Kinderliteratur und Shoah – aus Anlass des 78. Jahrestags des Aufstands im Warschauer Ghetto
Es gibt Gedenktage, die in Deutschland kaum jemand kennt. Der Gedenktag an den Aufstand im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 begann, ist vermutlich solch einer. Wenn die Geschichte des Warschauer Ghettos heutzutage und hierzulande ins Bewusstsein tritt, dann wohl meist im Zusammenhang mit dem ikonisch gewordenen Kniefall Willy Brandts im Dezember 1970.
Erinnerungen an die Shoah sind selten Erinnerungen an jüdischen Widerstand. Dass es ihn gab, beweisen unter anderen die Ereignisse zwischen April und Mai 1943 im Ghetto der Stadt Warschau. 27 Tage leisteten bewaffnete jüdische Untergrundkämpfer*innen erbitterten Widerstand gegen die Deportation der zu diesem Zeitpunkt wohl 70.000 Insassen des Ghettos in die Arbeits- und Vernichtungslager im Osten. Auch wenn der Aufstand nach einem Monat niedergeschlagen und das Ghetto dem Erdboden gleichgemacht wurde, nahezu alle Beteiligten und Bewohner*innen des Ghettos unmittelbar ermordet oder deportiert wurden, macht er Hoffnung, weil er zeigt, wozu Mut und Solidarität Menschen befähigen können.
Wie kann man Schülerinnen und Schülern die Annäherung und die Auseinandersetzung mit diesem Thema ermöglichen? Lit4School meint naheliegender Weise: Indem Kinder über und von dieser Zeit lesen! Zwei Kinder- bzw. Jugendbücher stehen hier für viele andere. Das eine erschien 2015 und heißt Flügel aus Papier; das andere heißt Die toten Engel und ist einige Jahrzehnte älter, es erschien 1963.
Zuerst zu dem Buch für die Jüngeren. Der Held und Ich-Erzähler in Marcin Szczygielskis Flügel aus Papier heißt Rafal, er wohnt bei seinem Großvater; dass sie im Ghetto leben, erschließt sich Leser*innen nur, wenn sie historische Vorkenntnisse mitbringen, der Erzähler erzählt nur, was er weiß, und sein Horizont ist der eines Kindes im Grundschulalter. Selbst schlimmste Ereignisse wie die Deportation seiner Eltern erfasst er nicht, aber seine Unwissenheit lässt ihn leben. Er glaubt seine Eltern auf einer Reise, für ihn geht das Leben weiter und er kann feststellen: Das ist also kein Grund zu Traurigkeit, sondern zur Freude. Da aber auch Rafal merkt, wie schrecklich seine Umgebung ist, entflieht er der Wirklichkeit, indem er auf den Flügeln aus Papier immer wieder in eine bessere Welt, eine zukünftige, schwebt. Wer glaubt ihm also nicht, wenn er sagt: Die Bibliothek ist mein Lieblingsort im ganzen Bezirk? – Ein aktueller Eintrag zu diesem Kinderbuch bei Lit4School ist in Arbeit!
Die toten Engel von Winfried Bruckner konfrontiert im Gegensatz dazu die Leser*innen sofort mit der harten Wirklichkeit. Friedhofsnachschub, so werden die neu im Ghetto Ankommenden genannt. Schwach, ausgehungert, krank, schleppen sie sich ins überfüllte Warschauer Ghetto. Erzählt wird von Menschen, die trotz der Grausamkeiten ihrer Umgebung ihre Menschlichkeit nicht verlieren: Eine Kinderbande um den Anführer Lolek schmuggelt Essen über die Mauer des Ghettos, verliert sich aber auch in den Geschichten eines Mädchens namens Wanda; Doktor Lersek hilft unbeirrt den Schwächsten und versucht, eine Typhusisolierstation einzurichten; schließlich bildet der bewaffnete Widerstand einen letzten Ausweg.
Beide Romane erzählen nicht Wirkliches, sondern Mögliches. Es sind fiktionale Texte, aber solche, die auf eine konkrete historische Situation Bezug nehmen: auf die Geschichte des Warschauer Ghettos. Eine Beschäftigung mit diesen Büchern ist also eine besondere Form der Auseinandersetzung mit Geschichte. Lehrer*innen, die sich mit der Geschichte des Aufstandes und des Warschauer Ghettos näherhin in historischer Perspektive beschäftigen wollen, sei das frei verfügbare Bulletin des Fritz-Bauer-Instituts zum 70. Jahrestag des Warschauer Gettoaufstands ans Herz gelegt.
— Frieder Stange und Anne Seeger