Stadtberndeutsch Sprachschichten einst und jetzt
Beat Siebenhaar



Pragmatische Unterschiede
Einer der offensichtlichsten Unterschiede, der sich in diesen Interviews zeigt,
liegt nicht auf der sprachsystematischen Seite, sondern auf der Seite der Sprachverwendung
in der bestimmten Situation. Was macht etwas überzeichnet
eine Interviewsituation aus? Jemand hat ein Mikrofon und darf Fragen stellen,
der Befragte antwortet auf diese Fragen im Bewusstsein, dass die Antwort nicht
nur für den Fragenden bestimmt sind, sondern auch für eine nicht anwesende
Hörerschaft. Die Interviewsituation wird nun auf verschiedene Arten interpretiert:
- Die Situation wird als formelle Situation, wie oben beschrieben wahrgenommen.
Die Interviewpartner lassen sich grundsätzlich auf die Rolle als Befragte
ein und sie wenden sich in der Formulierung ihrer Antworten an ein größeres
Publikum. Die Aussagen sind möglichst eindeutig, die Artikulation ist
deutlich, auf Füllwörter wird verzichtet. Mit individuellen Differenzen
nehmen diese Position Rudolf von Fischer, Adele von Tavel, J. Harald Wäber
und René Pignolo ein.
- Abweichend von dieser Standardlage hat das Interview mit Ruedi Krebs viel
stärker einen Gesprächscharakter, denn der Befragte stellt Gegenfragen,
unterbricht die Interviewerin. Der Bezug zu einem nicht anwesenden Publikum
verschwindet manchmal, denn einzelne Antworten sind durch Nebengeräusche
wie Lachen undeutlich. Manche Aussagen sind deshalb von einem nicht direkt
anwesenden Publikum schwieriger zu dechiffrieren. Ähnliche Züge
zeigt auch das Interview mit Roger Fridelance. Er stellt zwar keine direkten
Rückfragen, erwartet aber von seinem anwesenden Gesprächspartner
häufig eine Zustimmung, indem er seine Aussagen mit der Fragepartikel
need abschließt. Zudem entsprechen die syntaktischen Verkürzungen
und Auslassungen seiner Erzählungen weitgehend einer Kommunikationssituation,
in der der Gesprächspartner die Möglichkeit zur Rückfrage hat,
wenn er etwas nicht versteht. Noch viel ausgeprägter findet sich diese
Haltung im Interview mit Andi Hug. Andi Hug definiert die Interviewsituation
als informelles Gespräch mit der Interviewerin, was vielleicht eine mehr
oder weniger bewusste Ablehnung der Norm darstellt. Die vielen Ellipsen, verblosen
Sätze, semantischen Leerformeln und die oft undeutliche Aussprache verlangen
häufig nach Präzisierungen, die im gesprochenen Text nicht direkt
gegeben werden. Statt dessen zeigt sich eine Häufung non- und paraverbaler
Signale wie Mit-den-Fingern-Schnippen oder Schnalzen, vermutlich auch nicht
sichtbare Gesten, die die fehlende Informationen andeuten im Sinne von "Ja,
du weißt schon, was ich meine." Eine stark implizite Rede ist häufig
ein Zeichen von Gruppensprachen, die Nicht-Eingeweihte ausschließt.
Ganz so weit geht dieses Interview nicht. Aber viel mehr als in phonetischer
und lexikalischer Hinsicht deutet dieser pragmatische Bereich auf eine 'Szenensprache'
hin. In Ansätzen finden sich Spuren dieser Sprechweise, vor allem semantische
Leerformeln, auch im Interview mit Michael von Graffenried, der die grundsätzlichen
Normen des Interviews jedoch nicht in Frage stellt.
Die Interpretation einer Gesprächssituation stellt also ein deutliches
soziales Unterscheidungsmerkmal dar. Während die 'klassischen' Oberschichtssprecher
das Interview entsprechend der Norm als formell interpretieren, zeigen sich
bei den übrigen Sprechern verschiedene Abweichungen von dieser Norm. Am
größten sind die Abweichungen beim der 'Szene' nahe stehenden Andi
Hug, der eine viel informellere Haltung zeigt und die Norm somit implizit in
Frage stellt. Ob diese Beobachtungen auf andere Situationen übertragen
werden können, ist nicht gesichert, kann aber vermutet werden.


