3. Die Sprachwissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert |
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3.1 Der Positivismus
Heeschen, Claus (1972): Grundfragen der Linguistik (= Urban-Taschenbücher 156). Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz: Kohlhammer.
- Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts war weitgehend identisch mit
der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft
- Ende des 18. Jahrhunderts William Jones (1746-1794) Beschäftigung
mit dem Sanskrit
- Friedrich Schlegel (1808): Über die Sprache und Weisheit der
Inder
- Ab 1815 Indogermanistik
Wichtige Namen und Werke
(1816) |
Franz Bopp |
Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung
mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen
Sprache |
(1818) |
Rasmus Kristian Rask |
Untersuchungen zum Ursprung der altnordischen oder isländischen
Sprache |
(1822) |
Jacob Grimm |
Deutsche Grammatik |
(1833 ff.) |
Franz Bopp |
Vergleichende Grammatik des Sanskrits, Zend, Armenischen,
Griechsichen, Lateinischen, Litavischen, Altslavischen, Gotischen
und Deutschen |
(1833 - 36) |
August Friedrich Pott |
Etymologische Forschungen auf dem Gebiet der indogermanischen
Sprachen mit besonderem Bezug auf die Lautumwandlung im Sanskrit,
Griechischen, Lateinischen, Litthauischen und Gothischen |
(1861-62) |
August Schleicher |
Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen
Sprachen |
(1863) |
August Schleicher |
Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft |
(1868) |
Wilhelm Scherer |
Zur Geschichte der deutschen Sprache |
(1876) |
August Leskien |
Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen |
Mit den indoeuropäischen Sprachen beschäftigten sich auch
die Junggrammatiker
- seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts
- studierten fast alle in Leibzig
- ihr Lehrer war Wilhelm Scherer
- Mitte der siebziger Jahre polemische Manifeste
- Junggrammatiker geprägt von angegriffenen älteren
Sprachwissenschaftlern
- Gruppe machte sich Bezeichnung als positive Bezeichnung zu eigen
- Um 1876 junggrammatische Gruppe besteht "offiziell"
- Karl Brugmann
- Hermann Osthoff
- Berthold Delbrück
- Hermann Paul
- Wilhelm Streitberg
- Ferdinand de Saussure
- Antoine Meillet
- Wilhelm Meyer-Lübke
- Graziadio Isaia Ascoli
- Pietro Merlo.
3.1.1. Der Gegenstand der Sprachwissenschaft
- es geht um die Durchsetzung der strengen Normen von Wissenschaftlichkeit
der exakten positiven Naturwissenschaften
- sie wollten mit den metaphysischen Vorstellungen von der Sprache und der Sprachentwicklung aufräumen
metaphysische Vorstellungen:
- Sprache als lebender Organismus
- Übertragung der Darwinschen Lehren auf die Sprache durch August
Schleicher (1865): Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft
- Organismus führt von den Sprechenden losgelöst sein eigenes
Leben
- biologistische Metaphorik bei der Beschreibung von Sprachen (Geburt,
Jugend. Reife, Alter, Familien)
- Entwicklung des Stammbaummodells
- Lehre Steinthals: "Völkerpsychologie" - Volksgeist
- Das Beobachtbare ist nicht die Sprache selbst , sondern der sprechende
Mensch bzw. dessen konkrete Sprechtätigkeitsakte
Hermann Paul:Principien der Sprachgeschichte von 1880:
Das wahre Objekt für den Sprachforscher sind vielmehr
sämtliche Äußerungen der Sprechtätigkeit an sämtlichen
Individuen in ihrer Wechselwirkung aufeinander. Alle Lautkomplexe, die
irgendein Einzelner je gesprochen, gehört oder vorgestellt hat
mit den damit assoziierten Vorstellungen, deren Symbole sie gewesen
sind, alle die mannigfachen Beziehungen, welche die Sprachelemente in
den Seelen der Einzelnen eingegangen sind, fallen in die Sprachgeschichte,
müßten eigentlich alle bekannt sein, um ein vollständiges
Verständnis der Entwicklung zu ermöglichen. (zitiert nach Heeschen 1972:
13).
zwei Positionen:
es gibt nur Individualsprachen
- Begriffe wie "das Französische", "das Italienische" sind nur
Abstraktionen oder Fiktionen
- Individuen verstehen sich nur aufgrund des Sprachusus
- Usus entsteht dadurch, dass sich die Individuen einer Gemeinschaft
in ständiger Wechselwirkung befinden und unaufhörlich
in konkreten Sprechakten aufeinander einwirken
- dadurch entsteht eine Art gemeinsamer Durchschnitt, ein gewisses
ausreichendes Minimum,d. h. der Usus
- duch der Usus ist nur eine abstrakte Kategorie
- darunter fasst der Sprachwissenschaftler nur die einzelnen individuellen,
sich gleichenden Vorstellungskomplexe zusammen
- die Wechselwirkungen finden nicht zwischen Individuen
statt
- eine Vorstellung muss zunächst mit einem Laut assoziiert
werden, damit das Individuum A auf das Individuum B einwirken kann
- Erregt der von A produzierte Laut bei B die gleiche
oder zumindest eine ausreichend ähnliche Vorstellung, so
kann von einem geglückten Mitteilungsakt gesprochen werden
nur die geschichtliche Betrachtung der Sprache ist wissenschaftlich
- das Ideal wäre, alle Sprechakte aller Individuen einer bestimmten
Gemeinschaft vom geschichtlichen Beginn bis zur Gegenwart lückenlos
aufzuzeichnen
Folge:
- alle möglichen metaphysisch-idealistischen Erklärungsweisen
sprachlicher Tatbestände wurden diskreditiert
- die der Sprache innewohnende biologische Kraft (Schleicher)
- der nationale Volksgeist der Völkerpsychologie
- Sprachlicher Tatbestand wird jetzt erklärt als Produkt eines gesetzmäßigen
Wandels aus einem früheren Tatbestand
- Entwicklung des betonten lateinischen Vokals a
- in freier Silbe zu frz. e - má|rem > mer, ná|sum
> nez
- Erhalt in geschlossener Silbe pár|tem > part
- Konzentration vor allem auf den lautlichen Wandel = direkt beobachtbar
- Junggrammatiker trugen mit akribischer Genauigkeit eine ungeheure
Menge von Daten über die Entwicklung der indoeuropäischen
Sprachen zusammen
- schrieben Bücher erstaunlichen Umfangs, z. B. vierbändige Romanische Grammatik von Wilhelm Meyer-Lübke (1861-1936)
- Sprachwissenschaft hat nie wieder eine solche Explosion von Faktenwissen
erlebt
- vergleichbar nur mit den zwanziger und dreißiger Jahre in Amerika
- massenhafte Erfassung der Indianersprachen
3.1.2. Die Lautgesetze
1876 formulierte August Leskien erstmalig das berühmt-berüchtigt
gewordene Schlagwort von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze.
