Obs edler im Gemüt …?* Der Widerstand des 20. Juli 1944

Deutsch · 20 Juli 2021

  1. Eine Sternstunde 

1927 veröffentlichte Stefan Zweig erstmals eine Sammlung historischer Miniaturen unter dem Titel Sternstunden der Menschheit. In diesen Sternstunden gilt es, das Schicksal beim Schopfe zu packen. Stefan Zweig kennzeichnet sie wie folgt: „Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte.“

Würde die historische Zeit der Analysen Stefan Zweigs nicht nach dem Ersten Weltkrieg enden, der 20. Juli 1944 wäre aufgenommen worden – als Datum einer Sternstunde der Menschheit, eines Möglichkeitsmoments menschheitlicher Tragweite. Am 20. Juli 1944 versuchten Offiziere der Wehrmacht, Hitler während einer militärischen Lagebesprechung durch eine Bombe zu beseitigen. Das Attentat misslang. Hitler überlebte; die am Attentat Beteiligten wurden entweder wenig später vom Nazi-Regime ermordet oder begingen Suizid; das Regime war nicht gestürzt; der Krieg wurde noch fast ein Jahr fortgesetzt. Und dennoch blitzte in der Explosion der Bombe, die Hitler töten sollte, das Licht eines Widerstandes auf, der in gesellschaftlichen Sphären zu Hause war, in denen man ihn nicht erwartet: innerhalb einer – vielfach adligen – militärischen Führungsriege. Die Unterstützer*innen unterhielten Kontakt zum sogenannten Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke. Einige Namen mögen stellvertretend für die 200 Todesopfer stehen, die aus den Reihen der Attentäter*innnen und ihrer Helfer*innen zu beklagen sind: Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Friedrich Olbricht, Henning von Tresckow, Ludwig Beck.

2. Von Fragen und Zweifeln

Wenn wir Heutige am 20. Juli der Widerstandskämpfer*innen gedenken, schwingt in jenem Gedenken immer wieder auch ein fragendes Zweifeln mit. Vielleicht fragen wir: Warum kam es erst 1944 zum Anschlag? Durch welche Verbrechen mussten sich die unmittelbaren Attentäter auszeichnen, damit sie in die Position kamen, an einer Lagebesprechung mit Hitler teilnehmen zu können? Was sollte an die Stelle des Nationalsozialismus treten? – Zahlreiche Arbeiten widmen sich solchen Fragen. Wir können zum Einstieg in die Thematik die Materialien der Stiftung 20. Juli sowie der Bundeszentrale für politische Bildung empfehlen. Eine neue Biografie des Attentäters Stauffenberg von Thomas Karlauf ist 2019 erschienen.

3. Auseinandersetzung im Unterricht

Wie könnten Auseinandersetzungen mit den historischen Ereignissen, die am 20. Juli 1944 kulminierten, im Deutschunterricht aussehen? Eine Möglichkeit wäre, den Weg rückwärts zu gehen, ausgehend vom grundgesetzlich garantierten Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4) hin zum Widerstand der Kämpfer*innen des 20. Juli. Wogegen ist Widerstand gefordert? Wofür setz(t)en sich die Widerständigen ein? An welchen Stellen ist auch heute Widerstand nötig? Die Diskussionen könnten frei oder auch literarisch gebunden stattfinden, der Schulkanon böte beispielsweise: Kleists Michael Kohlhaas oder Antigone (sowohl die des Sophokles als auch die des Anouilh). Johannes Herwigs Jugendroman Bis die Sterne zittern setzt sich mit den Leipziger Meuten auseinander, jugendlichen Widerstandsgruppen. Der Roman bietet vielfältige Anknüpfungspunkte zur Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern und eignet sich für eine Diskussion über Möglichkeiten des Widerstands in der Klassenstufen 9.

Eine andere Möglichkeit könnte den Ausgangspunkt einer Befassung mit dem 20. Juli 1944 in den unterschiedlichen Rezeptionsweisen nehmen: Zeitgenossenschaft, Nachkriegszeit in West wie Ost, wiedervereinigtes Deutschland. So exemplifiziert Walter Kempowski in einem Artikel in der ZEIT vom 8. Juli 2004 facettenreich die Aufnahme des gescheiterten Attentats in der deutschen Bevölkerung von 1944, indem er Einblick in Briefe, Tagebücher und Erinnerungen gewährt. Und die schon erwähnte Stiftung 20. Juli hält ein reiches Archiv an Reden zum Gedenktag bereit, die einer eingehenden Lektüre harren und manches preisgeben können, über Erinnerungsarbeit und Geschichtspolitik vor allem in der Bundesrepublik.

* Liest man den anklingenden Monolog Hamlets nicht in der Schlegel-Übersetzung, stellt sich der Bezug zum hier Verhandelten ohne weiteres her. – Vielleicht auch ein Gedankenanstoß, Überliefertes nicht fraglos hinzunehmen. 

— Frieder Stange