Stadtberndeutsch Sprachschichten einst und jetzt

Beat Siebenhaar


Soziale Schichten und ihre Mundart in Bern

In der Einleitung ist von Schicht, von der Sprache der Oberschicht und der Unterschicht gesprochen worden. Begriffe, die in einem allgemeinen Verständnis immer wieder gebraucht werden, deshalb aber nicht unproblematisch sind. Wenn im Folgenden von sozialen Schichten oder Klassen die Rede ist, so soll damit nicht eine klar definierte soziologische Klassifizierung vorgenommen werden, sondern es wird versucht, die Veränderungen der sozialen Struktur in Bern und deren Auswirkungen auf die Sprache im Verlauf der letzten gut 200 Jahre nachzuzeichnen. Damit ist auch schon gesagt, dass sich diese Schichten und deren sprachliche Varietäten nicht ein für alle Mal konstituieren, sondern dass sich deren Verhältnis immer wieder ändert. Einem allgemeinen Verständnis entsprechend wird von einer groben Einteilung in Ober-, Mittel- und Unterschicht ausgegangen, deren typische Verteilung in Bern als erstes dargestellt werden soll.

Ursprünglich bildete das Berner Patriziat die Oberschicht. Es handelte sich dabei um eine kleine Gruppe burgerlicher Familien, die bis 1798 bzw. 1830 die Regierungstätigkeit in Stadt und Republik Bern ausübten und die führenden Verwaltungspositionen besetzten. Dieser enge Kreis – spätestens im 16. Jahrhundert stießen die letzten Geschlechter hinzu – hatte seine Stellung zur Zeit des Absolutismus gefestigt. Die übrigen burgerlichen Geschlechter waren von der Regierungstätigkeit ausgeschlossen. Sie besaßen aber bis zum Ende des Ancien régime bzw. der Restauration verschiedene Privilegien wirtschaftlicher Art, wirkten in niederen Beamtungen oder waren in der Kirche, dem verlängerten Arm des Staates, als Geistliche tätig. Diese nicht regimentsfähigen Burger bildeten gewissermaßen die alte Mittelschicht Berns, während die Unterschicht zu großen Teilen aus Zugezogenen ohne städtisches Burgerrecht bestand.

Mit der Helvetik und endgültig mit der Regeneration änderten sich die politischen und sozialen Verhältnisse. 1831 dankte das Patriziat definitiv ab, eine demokratische Verfassung schaffte die Vorrechte der Geburt und die Privilegien der Stadt ab, jedoch war die Stimmfähigkeit zu Beginn noch an einen Zensus geknüpft. Nun wurde die Berner Burgerschaft als Ganzes als Oberschicht angesehen.

Mit der Verstädterung und damit der starken Zuwanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – 1850 hatte Bern 27'558 Einwohner; 1900 waren es schon 65'373 – änderte sich das Bild der Oberschicht wieder. Unter den Zuzügern fanden sich hohe Bundesbeamte, Professoren an der Universität, Wirtschaftsleute und Industrielle ebenso wie Handwerker, Arbeiter und Taglöhner. Die Oberschicht umfasste nun nicht mehr nur die Burgerschaft, sondern auch arrivierte Zugewanderte und Aufsteiger. Das Burgerrecht spielte aber weiterhin eine große Rolle, die Aufnahme ins Berner Burgerrecht war und ist immer noch gesucht, und wird bis heute auch häufig erteilt.

Die Unterschicht stellten bis in die Zeit, als vor allem Nicht-Schweizer deren Stellung übernahmen, kleine Handwerker, Arbeiter und Hausangestellte. Der Bezug der Unterschicht zum Land war bis in die Mitte des 20 Jh. weitgehend gewahrt, da viele verarmte Bauern in die Stadt zogen, um eine neue Existenz aufzubauen.

Diese Einteilung ist stark schablonenhaft, die Grenzen sind nie so deutlich, wie hier dargestellt. Besonders zwischen Unter- und Mittelschicht ist die Grenze oft durchlässig, soziale Migration hat es da schon immer gegeben. Die Grenze zwischen Mittel- und Oberschicht ist stärker, denn die Zugehörigkeit zur Oberschicht beruhte nicht nur auf wirtschaftlicher Macht, sondern war lange durch die Geburt gegeben.

Die Entwicklung des Sprachbewusstseins und der Sprachschichten soll auf dem Hintergrund der historischen und sozialen Entwicklung dargestellt werden.

