Reaktionsversuche
Text: Maximilian Wontorra
Gegenstand ist die Untersuchung des Verlaufs psychischer Vorgänge. Nachdem hierbei durch einen äußeren Reiz ein Willensvorgang angestoßen wird, der nach Apperzeption des Reizes in einer spontanen Reaktionsbewegung endet, nennt man seit S. Exner diesen Vorgang einen Reaktionsvorgang und die zugehörigen Versuche Reaktionsversuche. Zwischen Apperzeption des Stimulus und dem die Reaktion auslösenden Willensimpuls können diverse andere psychische Vorgänge als Zwischenmotive eingeschaltet werden. Beispielsweise kann man die Versuche so gestalten, daß auf einen optischen Reiz die Taste A, auf einen akustischen Reiz die Taste B zu drücken ist und somit zwischen Reiz und Reaktion ein Entscheidungsvorgang stattfinden muß. Deshalb ermöglichen die Reaktionsversuche eine Analyse der durch äußere Reize ausgelösten einfachen und zusammengesetzten Bewußtseinsvorgänge. Quantifiziert werden hierbei im wesentlichen die Zeit der Reizeinwirkung und die Zeit der Reaktionsbewegung. |
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Methodisch gestalten sich Reaktionsversuche so, daß an eine zeitmessende Vorrichtung zwei Hilfsapparate angeschlossen werden, die zum einen die zeitliche Selbstregistrierung eines Stimulus und einer Reaktion ermöglichen. Die zwischen den Registriermarken liegende Zeit ist die unter den gewählten Bedingungen gemessene Reaktionsdauer oder -zeit. Der Zeitmeßapparat muß eine Präzision von wenigstens 10-2 sec. haben. Als Registriergeräte kamen zu Wundts Zeit im wesentlichen zwei Apparate zum Einsatz: Das Kymographion und das Chronoskop.
Ein Kymographion (s. Abb. 1) war seinem Wesen nach das, was man heute einen Polygraphen nennt, d.h., es ermöglichte die Aufzeichnung einer prinzipiell beliebig großen Zahl von Kanälen auf einem Datenträger, in der Anfangszeit für gewöhnlich ein berußter Papierstreifen (s. Abb. 2). Auf diesen Datenträger wurde mit Stahlnadeln die Zeitreihe (der zeitliche Amplitudenverlauf) des jeweiligen Kanals geschrieben. |
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Kymographien existierten in diversen Ausführungen. In seiner einfachsten Form bestand das Kymographion aus einer Trommel, die mit dem Datenträger bespannt und durch ein Uhrwerk mit hinlänglich konstanter Winkelgeschwindigkeit angetrieben wurde. Die Winkelgeschwindigkeit war durch die Parameter des Uhrwerks und durch Fliehkraftregler (in Abbildung nicht zu sehen) unterschiedlicher Masse adjustierbar. Aber auch schon zu Wundts Zeiten waren Kymographien mit sog. Endlos-Papier verfügbar.
Die Ansteuerung der Schreibköpfe fand für gewöhnlich elektromagnetisch statt: Die Nadel wurde entweder durch einen mit zeitlich konstantem Strom durchflossenen Elektromagneten in ausgelenktem Zustand gehalten und - wenn sich beispielsweise auf dem Reaktionskanal die Reaktion ereignete - durch ein für diesen Kanal relevantes Ereignis durch Unterbrechung des Stromflusses in seine Nullposition entlassen oder umgekehrt. So wurden bspw. die Ereignisse Reiz und Reaktion als binäre Variablen auf das Papier geschrieben.
Aber auch pneumatische Ansteuerung der Schreibköpfe war möglich. So wurde bspw. in sog. Ausdrucksversuchen, bei denen verschiedene physiologischen Parameter als Korrelate für Gefühle dienten und registriert wurden, der Puls mittels eines Mareyschen Tambours gemessen und an das Kymographion weitergeleitet.
Der besagte Tambour bestand aus einer membranbespannten Luftkammer. Bspw. der Handgelenkspuls wurde auf die Membran übertragen und führte zu Luftdruckschwankungen in der Luftkammer, die über einen Schlauch an das Schreibgerät übermittelt wurden.