- es wird festgestellt, dass sich ein Laut x unter bestimmten
Bedingungen zu einer bestimmten Zeit der Sprachgeschichet zum Laut y gewandelt hat,
- es wird postuliert, dass sich dieser Vorgang in allen
Wörtern der betreffenden Sprache zu dieser Zeit vollzogen hat,
wenn diese Bedingungen vorlagen
- die lautlichen Vorgänge werden als grundsätzlich unabhängig
von Bedeutungen gedacht.
Beispiele:
der betonte lateinische Vokal a entwickelt sich in freier Silbe zu frz. e
má|rem > mer
pá|ter > père
ná|sum > nez
der betonte lateinische Vokal a bleibt in geschlossener Silbe erhalten
pár|tem > part
der betonte offene vulgärlateinische Vokal e wird in freier Silbe zu it. ie
pé|de > piede
der betonte offene vulgärlateinische Vokal e bleibt in geschlossener Silbe erhalten
tem|po > tempo
Ausnahmen - Analogie
- Wörter gehen in den Köpfen der einzelnen Sprechenden bestimmte
Assoziationen mit anderen Wörtern ein
- es bilden sich Gruppen von Vorstellungen, die sich wiederum zu ganzen
Organismen von Vorstellungen zusammenfügen können
- Dies geschieht nach festen psychologischen Gesetzen
- Wort / Wortgruppe A, wo Bedingungen C für einen
bestimmten Lautwandel L erfüllt sind
- Wort / Wortgruppe B, in dem Bedingungen C für
einen bestimmten Lautwandel L nicht erfüllt
- A kann mit B assoziiert sein
- hat B mehr Gewicht, kann es passieren, dass der gesetzmäßige
Lautwandel L in A analog zu B nicht stattfindet
- hat A mehr Gewicht, kann sich B analog zu A verhalten, d.h. den Lautwandel von A ebenfalls durchmachen
Beispiel
Entsprechend den Bedingungen des gesetzmäßigen Wandels des betonten lateinischen Vokal a in freier Silbe zu frz. e hatten sich nach Walter von Wartburg (1946 / 101971: 99-100) im Altfranzösischen innerhalb des gleichen Verbparadigmas unterschiedliche Formen herausgebildet:
lavá|re > laver
lá|vat > leve
bei anderen Verben hat sich dagegen entsprechend den Bedingungen des gesetzmäßigen Wandels des betonten lateinischen Vokal a in freier Silbe zu frz. e und des Erhalts des betonten lateinischen Vokals a in geschlossener Silbe nur eine Form herausgebildet:
cantá|re > canter
cán|tat > cante
da es eine starke Tendenz zu einheitlichen Formen gibt, stellt sich nun die Frage, in welche Richtung angeglichen wird, nach leve oder nach laver, lavons, lavais etc. Dabei kommen die Assoziationen ins Spiel:
|
← b → |
|
↕
|
|
action (laver) |
|
action (laver) |
|
↕ |
a |
| |
|
| |
a |
|
il (3e pers.) |
|
nous (1er pers. plur.) |
|
Nach von Wartburg gibt es hier zwei Beziehungen.
Die erste Beziehung ist die zwischen der Aktion und dem Individuum, das die Aktion ausführt (a).
Die zweite Beziehung ist die zwischen mehreren Aktionen, die von verschiedenen Individuen ausgeführt werden (b).
Wenn die Assoziation a im Kopf des Individuums dominiert, dann wird leve beibehalten.
Dominiert die Assoziation b, dann wirken die Formen leve und lavons aufeinander.
Da die Formen laver, lavons, lavais zahlreicher sind, werden sie sozusagen gewinnen und leve wird zu lave.
3.1.3. Die vier wesentlichen Prinzipien der positivistischen Ideologie
1. Atomismus, d. h. der Positivismus kümmert sich um die
individuellen Fakten
- Italienische, Französische und Spanische haben beide die Lauttypen offenes o - geschlossenes o und offenes e und geschlossenes e
- diese Lauttypen haben in den drei Sprachen aber unterschiedliche
Funktionen
- Spanisch offenes und geschlossenes o bzw. offenes
und geschlossenes e sind jeweils Varianten ein und derselben Einheit
- im Französischen und Italienisch sind es zwei Einheiten:
botté (beschuht) – beauté (Schönheit), thé (Tee) – taie, il tait (schweigen)
volto (volgere) - volto (Gesicht),
pesca (Pfirsich) - pesca (Fischerei)
- um diese Funktionsunterschiede kümmert sich der Positivismus
nicht
- Die sprachlichen Fakten werden durch Verallgemeinerung und Abstraktion
aufgrund der Fakten der Rede festgestellt;
2. Substantialismus, d. h. für den Positivismus ist die
Substanz, der Stoff der Einheiten wichtig, z. B. verschiedene Züge
der Artikulation, stimmhaft - stimmlos etc. (vgl. z. B. die artikulatorische Phonetik);
3. Evolutionismus, d.h. der Positivismus betrachtet das Werden
der Fakten im Sinne der natürlichen Entwicklung
- nicht die Funktion in der Sprache wird beschrieben
- beschrieben wird v. a. der Sprachwandel
- Funktionieren wird historisch gedeutet, z.B. ho fatto hat die Bedeutung, die es hat, weil factum habeo im Lateinischen
auch diese Bedeutung hat;
4. Naturalismus, d. h. der Positivismus reduziert die Wissenschaft
auf die Naturwissenschaft und die Gegenstände auf Naturgegenstände
- Naturwissenschaften beruhen auf der Beobachtung der Fakten
- Sprachwissenschaft muss auch auf Beobachtung der Fakten beruhen
- Naturwissenschaften kennen Gesetze
- Sprachwissenschaft braucht das Lautgesetz
- Ursachen für den Sprachwandel: Klima, Rasse, Völkermischung.
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3.2 Der Strukturalismus
Das rigide Programm der Junggrammatiker konnte sich nicht
lange halten:
- Ergebnisse der Dialektforschung und Dialekgeographie
erschütterten Glauben an Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze
- von der Jahrhundertwende an kamen zahlreiche neoidealistische
Strömungen auf
- Einbettung der sprachwissenschaftlichen Fragen
in ästhetische oder kultursoziologische Fragen
- Fortschritt wird rückgängig gemacht
- zwischen die wissenschaftliche Beobachtung und
die sprachlichen Daten schieben sich erneut metaphysische Vorurteile
- Sprache als Ausfluss und Anzeiche von "Nationalkulturen",
"Volksgeister" u.ä.
