Im Schein der Rechtsstaatlichkeit: Ungarns Judikative unter Fidesz

Published
September 28, 2023
Author
Lilian Bobikiewicz

Im Schein der Rechtsstaatlichkeit: Ungarns Judikative unter Fidesz

Populistischer Regierung ist ein anti-liberales Potential aufgrund des alleinigen Repräsentationsanspruches inhärent. Einmal an der Macht, folgen populistische Regierungen meist einem „illiberalen Skript“, um die demokratische Gewaltenteilung aufzuheben.  Ein essenzieller Schritt der Konsolidierung von Macht innerhalb dieses Skripts ist die Vereinnahmung der Judikativen. Insbesondere die Verfassung als Grundgerüst demokratischer Ordnung, steht dabei oftmals im Zentrum des Transformationsprozesses. Die Reformation der Rechtsstaatlichkeit den Schein von Legitimität gewährleistet. Dabei schaffen populistische Regierungen ein selbstlegitimierendes politisches System wechselseitig abhängiger Akteure. Die Abhängigkeit der Akteure generiert langfristig ein inhärentes Interesse am Machtmonopol der Regierung und motiviert diese demnach systemerhaltend zu agieren. Im Folgenden möchte ich am Fallbeispiel Ungarn die Transformation der Judikativen unter der Regierungspartei Fidesz als essenziellen Teilaspekt des illiberalen Skripts darstellen. Zur Illustration werde ich anhand der Literatur insbesondere auf die systemtransformierenden Änderungen durch die 2011 verabschiedete neue Verfassung und die Reformierung des Verfassungshofes eingehen.

Um die ungarische Verfassung, das Magyarország Alaptörvénye (Vörös, 2015, S. 180), zu reformieren, bedarf es dem deutschen Vorbild folgend lediglich einer Zweidrittelmehrheit im Parlament (Sajó 2021, S. 64). 2010 gewann Fidesz als stärkste Partei die Präsidentschaftswahlen und erlangt mit seinem Christ-Demokratischen-Koalitionspartner, Kereszténydemokrata Néppárt, eine solche Zweidrittelmehrheit. Im selben begann Fidesz dem illiberalen Skript folgend nicht nur Änderungen an der Verfassung vorzunehmen, sondern mit der Zweidrittelmehrheit eine neue Verfassung zu erarbeiten. Unter dem illiberal Skript wird in der Literatur ein Muster populistischer Regierungen verstanden, demokratische Institutionen mithilfe konstitutioneller Mittel auszuhöhlen. Hierzu gehört die Entmachtung der Gerichte, Aufhebung der Gewaltenteilung, systematische Korruption und klientilistische Strukturen (Scheppele 2018, S. 545–546). Im Falle Ungarns wurden für die neue Verfassung weder die Oppositionsparteien noch zivilgesellschaftliche Akteure für die Reformierung der Verfassung konsultiert. Stattdessen wurden die Inhalte ohne Zugang der Öffentlichkeit innerhalb der Regierungsparteien verhandelt. Im Parlament stimmte zudem kein einziges Parteimitglied außer der Regierungsmitglieder*innen für die neue Verfassung (Bogaards, 2018, S. 1488).

„The text was introduced to the parliament on 14 March 2011, adopted on 18 April and announced on 25 April, and thus it came into force on 1 January 2012. By September 2013, slightly more than one and one-half years later, it had already been amended five times.” (Vörös, 2015, S. 180–181)

Trotz des anti-demokratischen und illiberalen Grundcharakters dieser Methodik inszenierte Fidesz die Verfassungsänderungen als Willen des Volkes. Hierfür verschickte die Partei eine postalische Umfrage an 8 Millionen Bürger*innen – und somit fast die gesamte wahlberechtigte Bevölkerung Ungarns – mit Suggestivfragen, um Zustimmung und Einbeziehung der Mehrheitsgesellschaft zur Änderung der Verfassung zu ermitteln (Sajó, 2021, S. 65; Uitz, 2015, S. 286). In der Vorgehensweise wird das destabilisierende Potential populistischer Regierungen deutlich. Populistisch, weil Fidesz seine Zweidrittelmehrheit noch innerhalb der ersten Monate als transformatives Momentum nutzte und ganz im Sinne des anti-demokratischen Potentials des Populismus die Gewaltenteilung einschränkte (Kaltwasser et al., 2017, S. 240–241; Sajó, 2021, S. 122–124).