1. Sprachliche Trennung aufgrund verschiedener Kontaktbereiche

Die frühe Zeit, von der wir Belege über verschiedene Sprachschichten haben, zeigt eine soziale Trennung der Klassen im Ancien régime, die zu unterschiedlichen Varietäten führt. Einerseits ist das Patriziat international ausgerichtet und pflegt den Kontakt zur Oberschicht der weiteren Umgebung. Das Französische genießt als Sprache der Kultur, der Politik und des Militärs einen hohen Stellenwert, der sogar schon 1479 bei Albrecht von Bonstetten belegt ist: 'Das statt folk ist nüt hoffertig, hat ein lantlich rede; aber die userlesnen konent schier all die welschen zungen und lieplich redende.' Vor allem aber wirkte im 17. und 18. Jahrhundert – nicht nur in der Schweiz – das Vorbild des absolutistischen französischen Hofs auf die höheren Gesellschaftsschichten. Dem entsprechend zeigt der patrizische Wortschatz einen großen Einfluss des Französischen, auf den vermutlich auch die als nobel geltende Aussprache des r als Halszäpfchen-r zurückzuführen ist. Die Einflechtung französischer Elemente in die Mundart datiert aus dieser Zeit. Da die Schriftsprache vor allem für die regierende Oberschicht von Bedeutung war, finden sich in der Mundart der Oberschicht verschiedene Elemente, die sich auf schriftsprachlichen Einfluss zurückführen lassen. In den meisten Fällen sozialer Differenzierung zeigt nämlich die Oberschicht die schriftnäheren Formen als die Unterschicht. Die Oberschicht zeigt keine Vokalisierung des l, also Vogel gegenüber dem Vogu der Unterschicht, sie zeigt keine Velarisierung des -nd, also Hund gegenüber unterschichtigem Hung, und sie zeigt bei weiblichen Substantiven wie Zeitung, Regierung vermehrt die Endung -ung, wo die Unterschicht gemeinschweizerdeutsches -ig gebraucht. Auf der anderen Seite entwickelte die in der Matte wohnende Unterschicht eine Sondersprache, die ebenfalls einen Anteil internationaler Fremdwörter enthält. Diese stammen aber weniger aus der französischen Kultursprache, sondern haben ihre Wurzeln oft in der Sprache der Fahrenden oder über die Vermittlung der Händlersprache dem Jiddischen. Diese Fremdwörter stammen also eher aus einer internationalen Unterschichtssprache. Zudem zeigt sich in der Matte eine Geheimsprache mit Silbenverdrehung und Vokalersetzung als Charakteristikum.

Die 'normale' Sprache der Unterschicht steht dagegen in engem Kontakt zur Bauernsprache der Umgebung. Viele Arbeiter und Handwerker sind selbst aus der bäuerlichen Umgebung in die Stadt gezogen, weil die Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten in der Stadt attraktiver schienen als der Status als abhängiger Knecht auf einem Bauernhof. Auch diejenigen, die schon länger in der Stadt wohnen, haben noch häufig verwandtschaftliche Bande in die Umgebung.

Mit dieser Differenzierung soll nicht gesagt werden, dass die sozialen Schichten nichts miteinander zu tun hatten. Patrizier hatten ihre der Unterschicht angehörenden Hausangestellten, sie waren auf die Arbeit der Handwerker, der niederen Beamten angewiesen. Händler und Gewerbetreibende hatten ihre Kunden in allen Schichten. Handwerker verhandelten mit Auftraggebern aus der Oberschicht oder ihrer Vertreter. Pächter bearbeiteten das Land der Patrizier. Arme Städter arbeiteten als Hausangestellte bei Patriziern oder wohlhabenden Burgern. Auch wenn viele dieser Beziehungen zwischen den Schichten ihre Wurzeln im beruflichen Tätigkeitsbereich hatten, so konnten sie auch intensiv und herzlich sein. Kontakte zu Trägern anderer Sprachschichten bestanden also, da aber die soziale Migration noch sehr eingeschränkt war, gab es wenig Druck, sich sprachlich einer anderen, vor allem einer höheren Schicht anzupassen.

