Living with the Land. Eine akteurszentrierte Sicht auf ländliche Räume
Am Leipziger JMCoE zum Thema „Die Europäische Union und ihre ländliche Peripherie in Ostmitteleuropa“ wurde die Mehrfachperipherielage des Forschungsobjekts herausgearbeitet, wonach Jugendliche nicht nur aufgrund ihres Alters weniger Zugang zum politischen Raum haben, sondern auch aufgrund ihres Wohnortes in ländlichen Räumen des östlichen Europa. Was die Perzeption im öffentlichen Raum sowie in der Forschung anbelangt, konstatierten wir bei der Konzeption des jüngst in der Buchreihe „Contemporary European History“ erschienenen Bandes „Living with the Land. Rural and Agricultural Actors in Twentieth-Century Europe – A Handbook“ eine ähnliche Schieflage. In der zeitgeschichtlichen Literatur wird Europa auf seinem Weg der Modernisierung und Liberalisierung meist fokussiert auf Städte geschrieben. Die ländlichen Räume hingegen werden in der Tendenz zum Dorf homogenisiert und als Ort der Ausbeutung, des Kriegs und der Abwanderung repräsentiert. Ebenfalls als Defizit- und Nachholgeschichte wird in großen Teilen der Europahistoriographie das östliche Europa im Modus des „noch nicht ganz“ geschrieben.
Als Beitrag dazu, diese analytische Schieflage zu beheben, haben zusammen mit den Herausgeber:innen Liesbeth van de Grift, Dietmar Müller und Corinna R. Unger die 15 Autor:innen des Handbuchs ihre Beiträge über verschiedene Akteursgruppen im ländlichen Raum mit dem Fokus auf ihre agency geschrieben, auf ihre Vorstellungswelten, Handlungsoptionen und auf die Wirkungsmächtigkeit ihrer Handlungen. Dabei ergab sich ein deutlich erkennbarer Schwerpunkt auf das östliche Europa in dem generell vergleichend, transfergeschichtlich und gesamteuropäisch angelegten Band. Dies mag sich aus dem Umstand ergeben haben, dass die Historiographie zum östlichen Europa nicht ganz so „landvergessen“ war, dass hier klassische Themen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte wie Agrarreformen und Agrarmodernisierung kontinuierlich bearbeitet werden. Dies gilt ebenso für die Parteien- und Verbändeforschung. Die wirtschaftliche und politische Bedeutung der Landwirtschaft und des ländlichen Raumes ist bis in die jüngste Zeit als sehr hoch einzuschätzen, denn es ist doch augenfällig, dass die politischen Brüche im 20. Jahrhundert (1918, 1945, 1989) in vielen Ländern des östlichen Europa mit Agrarreformen einhergingen und dass Erfolg oder Misserfolge der Aufbrüche sich häufig im ländlichen Raum entschieden. Im europäischen Vergleich spielten in Ostmittel- und Südosteuropa Bauernparteien im politischen Bereich und Agrargenossenschaften im vorpolitischen Raum daher eine weit wichtigere Rolle als im westlichen Europa. In „Living with the Land“ werden diese Aspekte mit Blick auf die Vermessung, Verwertung und Administration ländlichen Eigentums von Iva Lučić und Dietmar Müller analysiert, für die Genossenschaften von Nikolay Kamenov und für die Bauernparteien von Wim van Meurs.
Durch den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine ist auch die Dimension der Ernährungssicherheit wieder ins Blickfeld gekommen, die für den Aufbau der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik seit den 1950er Jahren von so großer Bedeutung war. Nicht zuletzt deshalb wurde der Sicherheitsaspekt in der Nachkriegszeit so stark priorisiert (dazu im Band Carine S. Germond und Kalliopi Geronymaki), weil der Zugriff auf ertragreiche Landwirtschaftsräume bzw. das Abschneiden von Nahrungszufuhr im Zweiten Weltkrieg integraler Bestandteil der reichsdeutschen Kriegsführung war. Darauf geht im Band Tatjana Tönsmeyer ein, indem sie Versorgung und Ernährung in Deutsch besetzten Gebieten West- und Osteuropas vergleicht.