Am stärksten hat die neue Verfassung die Macht und den Handlungsspielraum des Verfassungsgerichts getroffen, diesen eingegrenzt und neu definiert. Seither ist es dem Verfassungsgericht bei einer Staatsverschuldung von über 50 %  untersagt, über Haushalts- und Steuerfragen zu richten (Gomez & Leunig, 2022, 668; 674). Die Überprüfung von Haushalts- und Steuergesetzen darf seither nur Aspekte der Menschenwürde, des Datenschutzes, persönlicher Freiheitsrechte und Staatsbürgerrechte betreffen; also Bereiche, welche für gewöhnlich nicht von Finanzgesetzen betroffen sind (Halmai, 2018, S. 978). Weiterhin verloren vorausgegangene Rechtsprechungen des Verfassungsgerichts zu monetären Angelegenheiten ihre Rechtskraft und vergangene Urteile, die zuvor Gesetzesvorschläge von Fidesz im Bereich Finanzen für unrechtmäßig erklärt hatten, wurden aufgehoben. Vielmehr wurden zuvor am Verfassungsgericht gescheiterte Gesetzesvorschläge von der Regierung in die neue Verfassung eingebracht und demnach Teil der neuen Gesetzgebung. Folglich verlor das Verfassungsgericht seine Kompetenz, Regierungsentscheidungen bezüglich des Finanzrechts als unabhängige Institution zu überprüfen – eine schwerwiegender Eingriff in die Gewaltenteilung Ungarns (Gomez & Leunig, 2022, S. 674). Zusätzlich stellt dieser Eingriff die Aufhebung eines Aspektes der demokratischen Reformierung der ersten Transformation Ungarns in den 1990ern dar, die essentiell für den wirtschaftlichen Aufschwungs des Landes war (Douarin & Mickiewicz, 2017, S. 59).

Eine weitere Änderung des Grundgesetzes, welche die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtes einschränkt, betrifft die Ernennung des/der Präsident*in des obersten Gerichts. Vor der Reformierung oblag es den Verfassungsrichter*innen ihren Präsidenten oder ihre Präsidentin zu ernennen. Mit der Inkraftsetzung des neuen Grundgesetzes obliegt diese Macht nun dem Parlament. Dieses wählt den/die Präsident*in mit einer Zweidrittelmehrheit auf 12 Jahre (Gomez & Leunig, 2022, S. 666). Folglich gewährt die neue Verfassung dem Parlament und, da Fidesz zum Zeitpunkt des Erlasses eine Zweidrittel-Regierungsmehrheit innehatte, der Regierungspartei eine langfristige Einflussnahme auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Dabei wird der Zuständigkeitsbereich der Legislativen nicht nur eingeschränkt, sondern vielmehr die Handlungsmacht der Exekutiven essenziell gestärkt (Gomez & Leunig, 2022, S. 666). Folglich besteht ein Konsens, dass Ungarns anti-liberale Reformierung im Rahmen der Gesetzgebung stattgefunden hat, der Rechtsstaat jedoch ausgehöhlt worden ist und in seiner Substanz Mechanismen der Gewaltenteilung aufhebt.