Strukturalismus
- entstand fast gleichzeitig in mehreren Ländern,
- oft nur schwacher Zusammenhang unter einzelnen Vertretern
- Ferdinand de Saussure
- brachte den strukturellen Gesichtspunkt in die Sprachwissenschaft ein
- überwand Junggrammatiker
auf ihrem eigenen Boden und aus ihrem eigenen Ansatz heraus
- insgesamt eine rationalistische Reaktion auf den empirisch ausgerichteten Positivismus
Ferdinand de Saussure
- viele der bei Saussure erscheinenden Ideen waren schon
lange im Umlauf
- er hat aber als erster eine umfassende Theorie der allgemeinen Sprachwissenschaft erarbeitet und formuliert
- wissenschaftliche Ausbildung in den siebziger Jahren
des 19. Jahrhunderts in Leipzig
- In den Jahren 1906/07, 1908/09 und 1910/11 hielt er
an der Genfer Universität Kurse über Fragen der "linguistique
générale"
- 1916 der von Charles Bally und A. Sèchehaye
unter Mitwirkung von A. Riedlinger aus Vorlesungen zusammengestellte
"Cours de linguistique générale"
3.2.1 Der Gegenstand der Sprachwissenschaft
Saussure:
- die Sprachwissenschaft hat sich bisher nicht genügend
um die Definition ihres Objekts und um die Fundierung ihres eigenen
Tuns gekümmert
- die Sprachwissenschaft hat Sprachen beschrieben,
ohne zu wissen, was Sprache ist
- nicht sämliche Äußerungen der Sprechtätiggkeit
von sämtlichen Individuen sind Gegenstand der Sprachwissenschaft
- ein Gesichtspunkt muss gefunden werden, von dem aus
Ordnung in den "wirren Haufen" der Äußerungen gebracht wird
"l'objet de la linguistique nous apparaît
un amas confus de choses hétéroclites sans lien entre
elles." (Saussure 1916 / 1978: 24).
um einen solchen Gesichtspunkt zu finden
- führt den Begriff langue ein und stellt
ihn in Opposition zu parole
- Sprache ist nicht mehr ein bloßer Begriff, sondern
eine Sache
- dreht Verhältnis zwischen Sprache und Sprechakten um
- Sprache resultiert nicht aus dem Sprechen, sondern
sie ist die Voraussetzung des Sprechens
- ohne das Vorhandensein eines Regelsystems ist kein
Sprechen möglich
- eine Sprache kann auch existieren, wenn sie nie verwirklicht
wird
- Sprache ist virtuell und potentiell - Rede ist real und materiell
3.2.2 Die Sprache als soziale Institution
Sprache ist eine soziale Institution
- Sprache existiert außerhalb und unabhängig
von den Individuen einer Gemeinschaft
- von der Institution 'Sprache' geht ein Zwang auf die
Individuen aus
- die Individuen können nicht frei Sprachsysteme
bilden, sondern müssen das System internalisieren
- die Abdrücke des Sozialen in den vielen Individuen
sind jeweils identisch, d. h. sie sind eine Kopie der sozialen Institution
Sprache
"système grammatical existant virtuellement
dans chaque cerveau" (Saussure 1916 / 1978: 30)
- Sprachwissenschaft wird dadurch entpsychologisiert
- Sprachwissenschaft wird Sprachpsychologie übergeordnet
Sprachwissenschaft untersucht jenseits allen Psychischen
das Soziale
Sprachpsychologie untersucht per definitionem die psychischen Prozesse und Voraussetzungen des sprechenden Menschen
langue = Voraussetzung für den sprechenden
Menschen
Sprachwissenschaft = Voraussetzung der Sprachpsychologie
- Unabhängigkeit der langue vom sozialen
Leben der Gemeinschaft > Autonomie der Sprachwissenschaft gegenüber
den anderen Sozialwissenschaften
3.2.3 Das System
Sprache = ein System von Zeichen
- Zeichen können nur aus ihrem eigenen System heraus
bestimmt werden
- Zeichen sind arbiträr
- zwischen dem image acoustique oder signifiant und dem concept oder signifié besteht keine motivierte
Beziehung
- Stellung der Zeichen im System beruht allein auf oppositionalen
Relationen
signifiant Tisch - signifiant Fisch
signifié rot - signifié grün
- Einheiten sind etwas, was die anderen Einheiten nicht
sind
- Einheiten sind sprachspezifisch
syntagmatisch - paradigmatisch
- syntagmatische Achse - Aneinanderreihung mehrerer
sprachlicher Elemente
- paradigmatische Achse - Elemente , die an der gleichen
Stelle in einem Syntagma erscheinen könnten
- Klassifikationen können vorgenommen werden
- die relational verbundenen Elemente müssen aber
gleichzeitig, also synchronisch vorhanden sein
- Sprache muss als Zustand betrachtet werden
synchronische Betrachtung der Sprache wird als eigene
Wissenschaft von der diachronischen Sprachbetrachtung abgegrenzt
3.2.4 Die Daten
Sprachsystem ist keine theoretische Konstruktion,
die aus den Sprachdaten abstrahiert wird
das System existiert, wenn auch immateriell, über
den Daten, als Voraussetzung für die Daten
die Sprachwissenschaft braucht sich also bei ihrer
Beschreibung der langue nicht auf streng empirische Untersuchungen
von Fakten des Sprachverhaltens stützen
die langue selbst ist aber nicht beobachtbar
langue regelt eigentlich nur den grammatischen
Bau, die grammatische Struktur von Äußerungen in der parole
sagt nichts über die sprachliche Substanz aus
Coseriu wird später versuchen, dieses Problem mit dem Einbringen der historisch gewachsenen sozialen Norm zu beheben, die man aus den sprachlichen Fakten abstrahiert und die viel mehr als das System den Sprachgebrauch bestimmt.
Diese Norm legt z. B. fest, dass das e in seno bzw. blé geschlossen, in bello bzw. bref aber offen realisiert wird, obwohl es in diesen Fällen keine Opposition wie bei den folgenden Minimalparen gibt:
botté (beschuht) – beauté (Schönheit)
thé (Tee) – taie, il tait (schweigen)
volto (volgere) – volto (Gesicht)
pesca (Pfirsich)- pesca (Fischerei).
3.2.5 Die These 22
Geburtsstunde des Strukturalismus = 1928
Roman Jakobson (Prag), N. S. Trubetzkoj (Wien) und S.
Karcevskij (Genf) haben die These 22 auf dem 1. Internationalen Linguistenkongress
in den Haag veröffentlicht.
Die These lautet:
Toute description scientifique de la phonologie d'une
langue doit avant tout comprendre la caractéristique de son système
phonologique, c.-à-d. la caractéristique du répertoire,
propre à cette langue, des différences significatives
entre les images acousticomotrices.
Une spécification plus détaillée
des types de ces différences est très désirable.
Il est surtout utile d'envisager comme une classe à part de différences
significatives les corrélations phonologiques. Une corrélation
phonologique est constituée par une série d'oppositions
binaires définies par un principe commun qui peut être
pensé indépendamment de chaque couple de termes opposés.
La phonologie comparée a à formuler les
lois générales qui régissent les rapports des corrélations
dans les cadres d'un système phonologique donné.
L'antinomie de la phonologie synchronique et de la
phonétique diachronique se trouverait être supprimés
du moment que les changements phonétiques seraient considérés
en fonction du système phonologique qui les subit. Le problème
du but dans lequel ces changements ont lieu doit être posé.
La phonétique historique se transforme ainsi en une histoire
de l'évolution d'un système phonologique.