2. Soziale Migration macht Sprache zum Identitätsmerkmal

Die französische Revolution, die Errichtung der Helvetik, vor allem aber die Regeneration erzwangen auch in Bern eine politische Umstrukturierung. Die bis dahin alleine regierenden Patrizier gaben, wie erwähnt, Macht und Privilegien ab. Die familiäre Herkunft garantierte nun nicht mehr Teilhabe an der Macht. Reiche Händler und Inhaber größerer Handwerksbetriebe oder kleinerer Unternehmen sowie die ersten Industriellen und besonders die bisher nicht an der Regierung beteiligte Landschaft machten den Burgern und Patriziern ihre Pfründe streitig. Andererseits strebten mit der Einführung der Gewerbefreiheit vermehrt Arbeiter in die Bereiche der Mittelschicht. Die Kontakte zwischen den verschiedenen Sprachschichten wurden intensiver, denn einerseits begannen sich durch die einsetzende soziale Migration die Gesellschaftsschichten zu vermischen, andererseits wurden Vertreter bisher verschiedener Stände zu gleichberechtigten Partnern oder Konkurrenten. Zu den nun gelockerten sozialen Grenzen kommt die bedeutende geographische Migration und die Vergrößerung der Stadt hinzu, die alle sozialen Gruppen der Stadt erreicht.

Die nun mögliche soziale Migration würde theoretisch eine Anpassung an die Sprache der Oberschicht fördern. Da die politischen Umwälzungen die ehemalige Oberschicht ganz von der politischen Bühne vertrieben hatten, hatte auch deren Sprache an Attraktivität verloren. Die neuen Herrscher, die mehrheitlich aus der Landschaft kamen, sprachen keine einheitliche Varietät.

Die soziale Umschichtung traf vor allem die alte städtische Oberschicht, die im Kanton Bern der Regeneration überhaupt nicht in der Regierung vertreten war. Im neuen Bern konnte sie keine Privilegien mehr geltend machen, sie unterschied sich nicht mehr von neureichen Aufsteigern und Zuwanderern. In dieser Zeit wurde für sie die Sprache zu einem bewusst gepflegten Merkmal, um sich vom 'gemeinen Volk' und überdies von der neuen politischen Macht abzugrenzen. Bald übernahmen aber auch soziale Aufsteiger und etablierte Zugezogene, die oft auch in das städtische Burgerrecht aufgenommen wurden, diese sprachliche Haltung. Da sich die Oberschicht nicht wie in Deutschland mittels einer schriftsprachnäheren Form vom 'Pöbel' unterscheiden konnte – die Verwendung der Schriftsprache als gesprochene Umgangssprache war in der Schweiz nie ernsthaft angestrebt worden, auch wenn Mundartpessimisten dies anfangs des 20. Jahrhunderts befürchteten und deutschnationalistische Sprachpfleger es beschworen –, wurde eine stilisierte 'gute' Mundart zum Zeichen einer Oberschicht propagiert, die auch ihren literarischen Niederschlag fand. Diese sozial markierende Mundart betonte Elemente, die früher eher in der Oberschicht gebraucht wurden, konkurrierende Formen wurden als unfein und derb abgetan, die einem Zugewanderten, Bauern oder Arbeiter wohl anstehen, nicht aber einem Burger. Die sprachliche Nähe der Mundart der städtischen Unterschicht zur Landmundart führt dazu, dass Oberschichtssprecher zwischen Stadtberndeutsch und Landberndeutsch unterscheiden, wobei mit Stadtberndeutsch das patrizische und burgerliche Stadtberndeutsch gemeint ist, während Landberndeutsch auch das Stadtberndeutsch der Unterschicht bezeichnet.

Das Sprachbewusstsein etablierte sich also zuerst als Zeichen der alten Oberschicht, die in der Sprache einen Reflex der alten Größe erblickt. Bald schon wurde dieses Sprachbewusstsein von der gesamten Oberschicht geteilt wie in anderen Sprachgebieten auch. Indem man den Sprachgebrauch anderer Gruppen als unfein bezeichnete, und diese Varianten selbst vermied, markierte man die Zugehörigkeit zur Oberschicht. Einzelne Sprecher und Sprecherinnen der Unter- und Mittelschicht übernehmen diese Varianten durch den Kontakt mit der Oberschicht oder – vor allem unter der Mittelschicht – um sich sozial nach oben anzupassen. Das damit verbundene Sprachbewusstsein ergriff dann auch weitgehend die städtische Mittelschicht, die die Berndeutschliteratur rezipierte und da auch ihre sprachlichen Vorbilder fand, konnte aber kaum auf die Unterschicht übergreifen.

