Europa ist auch auf dem Land

Published
April 13, 2024
Author
Tomke Giedigkeit

Europa ist auch auf dem Land: Erfahrungsbericht aus der Jugendarbeit eines Europe Direct-Zentrums

Workshop beim Europäischen Landjugendtreffen (European Rally) 2022 in Nienburg an der Weser. Quelle: Europe Direct Oldenburg.

Am 9. Juni 2024 findet in Deutschland die nächste Europawahl statt. In Zeiten von wachsender Globalisierung gibt es viele gesellschaftliche Herausforderungen, die nur in der internationalen Gemeinschaft bewältigt werden können – sei es beispielsweise der Klimawandel, der russische Angriff auf die Ukraine oder auch der Schutz vor weiteren Pandemien. Die Folgen der heutigen politischen Entscheidungen werden besonders die jungen Menschen in ihrem weiteren Leben beeinflussen. Das ist ein Argument, mit dem die Bundesregierung ihre Entscheidung begründet, in Deutschland für die Europawahl das Wahlalter von 18 Jahren auf 16 Jahre zu senken (Bundestag, 2022). Ebenfalls ab 16 Jahren können Jugendliche in Österreich, Belgien, Malta und Griechenland wählen.

Folgt man dem in der Wahlforschung aktuell vertretenem Rational Choice-Ansatz eines rationalen Wählers, bedarf es für die Wahlentscheidung vor allem Informationen über die Wahloptionen und den Nutzen (Rebensdorf & Weiss 2001, S. 128). Zahlen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigen, dass die Wahlbeteiligung junger Menschen unter 30 Jahren unter dem der übrigen Bevölkerung liegt (Demografieportal n.d.). Gleichzeitig engagieren sich Jugendliche und junge Menschen wieder mehr für politische Themen, wie die Shell-Jugendstudie ermittelt (Shell 2019). In Niedersachsen gaben insgesamt zwölf Prozent der Minderjährigen an, sich an einer Fridays for Future-Demonstration beteiligt zu haben (Heyer et.al 2021, S. 36). Bezogen auf die Wahrnehmung eines Nutzens der EU-Mitgliedschaft gibt es in Deutschland in ländlichen Regionen tendenziell weniger Zustimmung als in Städten (Pütz 2019).

Wie Henrieke Bockelmann und Svenja Samstag ihr ihrem Blogbeitrag Transnationale Dialogprojekte und Jugendpartizipation in ländlichen Räumen beschreiben, hat die EU-Jugendstrategie 2019 bis 2027 insbesondere auch das Ziel, die Jugend im ländlichen Raum voranzubringen und bestehenden Unterschieden zwischen Stadt und Land entgegenzuwirken.

Die 430 Europe Direct-Zentren der EU-Kommission fungieren als Mittler zwischen der lokalen Bevölkerung und den EU-Institutionen. Ziel ist es unter anderem, aktuelle EU-Politiken zu kommunizieren, Europa vor Ort erfahrbar zu machen und Wege aufzuzeichnen, sich in der EU einzubringen. Als Europe Direct Oldenburg sind wir zuständig für das Gebiet Weser-Ems von Wilhelmshaven bis Cloppenburg in Niedersachsen. Rund um die Städte Oldenburg und Cloppenburg ist die Region ländlich und agrarwirtschaftlich geprägt. Im deutschlandweiten Vergleich haben die Gebiete um Cloppenburg und Vechta im Oldenburger Münsterland mit 22,4 Prozent einen besonders hohen Anteil von Menschen unter 20 Jahren (Oldenburger Münsterland 2020). Auch im Landkreis Oldenburg liegt der Anteil von Menschen unter 20 Jahren leicht über dem bundesweiten Durchschnitt (Landkreis Oldenburg o.J.). Dabei gaben in einer repräsentativen Umfrage rund 30 Prozent der Minderjährigen in Niedersachsen an, sich für Politik zu interessieren (Heyer et al. 2021, S. 35).

