Die cäsaristische Demokratie – zur Krise der liberalen Demokratie in Polen
Durch das historisch bedingte Auftreten der ersten europäischen Massendemokratien zur gleichen Zeit wie die Verbreitung des Rechtsstaates verstehen wir heute unter der Demokratie die liberale Demokratie. Der Verfall der Gewaltenkontrollen und unabhängigen Gerichte in Polen – einem Staat, der wohlbemerkt als konsolidierte Demokratie galt – stellt nicht nur die Demokratie, sondern auch die Demokratietheorie vor neue Herausforderungen. Sind die Entwicklungen in Polen tatsächlich Symptome einer Entdemokratisierung? Oder ist der Verlust liberaler Werte Symptom einer Formveränderung der liberalen Demokratie?
Der Frage nach dem Regieren von Massendemokratien begegnet Max Weber mit einem gewissen Pragmatismus: es brauche dazu den Vertrauensmann der Massen und dessen Gefolgschaft (Weber, 1984). Als cäsaristische Demokratie beschreibt Weber einen Staat, in dem die einzelne Person, bestätigt durch das Plebiszit seiner Anhängerschaft, alle Regierungsgeschäfte führt. Aufgenommen durch Sata und Karolewski (2020) erweist sich Webers Herrschaftskonzept des Cäsarismus‘ aufschlussreich in der Betrachtung der Herausforderungen der liberalen Demokratie, insbesondere Polens.
Das klassische Verhältnis zwischen Volk und Führungsperson in der Demokratie ist nach Weber eng mit dem Begriff der Demagogie verbunden. Jede Massendemokratie neige demnach zur „cäsaristischen Wendung der Führerauslese“ (Weber, 1984:539). Zur Verdeutlichung der Stellung des Leaders im Cäsarismus hilft ein Blick auf den politischen Messianismus. Definiert wird dieser als „[…] die Durchsetzung eines ideologischen politischen Programms durch das in-Aussicht-Stellen eines utopischen Ziels, das die Verwirklichung eines Heilzustandes bereits im Diesseits beinhaltet.“ (Seitscheck, 2005:83). Dieses Modell setzt im Staat drei Gruppen zueinander in Beziehung: den Messias, die Gefolgschaft und die Anderen.
Ein ähnliches Verhältnis lässt sich in der majoritär ausgelegten Demokratie Polens unter der Führung der PiS beobachten. Mit dem Anspruch der Regierungspartei, die Mehrheit der polnischen Wähler*innen zu vertreten, versteht sie sich selbst als einzig legitime Repräsentantin der Volkssouveränität. Mit diesem Alleinvertretungsanspruch werden Oppositionsparteien oder Akteure der Zivilgesellschaft obsolet, weil sie nicht mit Mehrheit gewählt wurden. Dadurch entfällt nicht nur ihr Regierungsanspruch, sondern zugleich ihre Berechtigung, überhaupt Teil eines politischen Diskurses zu sein (Enyedi, 2020). Unter dem Stichwort paternalist populism bechreibt Zsolt Enyedi ein Set an Wertevorstellungen populistischer Parteien in Ost- und Zentraleuropa. Die PiS produziert demnach in Polen einen Diskurs über die historische Ungerechtigkeit. Dieser äußert sich in der Kombination von Opferstatus, Selbstbewusstsein der Bürger*innen und Ressentiment gegen den Westen (ibid.:365). Das Heilversprechen im Diesseits aus dem politischen Messianismus kommt hier sehr explizit in Form des Heilers Kaczyński vor, der Gerechtigkeit für Polen einfordert und dabei das gespaltene Volk zusammenführt (Vgl. Sadurski, 2018:65).
Der Vergleich von Webers Konzept mit Polen kommt auf den ersten Blick an dieser Stelle ins Wanken. Wie kann Kaczyński die zentrale Figur in diesem Modell sein, hat er doch kein offizielles Regierungsamt inne? Staatsoberhaupt Polens ist immerhin Andrezj Duda. Gemeinhin bekannt ist jedoch, dass die Staatgeschäfte nicht, wie verfassungsrechtlich vorgesehen, in seiner Hand liegen. Lediglich als Kugelschreiber der PiS – polnisch Dlugopis – fungiert das repräsentative Oberhaupt. Die tatsächliche Macht ist beim Parteivorsitzenden Kaczyński zu verorten (Vgl. Sadurski 2019).