D'autre part, le problème du finalisme des phénomènes
phonétiques fait, que dans l'étude du côté
extérieur de ces phénomènes, c'est l'analyse acoustique
qui doit ressortir au premier plan. ((1929): Actes du Premier Congrès
International de Linguistes, à La Haye, du 10-15 Avrile 1928.
Leiden 33; (zit. nach
Coseriu 1969: 8-9).
3.2.6 Die vier wesentlichen Prinzipien des Strukturalismus
Relationismus
- das einzelne Faktum ist nicht wichtig
- wichtig ist die Relation der Fakten untereinander
- es geht um das Struktur- oder Gestaltungsprinzip
- Fakten werden durch Oppositionen innerhalb eines
Sprachsystems festgestellt:
offenes e und o / geschlossenes e und o
- im Spanischen Varianten
- im Französischen und Italienischen stehen sie in funktioneller
Opposition
botté (beschuht) – beauté (Schönheit)
thé (Tee) – taie, il tait (schweigen)
volto (volgere) – volto (Gesicht)
pesca (Pfirsich)- pesca (Fischerei)
- uvulares und alveolares /r/ im Italienischen sind (regionale) Varianten (mare)
- im Spanischen haben wir dagegen zwei Phoneme /r/ (vgl. perro – pero
- vom System zu den Fakten;
Formalismus oder Funktionalismus
- Einheiten werden nicht durch den Stoff definiert
- Einheiten werden entsprechend ihrer Form oder
Funktion definiert
- Änderung auf der Ausdrucksebene ist nur funktionell,
wenn ihr eine Änderung auf der Inhaltsebene entspricht:
botté (beschuht) – beauté (Schönheit)
volto (volgere) – volto (Gesicht)
pero (aber) / perro (Hund)
- Nicht funktionell ist dagegen, ob e in seno bzw. blé geschlossen oder offen ausgesprochen wird, weil der jeweiligen Aussprache keine Änderung auf der Inhaltsebene (Bedeutung) entspricht. Das gilt ebenso für bello bzw. bref .
Statizismus oder Essentialismus
- es geht um das Wesen der Fakten, nicht um das
Werden
- Synchronie ist wichtiger als Diachronie;
Antinaturalismus
- unterscheidet zwischen Natur und Kultur
- betont Geisteswissenschaften gegenüber den
Naturwissenschaften (cf. Coseriu 1969: 39).
3.2.7 Die strukturalistisch ausgerichteten Schulen
Die strukturalistisch ausgerichteten Schulen sind:
Die Prager Schule (vorher Prager Linguistenkreis)
- hierzu gehören N. S. Trubetzkoj, Roman Jakobson, Villem Mathesius,
B. Trnka, V. Skalicka;
die Kopenhagener Schule - V. Brøndal,
Luis Hjelmslev, P. Diderichsen; (die Glossematik, die nicht mit dieser
Schule zusammenfällt, schließt die Substanz aus ihren Betrachtungen
aus);
die Englische Schule (Kontextualismus) - John Rupert Firth;
die Nordamerikanische Schule, auch Bloomfield-Schule
genannt - Leonard Bloomfield und Edward Sapir sind als ihre Begründer
anzusehen, Zellig Harris, Charles F. Hockett, A. A. Hill, Ch. C. Fries
gehören auch dazu. Diese Schule berücksichtigt die Bedeutung
nicht und widmete sich besonders der Beschreibung
von Indianersprachen.
3.2.8 Zusammenfassung
Coseriu unterscheidet die folgenden Ebenen der Sprache:
- Sprachtyp
- Sprachsystem
- Sprachnorm
- Rede / Text
die strukturelle Sprachbeschreibung betrifft vor allem die Ebene des Systems
- die sogenannten 'funktionellen' Fakten werden behandelt
- Funktion = 'Funktionieren' in bezug auf das Sprachsystem
- strukturelle Beschreibung bleibt oft nur auf die Ebene des Sprachsystems bezogen
die anderen Ebenen werden nicht berücksichtigt
an erster Stelle Methode zur Sprachbeschreibung nicht zur Untersuchung des sprachlichen Wandels
Fortsetzung der
Linguistik der Antike, die sich um eine allgemeine und beschreibende Grammatik bemüht und historische Probleme kaum behandelt,
Fortsetzung der Linguistik des 18. Jahrhunderts (antihistorische Zeit) - Sprachtheorie wird als eine allgemeine und beschreibende Grammatik konzipiert wird (vgl. J. Harris - England, J. R. Meiner - Deutschland, Beauzée, Daumerge, C.Ch. Dumarsais- Frankreich)
Kontrapunkt gegen die Phase der Sprachwissenschaft, die vor allem durch die historisch-vergleichende Methode charakterisiert ist (vgl. die Junggrammatiker).
Die jeweils andere Linie geht aber nie ganz unter, sondern tritt in den Hintergrund (cf. Coseriu 1969: ). |
3.3 Leonard Bloomfield
frühe und natürlich nicht so
genannte Korpuslinguistik ist im Rahmen der Erforschung der Indianersprachen
entstanden
Franz Boas (1858-1942) und Edward Sapir
(1884-1939).
Boas
- Anthropologe
- widmete sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts der
Erfassung der amerikanischen indianischen Kulturen
- öffnete den Blick für die schier unendliche
Variabilität menschlicher Sprache
- zeigte Untauglichkeit des traditionellen grammatischen
Kategoriensystems der indoeuropäischen Sprachwissenschaft für
die Erfassung ganz fremder Sprachen
- synchrone Standpunkt bei der Beschreibung von Sprachen
wird selbstverständlich.
Sapir
- Hauptwerk Language, 1921 in New York
- führt mit pattern-Begriff den systematisch-strukturellen
Aspekt in die amerikanische Linguistik ein
Boas und Sapir sind die großen Anreger
und Vorläufer des klassischen amerikanischen Strukturalismus, der
auch Distributionalismus genannt wird.
Sprachwissenschaftler strebten nach möglichst mechanischen Verfahren der Sprachbeschreibung
vor der total fremden Sprach-
und Kulturwelt versagten die traditionellen Beschreibungs- und Aufnahmetechniken
Leonard Bloomfield
- setzte in seinem Werk Language von 1933 der amerikanischen Linguistik einen sprachtheoretischen Rahmen
- dieser trug der Notwendigkeit
des Mechanismus Rechnung und begründete ihn wissenschaftstheoretisch
.
- studierte einige Zeit in Leipzig und Göttingen
- begegnete dort den junggrammatischen Theorien
- Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze und deren Unabhängigkeit
von der Bedeutung eröffnete die Möglichkeit, Sprachwissenschaft
als strenge erfahrungswissenschaftliche Disziplin zu betreiben
3.3.1. Grundsätze des Behaviorismus
1. Mechanismus - Physikalismus
science shall deal only with events that are
accessible in their time and place to any and all observers (strict behaviorism)
or only with events that are placed in co-ordinates of time and space
(mechanism), or that science shall employ such initial statements and
predictions as lead to definite handling operations (operationalism),
or only terms such as are derivable by rigid definition from a set of
everyday terms concerning physical happenings (physicalism). (Bloomfield
"Linguistic Aspects of Science": 13)
2. Stimulus - Response-Schema
- Jede Aussage muss in den Termen von Reiz und Reaktion
(stimulus - response) gefasst sein.
