Die Beziehung zwischen Polen und der EU – ein demokratischer Kompromiss?

Published
February 22, 2022
Author
Heleen Matton

Das Kernmoment jeder Demokratie ist die Wahl. Das gilt für die liberale Demokratie ebenso, wie für die totalitäre oder die cäsaristische. Die Entwicklungen in Polen zeigen, dass der Grundsatz der fairen, freien Wahl in einem EU-Staat weniger selbstverständlich ist als angenommen. Durch die diversen Reformen unter der PiS hat sich das demokratische System Polens verändert. Das wirft neben demokratietheoretischen Fragen auch die viel dringendere praktische Frage auf: Wie kann das Verhältnis der EU zu dieser neuen, weniger liberalen Form der Demokratie aussehen?

Als Bündnis liberaler Staaten verschreibt die EU sich neben dem Grundsatz der Demokratie bestimmten Werten, insbesondere dem Rechtsstaat. Mit zunächst Ungarn und später Polen sieht sich das Staatenbündnis erstmals mit konsolidierten Demokratien konfrontiert, die während ihrer Mitgliedschaft diese liberalen Werte verlieren. Der Verfassungsrechtler Wojciech Sadurski geht sogar so weit, die Machtverhältnisse in Polen unter dem Regime der Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) als antikonstitutionell zu beschreiben (2019). Ausschlaggebend für die Sorgen um Polens Demokratie sind verschiedene Reformen. Zum einen die Reform der Wahlrechtskommission (Państwowa Komisja Wyborcza), die aus einer unabhängigen Institution mit Kontrollfunktion ein durch die PiS beeinflusstes Machtinstrument machte. Gleichzeitig führte die Reform des Obersten Gerichtes dazu, dass die PiS jede Phase, die ein Gesetz im Gesetzgebungsprozess durchläuft, beeinflusst. Die jüngste Auseinandersetzung zwischen der polnischen Regierung und dem Europäischen Gerichtshof über den Vorrang von EU-Recht über nationales Recht ist ein Beispiel für die Schwierigkeit, Vertragsverletzungen anzugehen. Auch außerhalb des Rechtsspektrums öffnen sich zwischen Polen und den EU-Institutionen weitere Klüfte. Das Narrativ der PiS stellt auf die eine Seite die Partei bzw. Kaczyński als Bringer von Gerechtigkeit und christlichen Werten und auf die andere ihre Gegner: die von westlichen Politiker*innen kontrollierten NGO’s, die die die Souveränität des Volkes gefährden und geflüchtete Menschen, die von europäischen Politker*innen angeleitet werden und die polnische Bevölkerung bedrohen (Sadurski, 2019:21). Gegenüber den Feindbildern der liberalen Elite proklamiert sich die PiS als einzig legitime Vertretung des Wahlvolkes, das zur wahren Demokratie zurückgeführt werden muss. Nur wie wahrhaftig ist die Macht des Demos unter der PiS?

Die Qualität einer Wahl misst sich an ihrer Bedeutung und ihrem fairen und freien Charakter. Die Bedeutung der letzten Präsidentschaftswahl könnte man wohl anhand dessen in Frage stellen, dass ein Präsident gewählt wurde, der den Spitznamen Dlugopis – der Kugelschreiber der PiS trägt. Spätestens die Reform der Wahlrechtskommission aber zeigt, dass die wahre Demokratie unter der PiS wenig mit fairen und freien Wahlen zu tun hat. Die OSZE hat zudem bereits in der letzten Präsidentschaftswahl 2020 die parteiische Berichterstattung staatlicher Medien kritisiert (ODIHR, 2020). Auch für kommende Wahlen sind faire und freie Maßstäbe nicht zu erwarten. Trotzdem bleibt die Rettung der Demokratie das Bild, unter dem sich die PiS den polnischen Wähler*innen präsentiert.

Von allen polnischen Baustellen, an denen die EU gerne eingreifen würde, dürfte die Wahl die wichtigste sein. Die Bedeutung von Wahlen wird im Narrativ der PiS selbst zudem besonders hochgehalten. Warum nicht also die freie, faire Wahl zur gemeinsamen Priorität machen? Der Druck der EU muss nicht liberalisierender Natur sein, um Polen in die demokratische Bahn zu lenken. Gleichwohl für den liberalen Charakter wichtig, sind nicht alle Policies essenziell für den demokratischen Systemcharakter. Es geht darum, dass die Wahlen als selbstkorrigierendes Moment frei bleiben oder wieder werden. Wie das Beispiel Polen zeigt, sind es nicht die Einschränkungen von Freiheitsrechten, die die demokratische Systemqualität antasten, sondern primär die systematische capture von Wahlinstitutionen und deren Kontrollorganen. Adam Przeworski definiert die Demokratie in minimaler Weise „simply [as] a system in which incumbents lose elections and leave when they lose. […]” (2019:5). Verletzungen der Bürger- und Freiheitsrechte, der Unabhängigkeit der Judikativen  sind als solche „[…] potential threats to the ability of citizens to remove governments by elections, not […] definitional features of ‘democracy.’“ (ibid.). In ähnlicher Weise könnte auch die EU nicht diese Verletzungen per se bestrafen, sondern höchstens deren Auswirkungen auf die Freiheit des Wahlvorgangs. Denkbar ist dadurch eine Beziehung zwischen der EU und Polen, in der die Freiheit der Wahlen ein Kompromiss zwischen dem liberaldemokratischen Anspruch der EU und dem Wertekanon der PiS darstellt. Aus liberaldemokratischer Perspektive ist das gewiss kein idealer Weg. Immerhin erlaubt eine cäsaristisch anmutende Demokratiegestaltung, dass den Bürger*innen, besonders Minderheiten, zwischen den Wahlen kein Schutz garantiert ist. Der denkbar schlechteren Alternative jedoch, nämlich die komplette Abwendung vom demokratischen System, könnte Polen so vielleicht entgehen. Denn wer weiß: solange die nächste Wahl frei ist, könnte auch die liberale Demokratie wieder zum Volkswillen werden.

Quellen:

Office for Democratic Institutions and Human Rights (23.09.2020): Republic of Poland, Presidential election, 28 June and 12 Juli 2020, ODIHR Special Election Assessment Mission Final Report.

Przeworski, Adam (Hg.) (2019): Crises of democracy. Cambridge: Cambridge University Press.

Sadurski, Wojciech (2019): Poland’s constitutional breakdown. First edition. Oxford, New York NY: Oxford University Press (Oxford comparative constitutionalism).