Neben der Legitimierung des Regierungsanspruches manifestiert der Diskurs der PiS ein weiteres Element cäsaristischer Demokratie: die Marginalisierung des Parlaments. Aus dem Alleinvertretungsanspruch der PiS ergibt sich die offensichtliche Hinfälligkeit der Parlamentsdebatte. Der Ablauf einer Debatte im polnischen Parlament, dem Sejm am 29.03.2020 illustriert dieses Verhältnis sehr eindeutig: In der Abstimmung über einen Entwurf zum Krisengesetz (im Kontext der Corona-Pandemie) wurde ein Entwurf von 79 Seiten zur Änderung des ursprünglichen Entwurfs eingereicht. Dieser Änderungsentwurf wurde seitens der Regierung um 02:00 Uhr morgens eingebracht und um 04:20 gegen die Stimmen der Opposition angenommen (Vgl. Hassel, 2020). Die PiS entmächtigt im Parlament nicht nur jede Opposition, sie macht die gesamte Parlamentsdebatte überflüssig. Eine Rede des Sprechers der PiS zur Debatte um die Reform des Obersten Gerichts dauerte etwa nur sieben Sekunden, sicherlich in dem Wissen, die Abstimmung werde sich ohnehin nach Parteilinie entscheiden (Sadurski, 2019).
Aus cäsaristischer Perspektive ist die prekäre Situation des Parlaments durchaus demokratisch zu rechtfertigen. Unter der Proklamation, dass die PiS wieder zu Gerechtigkeit und christlichen Werten verhilft, befindet sich das Land in einem Ausnahmezustand. Das Merkmal der cäsaristischen Herrschaft ist jene Macht der Führungsperson, das Land im Ausnahmezustand notfalls von einer Demokratie in eine offene Diktatur und wieder zurück führen zu können (Vgl. Losurdo, 2008).
Die cäsaristischer Perspektive stellt die ‚Entdemokratisierung‘ konsolidierter Demokratien in das Licht einer Regimedynamik. Für die gegenwärtige Problemlage ist diese Anwendung sehr sinnvoll. Der Mehrwert dieser Feststellung liegt darin, die Bewertung demokratischer Qualität nicht auf einzelne Institutionen Polens zu beschränken, sondern in langfristiger Hinsicht die Demokratie anhand der Möglichkeit des Machtwechsels in der Regierung festzumachen. Denn das Herzstück der Demokratie bleibt die faire, freie Wahl, ohne die auch bzw. gerade das cäsaristisches Modell seinen demokratischen Charakter verliert.
Literaturverzeichnis
Enyedi, Zsolt (2020): Right-wing authoritarian innovations in Central and Eastern Europe. In: East European Politics 36 (3), S. 363–377. DOI: 10.1080/21599165.2020.1787162.
Hassel, Florian (2020): Polen: Schwächung der Demokratie in Corona-Krise. In: Süddeutsche Zeitung, 29.03.2020. Online verfügbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/polen-verfassung-praesidentschaftswahl-1.4861159, zuletzt geprüft am 23.02.2021.
Losurdo, Domenico (2008): Demokratie oder Bonapartismus. Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts. Köln: Papyrossa-Verl. (Neue Kleine Bibliothek, 128). Online verfügbar unter http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?id=3039272&prov=M&dok_var=1&dok_ext=htm.
Sadurski, Wojciech (2018): How Democracy Dies (in Poland): A Case Study of Anti-Constitutional Populist Backsliding. In: SSRN Journal. DOI: 10.2139/ssrn.3103491.
Sadurski, Wojciech (2019): Poland’s constitutional breakdown. First edition. Oxford, New York NY: Oxford University Press (Oxford comparative constitutionalism).
Sata, Robert; Karolewski, Ireneusz Pawel (2020): Caesarean politics in Hungary and Poland. In: East European Politics 36 (2), S. 206–225. DOI: 10.1080/21599165.2019.1703694.
Weber, Max; Mommsen, Wolfgang J.; Baier, Horst; Hübinger, Gangolf (Hg.) (1984): Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden ; 1914 – 1918. Tübingen: Mohr (Gesamtausgabe Schriften und Reden, Bd. 15).