3. Betonung der Gemeinsamkeiten im Zweiten Weltkrieg

Die Zeit vor und während des Zweiten Weltkrieges markierte in der gesamten Deutschschweiz einen Gesinnungswandel dahingehend, dass Gemeinsames betont wurde und Trennendes überspielt. Bewusst gepflegt wurden Vereine, die Ober- und Unterschicht zusammenbringen sollten, wie die Pfadfinderbewegung. Wichtig war es jetzt Schweizer bzw. Berner zu sein und nicht Burger oder zugezogener Arbeiter. Die sprachlichen Gewohnheiten konnten zwar nicht plötzlich abgelegt werden, aber sie waren nicht mehr so wichtig. Wer das l vokalisierte, war nicht mehr ein schlechterer Berner als derjenige, der es als l aussprach. Jeder Variante wurde ihr Wert an ihrem Platz zugestanden. Varianten der Unterschichtssprache wurden so von Oberschichtssprechern als gleichwertig akzeptiert. Somit wurden in dieser Zeit, "mit einer künstlich getriebenen Liebe zur Mundart" (Heinrich Baumgartner 1940, 45), vermehrt Elemente tieferer sozialer Schichten in die Sprache der Oberschicht aufgenommen.

4. Wiederauflebenlassen alter Gegensätze

Schon gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die alten Gegensätze wieder wichtiger, die sozialen und sprachlichen Unterschiede wurden wieder betont. Im 'Bund' entwickelte sich in Leserbriefen ein Disput um das richtige Berndeutsch: Burgerliche Sprachpfleger wehrten gegen das 'proletarische Stadtberndeutsch', welches 'das Idiom des Mittelstandes beinahe verdrängt hat'. Gegenstimmen traten für Toleranz gegenüber den Landmundarten ein. Die Entwicklung zur Aufweichung der Grenzen zwischen den verschiedenen Varianten des Berndeutschen ließ sich jedoch nicht rückgängig machen, zudem zeigte die stärker werdende soziale und geographische Migration ihre Wirkung. Sprachpfleger berufen sich immer noch auf die alten Zustände, ihre Position wird durch die neuen Bevölkerungsverhältnisse immer schwächer. In der vermehrten Verwendung von Mundart in Radio und später auch Fernsehen bietet sich außerdem für breite Kreise ein bisher nicht gekannter Kontakt zu weiteren Mundarten; die 'Reinheit' der burgerlichen Stadtmundart aufrechtzuerhalten wird immer schwieriger.

5. Sprachdurchmischung: Verlust der Sprache als sozialen Marker

Die letzte Mundartwelle seit den späten 1960er Jahren markiert auch weitgehend eine Abwendung von der althergebrachten Mundart, die es zu pflegen gilt. Mundart bedeutet auch für Vertreter der Oberschicht nicht mehr Tradition, sondern Umgangssprache, die offen sein muss für neue sprachliche Elemente. Das zeigt sich mehrfach in den Interviews. Auch Sprecher, die ihre Mundart pflegen, wollen nicht das 'bluemete Trögli' pflegen, sondern eine aktuelle Mundart sprechen. Diese Hinwendung zu umgangssprachlichen Formen ist keine deutschschweizer Besonderheit, sondern entspricht einer Entwicklung im gesamten deutschen Sprachgebiet, weg von der stilisierten Hochsprache hin zur salopperen Umgangssprache. Das zeigt sich auch in der Mundartliteratur: Im Mundarttheater hat sich diese Tendenz zur Alltagssprache schon länger abgezeichnet, nun ist auch die literaturfähige Mundart in Lyrik und Prosa ist nicht mehr die Sprache der Romane von Rudolf von Tavel, sondern ein Abbild der Alltagssprache. Der Untertitel 'vierzg gedicht ir bärner umgangssprach' zu Kurt Martis 'rosa loui' von 1967 macht dieses veränderte Sprachbewusstsein deutlich.

Für weite Kreise verliert deshalb die Mundart ihre Norm, man spricht wie einem der Schnabel, bzw. der Schabu gewachsen ist und wie die anderen sprechen. Zudem fällt eine Wertung anderer Mundarten und anderer mundartlicher Sprachschichten für viele Sprecher weitgehend weg. Oft werden Unterschiede sogar nicht mehr wahrgenommen. Die Sprache verliert damit eine Markierfunktion. Man kann seine soziale Position nicht mehr ausdrücken, indem man ein bejahendes iu verwendet oder das l nicht vokalisiert, oder wenn man letzteres trotzdem noch durchgehend macht, so muss man damit rechnen, sich als Snob und Ewiggestriger lächerlich zu machen. An die Stelle von sozial differenzierenden Sprachen treten nun temporär verwendete Gruppensprachen, die Abgrenzungsfunktionen gegen Außen übernehmen. Mit der Häufung bestimmter Wörter, Ausdrücke, Metaphern oder Intonationsmustern bekennt man sich zu einer Gruppe, außerhalb der Gruppe werden diese Muster aber viel seltener verwendet.