- Zur kausalen Erklärung ist daher jede Bezugnahme
auf den inneren geistigen oder psychischen Zustand des Organismus unzulässig.
3. Antimentalismus
Jegliche Begriffe, die sich auf den inneren Zustand beziehen
und nicht reduzierbar auf physikalische Gegebenheiten sind, sind als sinnlos
und metaphysisch auszuschließen.
Suppose that Jack and Jill are walking down
a lane. Jill is hungry. She sees an apple in a tree. She makes a noise
with her larynx, tongue, and lips. Jack vaults the fence, climbs the tree,
takes the apple, brings it to Jill, and places it in her hand. Jill eats
the apple. (Bloomfield Language 22).
speech utterance
S > r ...........................................s
> R
3.3.2. Gegenstand der Linguistik
speech utterance d.h. der Abschnitt r.............s
- Linguistik muss diesen Abschnitt als strukturiertes
Etwas beschreiben
- striktes Prinzip der Beobachtbarkeit
- beobachten lassen sich nur
die physikalischen Schallereignisse
- mit linguistischen Schallereignissen
wird aber Bedeutung transportiert
- erst das Studium der Relation
von Bedeutung und Laut kann Linguistik genannt werden
- Bedeutung eines Sprechaktes kann nur in der aktuellen
Situation gesehen werden, die als Reiz diesen Sprechakt bewirkt, und
in der Reaktion, die auf diesen Sprechakt erfolgt
- Linguist müsste praktisch alles wissen, was
auf den jeweiligen Sprecher jemals als Reiz gewirkt und damit seine
Gewohnheiten geformt hat
- da es einen allwissenden Universalwissenschaftler
zur Zeit nicht gibt, ist eine Beschreibung der Bedeutung zunächst
unmöglich.
|
3.4. Der Distributionalismus
Nachfolger Bloomfields radikalisieren seine Doktrin:
- verdrängen die meaning endgültig
und total aus der linguistischen Betrachtung
- stellen das verschärfte Postulat auf, dass die
Analyseprozeduren frei jeder Bezugnahme auf die Bedeutung des analysierten
Materials sein müssen
- allerdings stehen noch Verfahren zur Verfügung,
mit Hilfe derer die Datenmengen systematisiert und geordnet werden können.
- Verfahren sind aber lediglich Hilfsmittel der Deskription
- nicht mehr kann ermittelt werden als das, was in den
Daten selbst enthalten ist
- Ziel der Anwendung der Verfahren ist
to make a compact and quite general statement
about what we have been observing (Harris
1931/71966: 152)
und die Verfahren sind
merely ways of arranging the orginal data (Harris 1931/71966: 3).
Status der linguistischen Elemente
Element kann nur ein Symbol, ein Korrelat zu "behavioral
features" oder zu "sound waves" sein
verschiedene formale Operationen, um sie zu systematisieren
It is therefore more convenient to consider
the elements as purely logical symbols, upon which various operations
of mathematical logic can be performed. At the start of our work we translate
the flow of speech into a combination of these elements, and at the end
we translate the combinations of our final and fundamental elements back
into the flow of speech. All that is required to enable us to do this
is that at the beginning there should be a one-one correspondence between
portions of speech and our initial elements, and that no operations performed
upon the elements should destroy this one-one association. (Harris
1931/71966: 3).
Vorgehen der Distributionalisten
Daten

Menge formaler Verfahren (Klassifikationsverfahren)

Systematische Repräsentation der
Daten (linguistische Deskritption)
3.4.1. Der Gegenstand der Linguistik
- Beobachtbar ist, dass die Einheiten vorkommen (occur)
- Beobachtbar ist, in welcher Umgebung (environment)
sie vorkommen
z. B. ieri + ho + mangiato + una + mela / hier + j’ai + mangé + une + pomme
- konkret stattgefundenes Sprecherreignis = Äußerung
(utterance)
- wird definiert als stretch
of speech zwischen zwei Pausen
- eine Menge protokollierter
Äußerungen einer Sprache heisst Corpus
- Corpus allein ist das Objekt der linguistischen
Analyse
- Menge aller Umgebungen eines Elements heisst Distribution
ho + mangiato + una + mela
ho + mangiato + una + pera
ho + mangiato + una + noce
j’ai + mangé + une + pomme
j’ai + mangé + une + poire
j’ai + mangé + une + noix
- Distribution = Menge aller Vorkommen eines Elementes X bezüglich der es umgebenden Elemente
- Ziel = Klassifikation der im Corpus vorhandenen
Elemente auf der Grundlage ihrer distributionellen Beziehungen.
- GlossaNet - alle online verfügbaren französischen Zeitungen <aller> (bekomme es im Moment nicht zum Funktionieren)

an den Belegstellen interessiert das, was vor bzw. nach den Formen von <aller> erscheint.
Reduzieren wir die Belegstellen auf das uns Interessierende, dann werden bestimmte Regelmäßigkeiten erkennbar.
- in GlossaNet funktioniert die Suche in den online verfügbaren italienischen Zeitungen nicht.
- wir suchen nach andare in Coris.
- Da das Korpus nicht lemmatisiert ist, müssen wir die gesuchten Formen nacheinander eingeben:

an den Belegstellen interessiert das, was vor bzw. nach vado, vai va, andiamo, andate, vanno erscheint.
Reduzieren wir auch hier wieder die Belegstellen auf das uns Interessierende, dann werden bestimmte Regelmäßigkeiten erkennbar.
3.4.2. Die Verfahren
Verfahren zur Zerlegung der Äußerungen in
kleinste Einheiten:
- strikt physikalische geht etwa Bloch (1948) vor,
der die Segmentgrenzen aufgrund artikulatorischer Gegebenheiten festzusetzen
versucht;
- Pike (1954-1960, 1964) geht behavioral vor und nimmt
an, dass zwar eine sprachliche Äußerung kontinual ist, die
Sprechenden aber darauf reagieren, als ob sie in diskrete Segmente zerlegt
seien. Die experimentell ermittelten Reaktionen der Sprechenden gäben
damit die Grundlage für die linguistische Segmentierung ab; die
Segmente im Pikeschen Sinne sind also Verhaltenseinheiten;
- Harris wiederum schlägt vor, die Anfangssegmentierung
zunächst einmal willkürlich vorzunehmen und dann zu prüfen,
ob diese Segmentierung zu den einfachst möglichen Aussagen über
distributionelle Verhältnisse führt; falls nicht, müsste
die Segmentierung verändert und verbessert werden.