Die Arbeit von Europe Direct-Zentren im ländlichen Raum

Um mit begrenzten Mitteln auch Jugendliche abseits der Großstadt Oldenburg zu erreichen, gehen wir verschiedene Wege. Einen Großteil der Arbeit mit Jugendlichen umfasst Workshops in Schulen. Die EU-Kommission macht dafür die Vorgabe, mit Jugendlichen ab 12 Jahren zu arbeiten. Insbesondere zum Thema Auslandserfahrung und Erasmus sind unserer Erfahrung nach Gymnasialschüler besser informiert, beziehungsweise haben diese bereits Berührungspunkte durch andere Familienmitglieder oder Bekannte, die Auslandserfahrung gesammelt haben, zum Beispiel im Rahmen eines Unisemesters oder eines Schüleraustauschs. Das kann dazu beitragen, die eigene Hemmschwelle dafür zu senken, selbst für einen gewissen Zeitraum im Ausland zu leben und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede in anderen kulturellen Kontexten kennenzulernen. Um Jugendliche auf dem Land mit unterschiedlichen Bildungsniveaus zu erreichen, konzentrieren wir uns im Rahmen von Workshops zu europäischen Mobilitätsprogrammen auf Berufsschulen. So erreichen wir einerseits Jugendliche mit Haupt- und Realschulabschluss sowie Abitur und können die Möglichkeiten von Erasmus während der Ausbildung vermitteln, die deutlich weniger genutzt werden als von Studierenden. Dazu haben wir als Unterstützung ein Magazin entwickelt, in dem Jugendliche speziell aus der gleichen ländlichen Region von ihren Auslandserfahrungen berichten und so als Vorbilder mit einem ähnlichen Hintergrund dienen können. Im Rahmen von Workshops zu EU-Politik bieten Angebote an Auszubildende in bestimmten Berufsgruppen zudem den Vorteil, diese thematisch konkret in ihrer Berufsthematik abzuholen. Wie der Blogbeitrag von Henrieke Bockelmann & Svenja Samstag mit Bezug auf Emmanouilidis und Hierlemann (2022, S. 5) sowie Hawel und Quast (2014, S. 4) aufzeigt, kann dies das Interesse für Europäische Politik bei Jugendlichen erhöhen. So führen wir beispielsweise seit zwei Jahren erfolgreich Workshops mit Landwirten in Aus- und Weiterbildung in Cloppenburg und Oldenburg durch, die ein großes ländliches Einzugsgebiet aufweisen. Themenschwerpunkt der 90-minütigen Veranstaltungen sind die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik (GAP) und der Europäische Green Deal im Bereich Landwirtschaft. Anhand dieser zwei großen EU-Programme, die ihre Arbeit beeinflussen, wollen wir den Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigen, auf welchen Ebenen in Europa politische Entscheidungen getroffen werden, welche demokratischen Prozesse darauf Einfluss nehmen und wie lokal die Umsetzung von EU-Richtlinien und Verordnungen erfolgt. Zu den Zielen gehört es, ein Bewusstsein für die europäische Dimension zu schaffen und die EU greifbar zu machen. Zum Inhalt gehört ebenfalls eine Arbeitsphase, in der über die Maßnahmen der GAP und des Green Deals im Kontext eigener Erfahrungen reflektiert wird. Die in den Statements enthaltenen Kritikpunkte werden gesammelt und anschließend verschiedene Partizipationswege in die EU aufgezeigt – unter anderem, in dem wir die lokalen EU-Abgeordneten vorstellen und über Kanäle zu Branchenverbänden und direkte Kontakte zu EU-Anlaufstellen informieren. Unserer Erfahrung nach ist es besonders für Jugendliche, die in sozial eher geschlossenen Umgebungen in ländlichen Räumen leben wichtig, sie dabei zu unterstützen, politisch Gehör zu finden und Kanalisationskanäle für ihre Kritik anzubieten.

Eine weitere Möglichkeit, die sich für uns bewährt hat, um Jugendliche auf dem Land zu erreichen, ist eine Zusammenarbeit mit der Niedersächsischen Landjugend e.V. So waren wir 2022 Teil des internationalen Treffens von „Rural Youth Europe“, dem Dachverband europäischer Landjugendverbände in Nienburg an der Weser. Eingebettet in das Programm haben wir als Europe Direct Oldenburg eine Infosession zum Europäischen Green Deal im ländlichen Raum, Europawahlen und den Vorteilen von europäisch geförderten Auslandsaufenthalten durchgeführt. Veranstaltungen in Kooperation mit bereits bekannten Akteuren im ländlichen Raum erleichtern dabei unserer Erfahrung nach die Teilnehmerakquise. Insbesondere nach der Pandemie ist es noch einmal schwieriger geworden, Jugendliche für eigene Veranstaltungen zu motivieren, vor allem wenn dabei, wie im ländlichen Raum häufiger notwendig, weite Anfahrtswege verbunden sind.

Auch aufgrund der Erfahrung, dass es schwierig ist, Jugendliche und junge Erwachsene im ländlichen Raum für eigene Veranstaltungen zu gewinnen, haben wir uns während der Pandemie dazu entschlossen, die Social Media-Aktivitäten deutlich auszubauen. So posten wir insbesondere auf TikTok kurze Videos, die unterhaltsam und unter Einbezug aktueller Content-Trends über europäische Themen berichten, beispielsweise der EU-Konflikt mit Polen und Ungarn oder die Europäische Bürgerinitiative. Dabei erfordert die Social Media-inhärente Logik, dass oftmals kurze und polarisierende Beiträge vom Algorithmus unterstützt werden, eine kritische Betrachtung. Die Videos an sich können immer nur einen kurzen Impuls geben, danach müssen weitere Informationen in den Kommentaren gegeben und die Diskussion moderiert werden. Deshalb haben wir uns entschieden, bestimmte Themen, wie den russischen Angriff auf die Ukraine, die sich schlecht verkürzen lassen, nicht auf TikTok zu behandeln, wohl aber EU-Hilfen für die Ukraine und Sanktionsmaßnahmen gegen Russland und Belarus. Am erfolgreichsten sind Videos zur Aktion „DiscoverEU“, bei der die EU-Kommission kostenlose Reisetickets nach dem Interrail-Prinzip an 18-Jährige in der EU verlost. Als Feedback aus den Kommentaren lässt sich schließen, dass wir damit viele Jugendliche aus einem weniger akademisch geprägten Umfeld erreichen, die auf keinem anderen Weg von der Chance das europäische Ausland kennenzulernen, erfahren haben. Gleichwohl wir keine Rückschlüsse darüber ziehen können, ob die Rezipienten aus ländlichen oder städtischen Gebieten stammen.

