Stadtberndeutsch Sprachschichten einst und jetzt

Beat Siebenhaar


Zusammenfassung

Die Sprache der Stadt Bern ist also nicht eine Mundart, sondern eine Vielzahl von mundartlichen Varianten. Soziale Differenzierung zeigt sich im Sprachsystem weitgehend in den Aspekten, die schon vor 60 Jahren beschrieben wurden und den Sprechern auch heute noch bewusst sind: Vokalisierung von l, Velarisierung von -nd, Kurzformen der Verben 'stehen, gehen, lassen, kommen', Kurzform u für und sowie die häufigere Verwendung von französischen Lehnwörtern beziehungsweise von alten mattenenglischen Wörtern. In anderen Bereichen konnten die Differenzen nicht dargestellt werden, weil die Datenlage zu klein ist, oder dann finden sich wie bei der Verteilung von ging/geng individuelle Muster und nicht soziale. Die auch im ländlichen Berndeutschen zu beobachtende Auflösung des Unterschieds zwischen offenen und geschlossenen Hochzungenvokalen ii/ii, uu,uu / üü,üü trifft alle Schichten gleich. Ein wichtiger Bereich sozialer Differenzierung, der bisher nicht beschrieben wurde, stellt die pragmatische Ebene dar, wobei hier natürlich nur eine Sprechsituation erhoben wurde. Oberschichtssprecher definieren die Interviewsituation als formeller als die übrigen Sprecher.

Stadtberndeutsch zeigt also immer noch eine soziale Differenzierung. Der Untergang des burgerlichen Stadtberndeutschen ist noch nicht so weit, wie es vor 50 Jahren befürchtet wurde. Doch muss klar sein, dass die hier dokumentierten burgerlichen Sprecher zu denjenigen gehören, die ihre Sprache bewusst pflegen und dafür auch in Kauf nehmen aufzufallen. Ihre gepflegte Sprache wird nicht die Mundart aller Burger sein, das haben Rudolf von Fischer und J. Harald Wäber deutlich ausgedrückt. Eine so starke Mischung von Merkmalen, wie sie Michael von Graffenried zeigt, stellt den anderen Pol des burgerlichen Spektrums dar, dem sicher auch nur ein ganz kleiner Teil der jüngeren Burger entspricht. Die I-E-Geheimsprache der Matte, aber auch ein ausgeprägtes Mattenenglisch, wie es im Interview mit Roger Fridelance und im Gespräch mit dessen Schwester und ihrem Mann demonstriert wird, sind jedoch fast gänzlich geschwunden. Sie zeigen fast nur noch folkloristische Aspekte, weil es der sozialen Grundlage als quartierbezogene Unterschichtssprache, die im Interview erwähnt wird, heute entbehrt. Einzelne lexikalische Elemente des Mattenenglischen haben sich aber erhalten und sind teilweise die mittlere Sprachschicht eingedrungen. Die sprachliche Mittelschicht selbst, ein nicht markiertes Berndeutsch, das sich kaum von der Sprache der ländlichen Umgebung unterscheidet, hat einen weiteren Platz eingenommen. Wie jede Mittelschicht ist diese schwieriger zu definieren, weil sie auf beiden Seiten 'über den Hag frisst'. Die soziale Mittelschicht hatte sich früher sprachlich eher nach oben orientiert; in Bern hatten Mittelschichtssprecher burgerliche Elemente aufgenommen oder sogar bis ins Detail burgerlichen Sprachgebrauch angenommen - dafür steht beispielsweise Paul Schenk - und unterschichtliche Elemente abgelehnt. Heute sind für sie weniger einzelne Varietäten Vorbilder, an die sie sich sprachlich annähern will, vielmehr ist für die sprachliche Mittelschicht eine Mischung verschiedener Elemente charakteristisch, deren soziale oder sprachliche Herkunft kaum mehr eine Bedeutung hat. Somit nimmt die Varianz innerhalb der Mundart zu, die Anzahl Varianten der Mundart nimmt ab. Positiv ausgedrückt heißt das, die Sprecher haben mehr Möglichkeiten etwas auszudrücken, negativ ausgedrückt heißt es, sie haben keine eindeutige sprachliche Heimat mehr. Soziale Differenzierung zeigt sich also sprachlich nicht mehr in der Verwendung einer bestimmten Varietät oder bestimmter Merkmale einer Varietät, sondern in der Mischung der Merkmale. Vor allem aber - und das ist bisher noch wenig untersucht - zeigt sich eine soziale Zuordnung in der Definition von Situationen und deren sprachlicher Ausgestaltung.

Die Aufnahmen zeigen also einen schon heute etwas überholten Zustand. Als sprachliche Dokumente halten sie aber verschiedene Varietäten des Stadtberndeutschen fest, welche in 50 Jahren so nicht mehr bestehen werden. Das trifft nicht nur für das von seinen Sprecherinnen und Sprechern als bedroht angesehene burgerliche Stadtberndeutsch und das schon fast museale Mattenenglische zu, sondern auch für die sich heute ausbreitenden unmarkierten Varietäten und Varianten des Berndeutschen. Wenn wir mit diesen Aufnahmen nicht die Sprache vor dem Untergang oder Wandel – je nach Sichtweise – bewahren können, so können wir doch etwas mehr als 140 Minuten davon für die Zukunft festhalten.