Um eine genaue Zeitachse auf dem Papierstreifen zu bekommen, wurde die Schwingung (meist 100 Hz) einer an einer Normgabel geeichten Stimmgabel geschrieben (s. Abb. 3). Um die Schwingung nicht abklingen zu lassen, wurde die Gabel durch einen Elektromagneten mit einem gepulsten Strom der Eigenfrequenz der Gabel angeregt. Zeitdifferenzen wurden also in vollendeten Zyklen der Stimmgabelspur gemessen. |
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Das Chronoskop als Registriergerät, in seiner Ursprungsform von Hipp entwickelt, war eine elektromechanische Stoppuhr, die eine Zeitmessung mit einer Auflösung von bis zu 10-3 sec. ermöglichen sollte. Das Chronoskop war ein durch ein Gewicht getriebenes Uhrwerk und besaß zwei Zifferblätter (s. Abb. 4). Der Zeiger des oberen Zifferblatts, das in hundert Teile geteilt war, machte eine ganze Umdrehung in 10-1 sec. Ein Teilstrich entsprach also 10-3 sec. Der Zeiger des unteren Zifferblatts, auch in 100 Teile geteilt, rückte um einen Teilstrich vor, wenn der obere Zeiger eine volle Umdrehung gemacht hatte. Ein Teilstrich des unteren Blatts entsprach also 10-1 sec. In zehn Sekunden führte der untere Zeiger eine volle Umdrehung aus. |
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Abb. 5 zeigt die Elektromechanik - genauer: die elektromagnetisch angesteuerte Mechanik - des Chronoskop-Uhrwerks. Die Kronräder K1 und K2 bilden eine Kupplung, die anscheinend durch die Scheibe h - im Kfz nennt man das wohl die Mitnehmerscheibe - geschlossen wird (vgl. Teilansicht rechts). Die beiden Elektromagnete E1 und E2 wirken auf den Dauermagneten m und rücken vermittels des Hebels H3 die Kupplung ein bzw. aus. |
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Abb. 6 zeigt den Versuchsaufbau für einen einfachen Reaktionsversuch auf einen auditiven Reiz. Die Einzelkomponenten sind das Hippsche Chronoskop H, ein Fallapparat F, ein Taster U (Telegraphentaster amerikanischen Typs), ein Stromwender (Pohlsche Wippe) W, ein Rheochord R und ein sog. Kontrollhammer. Kontrollhammer und Stromwender sind unwesentlich. Der Stromwender wurde nach jedem Versuchsdurchgang gekippt, um die Stromflußrichtung umzukehren, weil ansonsten bei langzeitigem Durchfluß der Spulen des Chronoskops in nur einer Richtung die Kerne der Elektromagnete dauermagnetisiert worden wären. Der Kontrollhammer kam außerhalb der Versuchssitzungen zur Bestimmung des Chronoskop-Gerätefehlers zum Einsatz, denn das Chronoskop konnte entgegen der ursprünglichen Erwartung doch nicht verzögerungsfrei durchschalten. Hauptgrund dafür ist wahrscheinlich die Induktivität der Spulen, denn - wie man weiß - baut sich das Feld eines Elektromagneten nach einer sog. Hysteresisschleife auf und auch wieder ab, d.h., beim Einschalten eines Stroms durch eine Spule wirkt das sich aufbauende Magnetfeld dem Stromfluß entgegen und beim Abschalten desselben Stroms wirkt das sich abbauende Feld auf das Absinken des Stromflusses verzögernd, vergleichbar der Massenträgheit. |
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In Abb. 7 ist der vereinfachte Schaltplan des Versuchs dargestellt. Angenommen, der Gerätefehler des Chronoskops sei mittels des Kontrollhammers exakt bestimmt worden und das Rheochord, offenbar ein regelbarer (Schiebe-)Widerstand, sei auch so adjustiert worden, daß der Stromfluß über das Chronoskop optimiert ist, dann ist zu Beginn des Versuchsdurchgangs ein Halte-Stromkreis von + über Chronoskop und Rheochord zu - geschlossen (das Chronoskop ist in Halteposition). Nun wurde der Proband angewiesen, den Taster zu drücken und nach Wahrnehmung des Kugelaufpralls im Fallapparat mit einem Loslassen des Tasters zu reagieren. In dem Augenblick, in dem die Kugel auf das Brett des Fallapparats traf, wurde der Schalter des Fallapparats und damit der Nebenstromkreis von + über Fallapparat und Taster nach - geschlossen. Nachdem der Hauptstromkreis mit dem Innenwiderstand des Chronoskops und dem Rheochord einen hohen seriellen Widerstand aufweist, floß jetzt nach Schluß des Fallapparateschalters beinahe der gesamte Strom über den Nebenkreis, der Strom über das Chronoskop sank auf einen vernachlässigbaren Wert und die Uhr begann zu laufen. In dem Moment, in dem der Proband als Reaktion den Taster öffnete, floß wieder der Haltestrom über das Chronoskop und hielt es an. Somit war auf der Uhr die Reaktionszeit ablesbar. |
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Der Meßfehler des Chronoskops wurde mittels Kontrollhammer vor Beginn der eigentlichen Versuchsreihe - grob skizziert - so bestimmt, daß sich während der Fallzeit des vorher elektromagnetisch gehaltenen Hammers ein Nebenkreis schloß, der den Haltestrom durch das Chronoskop abschaltete und der bei Auftreffen des Hammers sich wieder öffnete und somit das Chronoskop stoppte. Die Fallzeit des Hammers mußte für die aktuellen Hammer-Kenngrößen (Fallhöhe, Hebelarm des Gegengewichts P etc.) anderweitig exakt bestimmt worden sein, ggf. mittels eines Kymogramms. Aus der dadurch bekannten Fallzeit und dem auf dem Chronoskop abgelesenen Wert war der Meßfehler der Uhr bestimmbar. Man konnte bei großem Fehler noch bspw. den Widerstand am Rheochord verändern, um Normzeit (Hammer) und Chronoskopzeit besser zur Deckung zu bringen. Andernfalls mußte man bei der Ergebnisauswertung eben auf die am Chronoskop gemessenen Werte noch den Fehler aufschlagen.
Der Proband sollte nach Wundt in obigem Versuch nur Fallapparat und Taster zu Gesicht/Gehör bekommen, die anderen Gerätschaften und der Versuchsleiter sollten sich in einem anderen Raum befinden. Der Fall der von einer Gabel gehaltenen Kugel mußte von einem Assistenten ausgelöst werden.