbar. Noch kann sich ein Teil der Zivilgesellschaft Polens organisieren und fordert ihre Rechte auf der Straße ein, aber sie könnte Gefahr laufen sich dabei die „Zähne auszubeißen“.

Literatur

Burnell, Peter (2004): The Elusive Quest for Grand Strategies, in: Internationale Politik und Gesellschaft, 3, S. 100-116.


[1] LGBT steht in diesem Beitrag für „Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender“, -IQ, für intersexuell, queere und weitere Identitäten.