Diesem Muster der Aushöhlung des Rechtsstaates folgend änderte Fidesz im Zuge der Verfassungsänderung von 2012 ebenfalls den Ernennungsmechanismus der Verfassungsrichter*innen. Laut der alten Verfassung von 1989 wurden die Richter*innen von einem Sub-Komitee des Parlaments ernannt, das aus Vertreter*innen jeder im Parlament repräsentierten Partei bestand. Diese Subkomitee-Mitglieder wählten dann Kandidat*innen mit einer Zweidrittelmehrheit für die Ernennung aus. Unter dem geänderten Artikel 24 des Grundgesetzes besteht weiterhin die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit zur Ernennung von Kandidat*innen, das Sub-Komitee wird jedoch proportional zur prozentualen Besetzung des Parlaments gebildet anstatt weiterhin nominell. Das zuvor angewandte Verfahren der nominellen Besetzung begrenzte bis zu diesem Zeitpunkt die Einflussnahme von Wahlen auf das Komitee. Angesichts der Zweidrittel-Regierungsmehrheit hatte die Gesetzesänderung weitreichende Folgen für die Parteiunabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofs:

„In this way, the 2010 government’s two-thirds majority ensured that only persons nominated by the government party are elected as judges. Thus, the composition of the Constitutional Court has been significantly altered, even distorted.” (Vörös, 2015, S. 188)

Die Auswirkungen all dieser strukturellen Änderungen in der Ernennung verschiedener Positionen im Verfassungsgericht zeigen sich in der vermehrt regierungsnahen Rechtsprechung des Gerichtshofes seit Implementierung (Vörös, 2015, S. 188). Dabei wird deutlich, dass für die Aushöhlung und das Dezidieren der Gewaltenteilung nicht allein die Verfassungsänderungen selbst ausschlaggebend sind, sondern ebenso das politische Klima in welchem diese praktiziert und ausgelegt werden (Gomez & Leunig, 2022, S. 674). Insgesamt ist die Reformierung der Judikativen im Bereich der Besetzungsmechanismen von Mandaten, sowie die Ausweitung des Zuständigkeitsbereiches der Exekutiven von besonderer Bedeutung für den Erhalt eines nach Außen strahlenden Legalismus bei gleichzeitiger Monopolisierung von Regierungsmacht seitens Fidesz.


Autorinneninformationen

Bobikiewicz, Lilian, B.A., ist MSc-Studentin in International Migration and Public Policy an der London School of Economics and Political Science. Sie hat u.A. Projekte im Bereich politischer Repräsentation, zu In- und Exklusionsmechanismen und der Demokratieforschung unterstützt. Arbeitsschwerpunkte: Demokratietheorie, Arbeits- und Zwangsmigration, Ostmitteleuropäische Mitgliedsstaaten


Literaturverzeichnis

Bogaards, M. (2018). De-democratization in Hungary: diffusely defective democracy. Democratization, 25(8), 1481–1499. https://doi.org/10.1080/13510347.2018.1485015

Douarin, E. & Mickiewicz, T. (Hrsg.). (2017). Economics of Institutional Change. Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978-0-230-29128-7

Gomez, G. & Leunig, S. (2022). Fidesz, liberal democracy and the fundamental law in Hungary. Zeitschrift für Politikwissenschaft, 32(3), 655–682. https://doi.org/10.1007/s41358-021-00297-w

Halmai, G. (2018). Silence of transitional constitutions: The “invisible constitution” concept of the Hungarian Constitutional Court. International Journal of Constitutional Law, 16(3), 969–984. https://doi.org/10.1093/icon/moy067

Kaltwasser, C. R., Taggart, P. A., Ochoa Espejo, P. & Ostiguy, P. (Hrsg.). (2017). Oxford handbooks: Bd. 1. The Oxford handbook of populism (First edition). Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780198803560.001.0001

Sajó, A. (2021). Ruling by cheating: governance in illiberal democracy. Cambridge studies in constitutional law. Cambridge University Press (South Africa).

Scheppele, K. (2018). Autocratic Legalism. University of Chicago Law Review, 85(2). https://chicagounbound.uchicago.edu/uclrev/vol85/iss2/2

Uitz, R. (2015). Can you tell when an illiberal democracy is in the making? An appeal to comparative constitutional scholarship from Hungary. International Journal of Constitutional Law, 13(1): 279–300. https://doi.org/10.1093/icon/mov012

Vörös, I. (2015). Hungary’s Constitutional Evolution During the Last 25 Years. Comparative Southeast European Studies, 63(2), 173–200. https://doi.org/10.1515/soeu-2015-630203

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