Mit der Segmentierung der Äußerung wissen
wir aber noch nicht ob in
a1 b c (r+o+ss+o) (r = uvular)
d a2 f (a+r+t+e) (r = alveolar)
a1 und a2 auch wirklich gleiche Segmente sind
normalerweise wird ein/e native speaker befragt:
a1 (r = uvular) und a2 (r = alveolar) werden gegeneinander substituiert
Reagiert der/die native speaker auf
a2 b c (r+o+ss+o) (r = alveolar)
genauso wie auf
a1 b c (r+o+ss+o) (r = uvular)
und auf
d a1 f a+r+t+e) (r = uvular)
genauso wie auf
d a2 f a+r+t+e) (r = alveolar)
dann gelten a1 und a2 als biosozial äquivalent
a1 und a2 müssen aber gewisse physikalische Eigenschaften (Reibung) gemeinsam haben,
durch die sie sich von anderen Segmentklassen unterscheiden.
Stücke können so zu Äquivalenzklassen
zusammengefasst werden > phonetische Elemente
Äußerung = Kombination von diskreten, sich
wiederholenden Elementen
Der zweite Schritt = Feststellung der Distribution der
phonetischen Elemente:
- freie Variation, d. h. x und y haben genau gleiche Distributionen
(vgl. das deutsche Rachen- und Zungen-r);
- x und y haben nur partiell gleiche Distribution (vgl. im Deutschen kommen t und f beide
in der Umgebung -isch (dramatisch,
höfisch) vor, dagegen kommt nur t in der Umgebung -ante (Tante) vor,
nicht aber f;
- komplementäre Distribution liegt dann vor, wenn x und y keine Umgebung gemeinsam haben (vgl. ich- und ach-Laut im Deutschen: ç kommt nur nach hellen, x nur nach
dunklen Vokalen vor).
Nächster Schritt = Klassifizierung auf der Grundlage
der distributionellen Verhältnisse
Elemente, die zueinander in freier Variation oder komplementärer
Distribution stehen = Mitglieder einer Klasse
- phonetische Elemente (z. B. r im Deutschen / ch-Laut) heissen Phoneme
- alle Mitglieder solcher Klassen (z. B. das deutsche Zungen- und Rachen –r / ç und x) heissen Allophone
- Phonem = Klasse von Ereignissen
- definiert ohne Bezug auf die
Bedeutung
Morpheme werden aus Phonemen gebildet
- definiert nicht über die
Bedeutung
- Betimmung über distributionelle
Verhältnisse
- morphologische Elemente, die zueinander in freier
Variation oder komplementärer Distribution stehen = Mitglieder
einer Klasse
- sie heißen Morpheme
- alle Mitglieder solcher Klassen heissen Allomorphe
- -er und -en im Deutschen stehen in
komplementärer Distribution
- Männer - Frauen
- können in die Klasse Pluralmorpheme eingehen
- können als Allomorphe des Morphems
Plural gelten
- Klassen von Morphemen
- Umgebung chiamo, chiami, chiama oder <appeler>- Eigennamen
chiamo, chiami, chiama
<appeler>
Nach der Bildung von Morphemklassen können weitere
Klassen von Morphemklassen gebildet werden:
z. B. können alle Klassen, die in der Umgebung nach der Klasse Artikel vorkommen, zu einer hierarchisch höheren Klasse Substantive bzw. Nomina zusammengefaßt werden.
Suchen wir nach il, la, le, i, gli, lo, l’ oder nach <le>
Dann können Klassen von Morphemfolgen gebildet werden. So haben z. B. Nomina viele interessante Umgebungen gemeinsam.
Bei le, la im Französischen fällt zum Beispiel auf, dass immer wieder die Kombination le plus bzw. la plus vorkommt und sich die Endung des Wortes hinter plus verändert.
le plus grand
la plus grande
les plus grands
les plus grandes
Ähnliches stellen wir auch im Italienischen fest:
la più bella
il più bello
i più belli
le più belle
Formen auf –e:
il più grande problema
la più grande difficoltà
i più grandi problemi
le più grandi difficoltà
hierarchisches block building bis zur Ebene des
Satzes:

Heeschen (1972: 95).
Wir haben es hier mit einer sogenannten from bottom to top Analyse zu tun.
Ein anderes Verfahren ist das from top to bottom Verfahren:
- eine höhere Einheit wird in die größtmöglichen kleineren Einheiten zerlegt
- diese werden ihrerseits wieder in ihre größtmöglichen kleineren Einheiten zerlegt
- S wird zunächst in NP und VP zerlegt
- NP und VP werden jeweils weiter in ihre Komponenten aufgegliedert.
größtmöglichen Einheiten, in die eine gegebene Einheit zerlegt werden kann, heissen Immediate Constituents (IC) der zerlegten Einheiten.
Auf der Basis einer distributionellen Analyse eines Corpus können auch strukturelle Formeln (patterns) für den Bau von Äußerungen aufgestellt werden
Z. B. kann im Deutschen eine Nominalphrase aus Art + A + N bestehen, nicht aber aus Art + N + A (z. B. das schöne Haus), nicht aber aus Art + N + A (z. B. das Haus schöne / una casa grande)
3.4.3 Zusammenfassung
Forderung von Bloomfield, dass wissenschaftliche Analyse auf Aussagen über physikalische Ereignisse reduzierbar sein muss oder auf Aussagen über die Wissenschaftssprache, ist im Distributionalismus erfüllt.
Welchen Status hat das distributionalistisch aus den Daten gefilterte System? In welchem Verhältnis steht es zur Realität?
1935 hatte Twaddell die Auffassung vertreten, dass das Phonem eine rein fiktive Einheit sei, deren Realität einzig und allein im Kopf des Linguisten bestehe.
heftige Kontroverse hat sich entwickelt
mündete in die berühmte Kontroverse zwischen sogenannten Hokuspokus-Leuten und den God’s truth-Leuten ein
- System ist nichts anderes als eine Abstraktion, die aus Daten nach bestimmten Spielregeln herausgezaubert werden kann
- System und die Struktur in den Daten ist real vorhanden
Meisten amerikanischen Distributionalisten sind zur Ansicht gelangt, dass weder die eine noch die andere Position korrekt ist.
Die Hokuspokus-Position ist nicht korrekt, denn
- die Spielregeln sind keine unverbindlichen, zum Vergnügen geschaffenen Regeln, sondern es handelt sich um in einem ernst zu nehmenden Sinn wissenschaftliche Regeln;
- die gewonnene Struktur muss ihre reale Basis in den Daten haben, wenn auch auf noch so vermittelte Weise. Die angewandten Verfahren sind ja schließlich mechanisch.
Die God’s truth-Position ist nicht korrekt, da es sich bei dem System immer nur um ein Modell der Realität handelt und nicht um die Realität selbst.
Unterschied zu europäischem Strukturalismus:
- Keine der Positionen geht von einem Sprachsystem aus, das hinter den Daten steht und sich in diesen realisiert, sondern von einem System, das sich aus den Daten selbst ergibt.
- Die realen Sprechakte sind das wirkliche Objekt der Linguistik.
- Amerikanischre Strukturalismus ist mit den Junggrammatikern verbunden.
