Stadtberndeutsch Sprachschichten einst und jetzt

Beat Siebenhaar


Abweichung von tradierten Formen

Der Sprachatlas der deutschen Schweiz SDS (1962–1997) mit Aufnahmen aus den 1940er Jahren weist für das gesamte Berndeutsche eine Unterscheidung von offenen und geschlossenen Hochzungenvokalen i, u und ü auf. Also beispielsweise Züüg 'die Züge' für ehemals kurzes ü, gegenüber Züüg 'das Zeug' für das schon im Mittelhochdeutschen lang realisierte ü (geschrieben iu), das heute in der Standardsprache als eu/äu erscheint. Diese traditionelle Unterscheidung wird von allen Sprechern der vorliegenden Aufnahmen nicht mehr konsequent durchgehalten. Die folgende Aufstellung zeigt die Vertretung von traditionell geschlossenem ii, uu und üü gegenüber offenem ii, uu, und üü in betonter Position. Die letzte Spalte zeigt die Gesamtvertretung aller Hochzungenvokale.

Sprecher/Sprecherin

ii/ii

% ii

uu/uu

% uu

üü/üü

% üü

ii, uu, üü/ ii, uu, üü

% ii, uu, üü

Adele von Tavel

1/0

0

1/1

50

3/0

0

5/1

17

Rudolf von Fischer

24/6

20

17/7

29

44/11

20

85/24

22

Christine Wirz

9/7

43

12/0

0

16/4

20

37/11

23

Roland Ris

5/1

16

7/2

22

6/3

33

18/6

25

Andi Hug

22/9

31

4/3

42

25/6

19

51/18

26

Ruedi Krebs

22/14

38

4/1

20

20/5

20

46/20

30

J. Harald Wäber

17/7

29

8/5

38

10/6

38

35/18

32

Roger Fridelance

13/5

28

16/4

20

14/11

44

43/20

32

Paul Schenk

1/1

50

1/1

50

2/0

0

4/2

33

Fredi Küenzi

11/3

21

7/6

46

10/13

57

28/22

44

René Pignolo

4/16/4(äi)

80

6/3

33

15/1

6

25/20

44

Antoinette Küenzi

2/4

67

0/2

100

2/3

60

4/9

69

Michael von Graffenried

4/25

86

0/19

100

1/4

80

5/48

91

Aus der Tabelle wird deutlich, dass alle Sprecherinnen und Sprecher von der tradierten Form abweichen. Die Abweichung ist nicht in allen Fällen gleich stark. Eine Gliederung der Sprecher auf Grund ihrer sozialen Herkunft ist kaum möglich. Die Vertreter der traditionellen Unterschicht zeigen zwar etwas häufiger die Abweichung von der Trennung von geschlossenen und offenen Varianten. Roger Fridelance als ehemaliger Mätteler und der sprachbewusste burgerliche Sprecher J. Harald Wäber (und Paul Schenk, der weitgehend den burgerlichen Sprachgebrauch angenommen hat, dessen Daten aber nur schwach belegt sind) zeigen einen identischen Wert. Die mit Abstand größte Abweichung findet sich aber bei Michael von Graffenried, der selbst patrizischen Hintergrund hat, aber als 'Wanderer' keine sprachpflegerische Haltung an den Tag legt. Es scheint sich also hier eine langsame Auflösung von alten Differenzierungen abzuzeichnen, diese ist jedoch nicht an eine sprachliche Schicht gebunden, sondern verteilt sich über Generationen und soziale Schichten.