Fazit

Jugendliche auf dem Land haben oft weniger Angebote, um sich politisch einzubringen und Wissen anzueignen als in der Stadt. Mit der europäischen Jugendstrategie will die EU insbesondere Jugendliche in ländlichen Räumen aktiv einbeziehen. Als lokale Kontaktstelle der EU-Kommission gelingt uns dies vorrangig über die Kooperation mit bereits auf dem Land aktiven Partnerorganisationen und auch Social Media bietet neue Möglichkeiten Menschen ungeachtet der räumlichen Entfernungen zu erreichen – wenn auch unserer Erfahrung nach, der persönliche Kontakt und Austausch mit den Jugendlichen vor Ort dadurch nicht ersetzt werden kann.


Autorinneninformationen

Giedigkeit, Tomke, B.A., ist MA-Studentin der European Studies an der Universität Leipzig. Daneben arbeitet sie für das Europe Direct Zentrum in Oldenburg. Zuvor hat sie an der Ev. Journalistenschule Berlin volontiert. Ihr Themenschwerpunkt ist die Vermittlung von Europäischer Politik.


Literatur- und Quellenverzeichnis

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Landkreis Oldenburg. o.J. „Kreis und Bezirksdaten“, abgerufen im Oktober 2023.

Deutscher Bundest. 2022. „Wahlalter bei Europawahl auf 16 Jahre abgesenkt“. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw45-de-europawahlgesetz-917458.

Hawel, Bernd Wolfgang und Annette Quast. 2014. Bürgerbeteiligung im ländlichen Raum. Thesen und Erfahrungen aus dem hohen Norden, in: E-Newsletter Netzwerk Bürgerbeteiligung vom 15.12.2014, Netzwerk Bürgerbeteiligung.

Hefler, Gerd, und Klaus Boehnke. 1999. „CDU kontra Grün: Über den Einfluß von Sozialisationsbedingungen auf die Partizipationsbereitschaft und die Parteipräferenzen von Jugendlichen“. In Jugendforschung in Deutschland: Eine Zwischenbilanz, Schriftenreihe der Europäischen Akademie Otzenhausen, hrsg. Heiner Timmermann und Eva Wessela. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 25–46. DOI: 10.1007/978-3-322-95086-4_3

Heyer, Lea, Andreas Herz, Anna Lips, Florian Rück und Wolfgang Schröer. 2021. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Niedersachsen. Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim. DOI: 10.18442/174

Hierlemann, Dominik und Janis Emmanouilidis. 2022. Zukunft der Demokratie: Das fehlende Puzzleteil: Eine Beteiligungsinfrastruktur für die EU-Demokratie, Einwurf vom Januar 2022, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Kroh, Martin, und Konstantin Käppner. 2016. „Die Wirkung der Wahlbeteiligung auf das politische Interesse von Erstwählern“. In Wahlen und Wähler: Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2013, hrsg. Harald Schoen und Bernhard Weßels. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 371–97. DOI: 10.1007/978-3-658-11206-6_17

Oldenburger Münsterland. o.J. „Daten zur Region Oldenburger Münsterland“. https://www.oldenburger-muensterland.de/om/region/daten/.

Pütz, Johannes, Hillje und Christine. 2019. „Vom Zahlmeister Zum Zukunftsmeister – Ein Neues Selbstverständnis Deutschlands in der EU“. https://policycommons.net/artifacts/2608276/vom-zahlmeister-zum-zukunftsmeister/3630792/.

Schoen, Harald. 2006. „Junge Wilde und alte Milde? Jugend und Wahlentscheidung in Deutschland“. In Jugend und Politik: „Voll normal!“, hrsg. Edeltraud Roller, Frank Brettschneider, und Jan W. Van Deth. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 379–406. DOI: 10.1007/978-3-531-90094-0_15

Shell AG. „Jugendstudie 2019“. https://www.shell.de/ueber-uns/initiativen/shell-jugendstudie/wir-muessen-politik-fuer-mit-und-von-jugend-machen.html.

Alle Links zuletzt abgerufen am 12. April 2024.