- Die Linguistik beschreibt eigentlich Verhalten (habits)
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3.5 Die verschiedenen Gegenstände der Linguistik
Junggrammatiker
- strikte Orientierung auf die realiter existierenden und beobachtbaren Fakten der Sprache;
- das Beobachtbare ist nicht die Sprache selbst , sondern der sprechende Mensch bzw. dessen konkrete Sprechtätigkeitsakte;
- Erklärung der beobachteten Fakten aus der Geschichte.
Strukturalismus Saussure'scher Prägung
- langue als real existierende Sache, die existieren muss, damit Sprechen möglich ist;
- langue als soziale Institution, die außerhalb und unabhängig von den Individuen einer Gemeinschaft existiert;
- die langue als System, das die Individuen internalisieren müssen;
- die langue als ein sprachspezifisches System von Zeichen, die auf der syntagmatischen und der paradigmatischen Ebene nur aus ihrem eigenen System heraus bestimmt werden können und zwar durch ihre Stellung zueinander;
- die synchronisch betrachtete langue;
- die langue als Sprachsystem, das über den Daten steht;
- die langue als grammatisches System;
- die Daten selbst sind nicht wichtig.
Bloomfield
- die beobachtbare speech utterance selbst, d.h. der Abschnitt r.............s;
- ihre Beschreibung als strukturiertes Etwas;
- die Bedeutung eines Sprechaktes kann nur in der aktuellen Situation gesehen werden, die als Reiz diesen Sprechakt bewirkt, und in der Reaktion, die auf diesen Sprechakt erfolgt;
- eine Beschreibung der Bedeutung ist zunächst unmöglich.
Distributionalismus
- Corpus als Menge protokollierter Äußerungen einer Sprache;
- Äußerungen als konkret stattgefundene Sprecherreignisse (utterance), d.h. als stretch of speech zwischen zwei Pausen;
- das Vorkommen der Einheiten (occurence);
- die Umgebung (environment), in der sie vorkommen;
- die Distribution als Menge aller Umgebungen eines Elements innerhalb des Corpus;
- Ziel der linguistischen Analyse ist die Klassifikation der im Corpus vorhandenen Elemente auf der Grundlage ihrer distributionellen Beziehungen.
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3.6 Chomsky
Für den Ansatz von Chomsky sind vor allem die beiden folgenden
Schriften zu nennen:
Chomsky, Noam (1959): «Verbal behavior». By B.
F. Skinner. (The Century Psychology Series.) Pp. viii, 478. New
York: Appleton-Century-Crofts, Inc., 1957, in: Language 35: 26-58.
Chomsky, Noam (1965): Aspects
of the Theory of Syntax. Cambridge, Massachusetts: M.I.T. Press.
Chomsky geht aus von einem
ideal speaker-listener, in a completely homogeneous speech-community,
who knows its language perfectly and is unaffected by such grammatically
irrelevant conditions as memory limitations, distractions, shifts
of attention and interest, and errors (random or characteristic)
in applying his [sic] knowledge of the language in actual performance.
(Chomsky 1965: 3).
Dieses (einzel-) sprachliche Wissen, the speaker-hearers
knowledge of his language (Chomsky 1965: 4), wird von Chomsky competence genannt.
Es basiert auf einem angeborenen, in Form einer universellen Grammatik
zu beschreibenden intuitiven Wissen, den innate ideas (vgl. hierzu v.a.
Chomsky 1959: 39-44), und liegt dem tatsächlichen situationellen
Sprechen, der performance zugrunde. Eine generative Grammatik soll dieses einzelsprachliche
Wissen dann auf neutrale Art und Weise charakterisieren:
It attempts to characterize in the most neutral possible
terms the knowledge of the language that provides the basis for
actual use of language by a speaker-hearer. (Chomsky 1965: 9).
Auch Chomsky geht somit davon aus, dass eine Grammatik die Voraussetzung
für das Sprechen ist.
Das situationelle Sprechen oder die Performanz kann erst dann untersucht
werden, wenn die generative Grammatik bekannt ist, und nur in dem
Maße, wie sie bekannt ist:
There seems to be little reason to question the traditional
view that investigation of performance will proceed only so far
as understanding of underlying competence permits. (Chomsky 1965:
10).
Aus der direkten Beobachtung der Performanz lassen sich nach Chomsky
Erkenntnisse über die Grundlagen des sprachlichen Verhaltens,
über die Kompetenz, dagegen gerade nicht ableiten:
we can predict that a direct attempt to account for the
actual behavior of speaker listener, and learner, not based on a
prior understanding of the structure of grammars, will achieve very
limited success (Chomsky 1959: 57).
Die mutmaßliche Unmöglichkeit der direkten Beobachtung
des stillschweigenden Wissens und damit der einzelsprachlichen Kompetenz
ist aber nicht der einzige Grund, warum Chomsky sich einem Ausgehen
von der Performanz gegenüber ablehnend verhält. Hinzu
kommt vielmehr noch Chomskys Sicht von der Sprachwissenschaft
selbst. Seiner Meinung nach handelt es sich nämlich bei der
Sprachwissenschaft um eine mentalistische Wissenschaft, die eine
mentale Realität erforschen will. Und wenn sie eine ernstzunehmende
Wissenschaft sein will, dann kann sie dabei gerade nicht vom tatsächlichen
Verhalten ausgehen:
linguistic theory is mentalistic, since it is concerned
with discovering a mental reality underlying actual behavior. Observed
use of language or hypothesized dispositions to respond, habits,
and so on, may provide evidence as to the nature of this mental
reality, but surely cannot constitute the actual subject matter
of linguistics, if this is to be a serious discipline. (Chomsky
1965: 4)
Nach Chomsky führt stattdessen nur die Introspektion und das
Abfragen der sprachlichen Intuition des native speakers zur Erkenntnis
dieser mentalen Realität und damit der Kompetenz:
to give [...] priority to introspective evidence and to
the linguistic intuition of the native speaker (Chomsky 1965: 20).
Chomsky wendet sich damit insgesamt gegen zwei grundlegende Theoreme
der frühen Korpuslinguistik. Diese besagen:
- natürliche Sprachen sind eine endliche Sammlung von Sätzen
sind, die gesammelt und aufgezählt werden können,
- eine linguistische Theorie ist allein auf der Grundlage von
Korpora aufzustellen.
Chomsky setzt dem richtigerweise entgegen, dass
- die Zahl der Sätze einer Sprache unendlich ist. Endlich
ist dagegen die Zahl der syntaktischen Regeln, die dieser unendlichen
Zahl von Sätzen zugrundeliegt. Anstatt also alle Sätze
einer Sprache aufzuzählen, müssen diese Regeln in einer
Grammatik beschrieben werden;
- Korpora allein nicht ausreichen, um eine linguistische Theorie zu erstellen,
denn sie sagen uns nichts darüber, ob ein Satz grammatisch
oder ungrammatisch ist, bzw. ob bestimmte Sätze möglich
sind, auch wenn sie in einem Korpus nicht enthalten sind.
seit 1965 Konzeption mehrmals geändert:
- government and binding
- seit 1992 minimalist program
competence > „innere Sprache“ (I-language)
performance > "externe Sprache" ( E-language):
E-language = Sprache einer Gruppe oder einer Sprachgemeinschaft
Minimalistisch, weil jetzt davon ausgegangen wird, dass angeborenes Sprachsystem sehr wenig Information enthält (Universelle Grammatik).