Dass im ländlichen Raum beträchtliche Innovationspotentiale auch jenseits von Agrarmodernisierung vorhanden sind, das belegen die Beiträge von Corinne Geering und Dietlind Hüchtker mit Zugriffen aus der Kulturgeschichte. Corinne Geering analysiert die kunsthandwerkliche Verwertung und Vermarktung lokaler und regionaler Produkte auf städtischen Märkten und im Sinne des Kulturtourismus. Bei diesem regional-ländlichen Branding erwiesen Akteure aus den ländlichen Räumen Ostmitteleuropas erhebliches Geschick, so dass ihre Produkte von hauptstädtischen Elitenakteuren zuweilen als Hervorbringungen von nationaler Bedeutung z.B. auf Weltausstellungen verwendet wurden. Dietlind Hüchtker kommt der Fragestellung dem Leipziger JMCoE sehr nahe, wenn sie am Fallbeispiel des staatssozialistischen Polens Sinngebungsprozesse von Jugendlichen im ländlichen Raum zwischen wirtschaftlicher und kultureller Tradition und Moderne analysiert. Das bekannte Poster mit der jungen Frau auf dem Genossenschaftstraktor ist in dieser Perspektive nicht bloße staatsozialistische Propaganda, sondern es birgt auch das Versprechen technologischer Befreiung aus Zeiten des Pferdefuhrwerks sowie einer kulturellen Befreiung aus der Verfügungsgewalt der alten Vätergeneration.
In Absetzung von früheren additiven Europageschichten greifen Band sowie Buchreihe auf transfer- und globalgeschichtliche Ansätze zurück, um die agency von Akteuren unterhalb, neben oder jenseits der Nationalstaaten zu erfassen. Dabei wird deutlich, dass neue Methoden, Zugänge und Verständnisse für Probleme des ländlichen Raums keineswegs monodirektional vom Westen nach Osten und in den Globalen Süden diffundierten, sondern dass Innovationen jeglicher Art besser als Zirkulation von Wissen zu verstehen sind. Diese Gedankenfigur verwenden die meisten Texte, insbesondere aber Heinrich Hartmann sowie Amalia Ribi Forclaz und Carolyn Taratko in ihren Beiträgen über die transnationalen Verbreitungsmuster landwirtschaftlicher Experten und moderner Managementmethoden in der Landwirtschaft. Mit den Niederlanden für der Trockenlegung von Land sowie den skandinavischen Länder für die ländliche Hauswirtschaftsausbildung identifizieren Katja Bruisch und Liesbeth van de Grift sowie Gustav Berry für ihre Themen zwar klare Innovationszentren, die Verbreitung der dabei verwendeten Methoden folgt dann jedoch wieder transnationalen Mustern.
Weder in demokratisch-marktwirtschaftlichen noch in staatssozialistischen Systemen befinden sich die Zentren der Macht im ländlichen Raum. Für die Handlungsmöglichkeiten gerade auch von Jugendlichen im ländlichen Raum ist daher dessen infrastrukturelle Anbindung an Städte und Wirtschaftsräume bedeutsam. Wie Vincent Langendijk herausarbeitet, ist die Wirkung von Infrastruktur im ländlichen Raum durchaus ambivalent, wirkt sie neben der Anbindung an den Weltmarkt doch auch als Weg, auf dem Rohstoffe und Agrarprodukte den ländlichen Raum ohne nennenswerten Mehrwert für die Produktionsregion in Richtung Metropolen verließen. Dieser pull-Effekt wirkt sich auch auf die Bevölkerung aus und bewirkte oft Landflucht. Die von Anette Schlimm analysierte Rolle von Bürgermeistern und Dorfvorstehern im Sinne der kommunalen Selbstverwaltung kann als institutioneller Rahmen für reale Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung im ländlichen Raum gelesen werden, als ein weiterer Aspekt für das (möglicherweise fehlende) Gefühl der Selbstwirksamkeit von jungen Menschen in Ostmitteleuropa.
Die vor allem in Europa wirkmächtig gewordene Vorstellung von ländlichen Räumen als Orte der Unterentwicklung nimmt Corinna Unger als Startpunkt für eine Geschichte der von dort ausgehenden Projekte und Praktiken von Entwicklung. Dabei spielten die Sinnhorizonte lokaler Bevölkerungsgruppen in der Regel eine nur marginale Rolle; sie wurden von urbanen Eliten, angefangen in der Kolonialisierung bis hin zu unterschiedlichen Spielarten von Entwicklungsprogrammen, regelmäßig überformt. Diese Konstellation setzt sich bis in die Gegenwart fort, spielt doch der Bezug auf den vermeintlich im ländlichen Raum residierenden moralischen Kern einer Nation eine wesentliche Rolle bei der Konstruktion einer kulturellen Stadt-Land Dichotomie seitens nationalpopulistischer Bewegungen und Regierungen im östlichen Europa.
Insgesamt verdeutlichen die Beiträge des Bandes, dass die ländlichen Räume des östlichen Europa weder wissenschaftlich noch politisch zu vernachlässigen sind, da gesellschaftliche Entwürfe von Entwicklung oft dort ihren Anfang nehmen. Die akteurszentrierte Perspektive ermöglicht dabei Erkenntnisse bezüglich der Partizipationsmöglichkeiten gerade von jungen Menschen.