Gustav Theodor Fechner.
Rede zur Feier seines hundertjährigen Geburtstages.1)
Am 19. April 1901 war ein Jahrhundert dahingegangen
seit dem Tage, da Gustav Theodor Fechner zuerst das Licht dieser Welt erblickte.
Wenn heute, zur Nachfeier dieses Tages, die Königlich Sächsische
Gesellschaft der Wissenschaften als die nächste berufen zu sein glaubt,
ihrem einstigen Mitglied eine Stunde ehrender Erinnerung zu weihen, so
ist sie sich wohl dessen bewußt, daß unsere Universität
und unsere Stadt Leipzig auf den Besitz dieses seltenen Mannes ältere
Rechte geltend machen dürfen. Dem Verband dieser Hochschule hat er
angehört von der Stunde an, da sich der Siebzehnjährige als Studierender
der Medizin in die Listen ihrer akademischen Bürger eintrug, bis zu
der anderen, da nach einer wechselvollen Tätigkeit als Lehrer der
Physik und der Philosophie der Sechsundachtzigjährige aus dem Leben
schied. In der Stadt aber, in der er sich sein Heim gegründet, und
die ihn in späteren Tagen zu ihrem Ehrenbürger erkoren hatte,
in dieser Stadt war er festgewurzelt wie wenig andere. In den Wiesen und
Wäldern ihrer Umgebung schöpfte jener Sinn für das überall
waltende Leben der Natur, von dem seine Weltanschauung erfüllt ist,
immer neue Nahrung. Auf der Bank zwischen den Bäumen des Rosentals,
hinter der heute seine Erzbüste auf die grünende Wiese herüberblickt,
sind die Gedanken entstanden, mit denen er noch die letzte seiner philosophischen
Schritten eingeleitet hat.
1) Gehalten in der Aula der Universität
Leipzig im Auftrage der Kgl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften
am 11. Mai 1901.
Die Gesellschaft der Wissenschaften ist verhältnismäßig
spät in den Kreis dieser Beziehungen eingetreten. Als sie im Jahre
1846 gegründet würde, schloß sich ihr Fechner nur zögernd
an. Skeptisch in allem, was nicht zu den unwandelbaren Grundlagen seines
Glaubens und Wissens gehörte, mißtraute er dem Erfolg dieser
Schöpfung. Aber nachdem sie ins Leben getreten war, wurde und blieb
er bis in seine letzten Jahre eines ihrer arbeitsamsten Mitglieder. Vollends,
als er in der zweiten Hälfte seines Lebens seine Lehrtätigkeit
allmählich eingeschränkt und zuletzt ganz eingestellt hatte,
und als er auch sonst mehr und mehr sich in die Stille des eigenen Hauses
zurückzog, da waren es hauptsächlich die Sitzungen unserer Gesellschaft,
in denen er noch mit der Außenwelt in wissenschaftlichen Verkehr
trat. Hier war man ziemlich sicher, ihn allmonatlich anzutreffen, die Augen
von dem grünen schützenden Schirm umschattet, entweder aufmerksam
auf die gehaltenen Vorträge lauschend oder selbst aus dem unerschöpflichen
Born seines Forschens neue Gaben spendend. Hier war es, wo er die ersten
Entwürfe seiner künftigen umfassenderen Werke oder weitere Ergänzungen
und Ausführungen zu ihnen mitteilte. Wenn er dabei auch die philosophischen
Fragen, die ihn beschäftigten, in der Regel vorsichtig vormied, so
sind doch die Beziehungen wohl erkennbar, in denen seine dem Charakter
unserer Verhandlungen angepaßten exakten Darlegungen zu seinen philosophischen
Ideen stehen. Je unmöglicher es ist, von der Gedankenarbeit dieses
langen, arbeitsreichen Lebens in dieser flüchtigen Stunde auch nur
ein annähernd zureichendes Bild zu entwerfen, um so mehr darf ich
daher wohl Ihrer Nachsicht versichert sein, wenn ich mich hier hauptsächlich
auf den Versuch beschränke, den Beziehungen nachzugehen, die zwischen
den Arbeiten Fechners auf den Gebieten der exakten Forschung und jener
eigenartigen Weltanschauung bestehen, die uns in seinen allgemeineren Werken
entgegentritt. Wie verhält sich Fechner der Naturforscher, der Begründer
der Psychophysik und der Erfinder der Kollektivmaßlehre, zu Fechner
dem Philosophen? Wie der beobachtende und rechnende Physiker, der mit vorsichtigem
Zweifel allen wissenschaftlichen Hypothesenbildungen gegenübersteht,
zu dem in seinem tiefsten Wesen religiös gestimmten Denker, dessen
Streben weit über die Grenzen der üblichen Philosophie hinaus
auf eine Wiedererneuerung und Vertiefung des im Christentum offenbar gewordenen
Gottesbewußtseins gerichtet ist? Hat er etwa als Philosoph Gemütsbedürfnisse
befriedigen wollen, die mit den Zwecken seiner wissenschaftlichen Forschung
überhaupt nichts zu tun hatten? Oder, wenn ein Zusammenhang zwischen
diesen beiden Richtungen seiner Geistesarbeit besteht, was ist das Frühere?
Hat sich der Philosoph aus dem Naturforscher entwickelt, oder sind umgekehrt
die exakten Probleme, die er namentlich in seinen späteren Jahren
sich stellte, aus seiner philosophischen Weltanschauung hervorgegangen
?
Inhalt
Abschnitt: I;
II; III;
IV; V;
VI; VII;
VIII
Beilagen: I;
II; III;
IV; V;
VI