Wenn Kind Muttersprache lernt, reichert es diese universelle Grammatik mit spezifischen Informationen an, indem es sich aus dem Input ein mentales Lexikon und eine mentale Grammatik rekonstruiert.
Diese mentale Sprache ist die I-language
Die innere Sprache ist bei jeder Person verschieden, weil sie in einem anderen sprachlichenUmfeld gelernt wurde und der Input so eine ganz bestimmte Form hat.
Gegenstand der generativen Grammatik sind allein diese inneren Sprachen.
Nicht Gegenstand der generativen Grammatik ist die E-language
Korpora und Ergebnisse ihrer Untersuchung sagen etwas über E-language aus, sind also nicht Gegenstand der genrativen Grammatik.
Mensching (im Druck: 5) hat sicher Recht, wenn er sagt, dass eine Disziplin nicht dafür kritisiert werden kann, dass sie dem, was nicht zu ihrem Gegenstandsbereich gehört, kein Interesse zukommen lässt.
Solange Chomsky aber die generative Grammatik mit Linguistik gleichsetzt und die Linguistik zur mentalistischen Wissenschaft erklärt, bleibt trotzdem das Problem bestehen, dass Disziplinen der Sprachwissenschaft, die sich mit der E-language selbst oder mit den Zusammenhängen zwischen der E-language und gesellschaftlichen, politischen etc. Gegebenheiten beschäftigen, implizit als Nicht-Sprachwissenschaft definiert werden.
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3.7 Die Bevorzugung der Langue / Competence / der Denker und der top-down Perspektive
Dualistische Sicht von Sprache
- langue und parole (de Saussure)
- competenceund performance(Chomsky)
Pole werden nicht als gleichwertig erachtet
- langue - System / competence steht im Zentrum
- parole - Rede / performance wird eher als minderwertig betrachtet
A major characteristic of modern linguistics has been that it takes structure as primary end in itself, and tends to depreciate use (Hymes 1972: 272).
Grundlage für die Modelle
[...] it is so easy to be blind to the very small amount of data on which contemporary linguistics is based, and this is fundamental to the whole intellectual organisation of the discipline: the theories which linguists develop, the types of corroboration they claim, the methods they use, and the ways in which students are trained. (Stubbs 1993: 10).
konstruierte Beispiele
The techniques that have most dominated the field of linguistics [...] have been techniques focused on artificial rather than naturally occurring data. (Chafe 1992: 85)
Rechtfertigung
La maggior parte degli enunciati illustrativi contenuti in questo lavoro sono frutto di libera invenzione; [...] non nego affatto che l'uso concreto offra formulazioni più ricche e più duttili di quelle che in genere sono partorite dalla mente di chi se le costruisce da sé secondo le esigenze del proprio argomentare; ma è indubbio che la speranza di trovare già bell'e confezionato l'esempio più adatto per ogni minima sfumatura di senso [...], appare un tantino ottimistica, data la marginalità di certi impieghi. (Bertinetto 1986: 13).
Vorgehen:
- zunächst werden für eine kleine Zahl von Beispielen Regeln oder Theorien entwickelt
- wird ein anderes Beispiel entdeckt , wird gefragt, ob es die Regel / Theorie bestätigt oder sie in Frage stellt
Currently, rules or syntactic theories are being elaborated for a small number of examples of a given phenomenon, and then the occasional discovery of new examples and counter-examples functions either to reinforce or to invalidate theories. (Gross 1994: 215).
Art der Beschreibung:
- zunächst werden die strukturellen Einheiten und Klassen identifiziert (Morpheme, Wörter, grammatische Klassen etc.)
- dann wird beschrieben, wie mit diesen kleinen Einheiten immer größere grammatische Einheiten gebildet werden
Traditionally, linguistic analyses have emphasized structure – identifying the structural units and classes of a language (e.g., morphemes, words, phrases, grammatical classes) and describing how smaller units can be combined to form larger grammatical units (e.g., how words can be combined to form phrases, phrases can be combined to form clauses, etc.). (Biber / Conrad / Reppen 1998: 1).
Ob diese Modelle und Regeln mit dem übereinstimmen, was beim tatsächlichen Sprechen passiert bzw. erscheint, ist nicht die Frage, da es eben gerade nicht um das Sprechen, sondern um die mentale Kompetenz geht.
Theorie der parole, des Sprechens, der performance wird erst gar nicht entwickelt und noch weniger eine Theorie des Sprechens insgesamt.
Minimalistisches Programm und Unterscheidung I-language - E-language ändert daran nichts Prinzipielles
He sits in a deep soft comfortable armchair, with his eyes closed and his hands clasped behind his head. Once in a while he opens his eyes, sits up abruptly shouting, "Wow, what a neat fact!", grabs his pencil, and writes something down. Then he paces around for a few hours in the excitement of having come still closer to knowing what language is really like. (Fillmore 1992: 35).
Lemnitzer und Zinsmeister
3.8 Die Besinnung auf die Parole / Performance / die Beobachter und die bottom-up Perspektive
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts starkes Interesse an nähesprachlichen Varietäten:
Leo Spitzer (1921): Italienische Kriegsgefangenenbriefe. Materialien zur einer Charakterisierung der volkstümlichen italienischen Korrespondenz. Bonn.
1959 Gründung des Survey of English Usage in London Ziel = natürlichen schriftlichen und mündlichen Gebrauch der englischen Sprache festzuhalten, zu beschreiben und zu analysieren
Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts brechen sprachwissenschaftliche Richtungen den „strukturalistischen und transformationalistischen Immanentismus“ auf (Koch / Oesterreicher 1990: 21):
- Psycholinguistik
- Soziolinguistik
- Textlinguistik
- Pragmalinguistik
- Gesprächsanalyse (cf. Koch / Oesterreicher 1990: 21).
1971 Korpus zum gesprochenen Französisch - Baetens Beardsmore: Le français régional de Bruxelles (cf.
Koch / Oesterreicher 1990: 25)
zwischen 1968 und 1971 von britischen SoziolinguistInnenen und FranzösischlehrerInnen Korpus zum in Orléans gesprochenen Französisch erstellt (cf. WWW-Seiten von Elicop)
Une première entreprise de constitution de corpus de français parlé remonte à la fin des années 60. Entre 1968 et 1971, des sociolinguistes et des professeurs de français britanniques ont mis au point une banque de données importante, connue sous le nom d'Etude sociolinguistique sur Orléans. Par la suite, d'autres enregistrements ont été effectués dans deux autres villes françaises : Le livre parlé de Tours (1974) et Voix d’Auvergne (1976).
1974 Ludwig Söll: Gesprochenes und geschriebenes Französisch (cf. Koch / Oesterreicher 1990: 25).
moderne Korpuslinguistik scheint von Ablehnung der strukturalistischen und generativistischen Schulen am stärksten betroffen. |
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