7. April: Gedenktag an den Ruanda-Genozid
Zwischen dem 6./7. April und Anfang Juli 1994 wurden in Ruanda schätzungsweise 1,1 Millionen Menschen ermordet, 100 Tage lang jeden Tag mehr als 10.000. Die genauen Fakten des Ruanda-Genozids sind in Deutschland wenig bekannt; eine genaue Beschäftigung im Schulunterricht lohnt auch deshalb, weil die Vorgeschichte, Planung und Durchführung ein Lehrstück über Völkermorde im 20. Jahrhundert sind. Zudem liegen literarische und filmische Verarbeitungen in deutscher und englischer Sprache vor, die im Unterricht behandelt werden können.
Zunächst die Fakten: Ruanda ist ein kleines Land im gebirgigen Osten Afrikas mit rund 13 Millionen Einwohnern und damit der höchsten Bevölkerungsdichte Afrikas. 90 Prozent der Menschen leben auf dem Land und arbeiten in der Landwirtschaft, die zumeist Subsistenzwirtschaft ist. Wie fast alle Länder Afrikas war auch Ruanda europäische Kolonie: bis zum Ersten Weltkrieg von Deutschland, dann von Belgien. Die Kolonialherren etablierten eine ethnische Differenzierung, sie machten Angehörige der vor allem in der Viehwirtschaft tätigen Bevölkerungsminderheit der Tutsi zur Oberschicht, bevorteilten sie gegenüber der vor allem im Ackerbau tätigen Bevölkerungsmehrheit der Hutu. Im Zuge einer Bevölkerungszählung ließ Belgien die ethnische Zugehörigkeit in den Pass eintragen: Aus einer vormals sozialen Hierarchie zwischen wohlhabenderen Viehbauern und ärmeren Ackerbauern war eine, sogar bürokratisch fixierte, ethnische, rassische geworden. Zu Beginn der 1960er Jahre erlangte Ruanda, wie zahlreiche andere afrikanische Staaten auch, seine Unabhängigkeit. In der Folge kam es zum Aufbau einer Mehrheitsherrschaft der Hutu und zu ersten größeren Massakern an Angehörigen der Bevölkerungsgruppe der Tutsi.
Wir überspringen 30 Jahre, die von relativer Sicherheit und einem wirtschaftlichen und demographischen Aufschwung geprägt waren, und befinden uns nun am Anfang der 1990er – das Ende des Kalten Krieges geht auch Ruanda nicht unbemerkt vorüber. Demokratisierungsbemühungen, unterstützt vor allem von europäischen Staaten, scheinen die Machtposition des Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana und seiner Anhänger zu schwächen, sodass diese zu einer brutalen Durchsetzung identitätspolitischer Anliegen greifen. Die rassistischen Gräben zwischen Hutu und Tutsi werden gezielt reaktiviert, breite Schichten der Bevölkerung machen sie sich zunutze: die Bauern aus Landknappheit, die Jugend in den Städten aus Perspektivlosigkeit – die Elite aus dem Willen zur Macht(erhaltung). Damit diese Vorteilsperspektiven zum Tragen kommen, es zur Enthemmung der Gewalt kommt, muss etwas mit den Menschen geschehen – und es geschieht. Zunächst wird der öffentliche Diskurs verändert, werden die Grenzen des Denk- und Sagbaren immer weiter verschoben, Stereotypen der Diffamierung der Tutsi in Öffentlichkeit und Medien stetig wiederholt, gesteigert und radikalisiert. In Ruanda ist dafür zu Beginn der 1990er Jahre das Radio Medium Nummer eins. Und indem die radikalsten rassistischen Meinungen, schließlich gar die Aufforderungen und Aufrufe zum Mord aus dem Radio kommen, aus dem bisher hauptsächlich staatstragende Mittteilungen tönten, sind sie gewissermaßen staatlich legitimiert, ist den Tätern letztlich Straffreiheit zugesichert: „In der agrarischen Gesellschaft war das Wort aus dem Äther die Wahrheit.“ (Lennart Laberenz)
Als am 6. April 1994 das Flugzeug des Präsidenten abgeschossen wird – die Verantwortlichen sind bis heute nicht ermittelt –, ist dies das Signal für den Beginn des Schreckens. Das Militär verteilt Granaten, junge Hutu-Männer bewaffnen sich mit Macheten, die zuvor gezielt aus China importiert wurden. Und immer sind die Stimmen der Moderator*innen aus dem Radio zu hören, die berichten, wo sich Tutsi versammelt haben – vielfach in Kirchen, auf Sportplätzen, in der Hoffnung, die Masse werde ihnen Schutz bieten –, aufrufen zum Mord, und dann wieder die Hits der 90er spielen. Rund 100 Tage lang ist die Gewalt Alltag, vor allem jugendliche männliche Hutu morden, brennen und vergewaltigen. In einem Interview berichtet ein Täter Jahre danach: „Wir haben die Tutsi nicht mehr als Menschen, nicht einmal mehr als Geschöpfe Gottes betrachtet.“
Hier endet der Versuch einer Annäherung an die Fakten. Das, was danach geschah und immer noch geschieht: Flucht, juristische Aufarbeitung, neue Gewalt, Krieg, erfordert, um annähernd sinnvoll und geordnet dargestellt werden zu können, weiteres Studium. Wir empfehlen interessierten Lehrkräften insbesondere das Kapitel „Rwanda’s Bones“ von Sarah Guyer in dem Band The Future of Memory.
Wie kann man sich dem schwierigen Thema Ruanda im Deutsch- oder Englischunterricht nähern? Wir empfehlen für den Deutschunterricht zwei literarische Texte von Autoren aus dem deutschsprachigen Raum, zwei Schweizern: Lukas Bärfuss und Milo Rau. Lukas Bärfuss erzählt in seinem Roman Hundert Tage eine Liebesgeschichte zwischen einem Schweizer Entwicklungshelfer und einer Hutu-Frau und fragt nach der tragischen Rolle der Entwicklungshilfe, danach, ob Ordnung nicht nur die Bedingung von Frieden, sondern zugleich auch Bedingung eines solchen Massenmords sei. Milo Rau thematisiert mit seinem Theaterprojekt Hate Radio die Rolle des Radios als Propagandawerkzeug. Er bringt den Sender RTLM auf die Bühne und stellt dort eine mögliche Sendestunde aus 1000 Stunden realem Sendematerial zusammen. Für den Englischunterricht eignet sich auch der Film Hotel Rwanda über den Hotelbesitzer Paul Rusesabagina (gespielt von Don Cheadle), der über 1200 Menschen vor den Mördern versteckte – ein ruandischer Oskar Schindler. Das ursprünglich französische Graphic Novel Deogratias liegt in englischer Übersetzung und mit einer Einleitung vor, es erzählt aus der Perspektive des Jungen Deogratias, der als Kindersoldat am Genozid mitwirkte, von den Traumata Ruandas nach dem Genozid.
— Frieder Stange