Mascha Kaléko. Bemerkungen zum Geburtstag einer verständlichen Dichterin
Mascha Kaléko wird am 7. Juni 1907 im heutigen Polen, damals Österreich-Ungarn, als Kind jüdischer Eltern geboren. 1975 stirbt sie in der Schweiz. Für ihr Leben sind, wie für viele Jüdinnen und Juden dieser Zeit, Flucht, Exil, Tod und Verlust, Heimat und Heimatlosigkeit prägende Wirklichkeit. Vieles davon findet sich verarbeitet in ihren Gedichten, manches direkt, anderes nur angedeutet.
In knapper, einfacher Form etwas sagen, das ist ihre Sache. Die Gedichtsammlung, mit der sie 1933 für literarisches Aufsehen sorgt, heißt nicht von ungefähr Das lyrische Stenogrammheft. – Ein ungewöhnlicher Titel. Einer, der fehl am Platz wirkt. Gehen wir ihm wörtlich nach, landen wir bei ‚Stenographie‘. Das Wort setzt es sich aus den griechischen Ausdrücken für ‚eng‘ und ‚ritzen/schreiben‘ zusammen. Anfänglich befremdet, können wir uns nun sagen: Wie passend für die Dichtkunst! Wie natürlich der Transfer aus dem Büro auf das Cover eines Gedichtbändchens!
Es verwundert nicht, wenn Mascha Kalékos Gedichte dieser Schaffensperiode der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden, einer, wenn nicht gar der prägendsten Kunstrichtung der Weimarer Republik. Sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur vollzieht sich eine Hinwendung zur nüchternen Darstellung dessen, was (sichtbar) ist. Beobachtung der sie umgebenden Wirklichkeit ist die Grundvoraussetzung auch für Mascha Kalékos Gedichte, Mitteilung der Beobachtungen ihr Ziel. Mascha Kaléko selbst schreibt in einem Gedicht mit dem Titel Kein Neutöner gewissermaßen das poetische Programm dazu. In der letzten Strophe heißt es dort: Weiß Gott, ich bin ganz unmodern, / Ich schäme mich zuschanden: / Zwar liest man meine Verse gern, / Doch werden sie – verstanden! – Bei diesem, ganz unmodernen Verstehen könnte eine Beschäftigung mit ihren Gedichten im Deutschunterricht ansetzen. Nahezu jede*r findet in ihren Gedichten Greifbares, Situationen, die auch der eigenen Erfahrung entnommen sein könnten, Gedanken, von denen Leser*innen meinen, es seien eigene, für die bisher nur die Worte fehlten. Indem Leser*innen etwas von Mascha Kalékos Gedichten verstehen, lernen sie die Zeit zwischen den Weltkriegen, vor allem die Großstadt der Weimarer Republik und ihre Menschen mit den Augen Mascha Kalékos sehen. So eröffnet sie, gleichberechtigt neben Erich Kästner, Kurt Tucholsky und anderen, meist männlichen Autoren, neue Blickfelder auf eine Zeit und ihre Gesellschaft, die uns bis heute zu denken geben sollte.
Auch wenn Mascha Kalékos Gedichte schon allein genug Gelegenheiten des Nachdenkens und Innehaltens bieten, wagen wir noch einen Blick über den Tellerrand, oder vielmehr: wir wagen zu hören. Dota Kehr, man könnte sie wohl am ehesten als Liedermacherin bezeichnen, nimmt sich einiger der Gedichte Mascha Kalékos an und vertont sie. Herausgekommen ist dabei ein 2020 veröffentlichtes Album mit dem schlichten Titel Mascha Kaléko. Großstadtlyrik: karg, analytisch – und dennoch lyrisch-musikalisch.
Wenn Hörer*innen Mascha Kalékos Gedichte lesen, wenn Leser*innen Dota Kehrs Lieder hören – dann findet Aneignung von Lyrik geradezu in ursprünglicher Form statt. Dota Kehr tritt den Beweis an, dass Mascha Kaléko in ihren Gedichten lebt, dass ihre Gedichte bis heute berühren, dass ihre Gedichte nicht zeitlos sind, sondern gerade heute an der Zeit sind.
–Frieder Stange