8. Die Völkerpsychologie als Teil einer allgemeinen Entwicklungspsychologie.

    Was für die Psychologie überhaupt, das gilt nun selbstverständlich auch für die Völkerpsychologie, die ja nicht die einzige, aber die für das Bewußtsein des Kulturmenschen wichtigste Entwicklung seelischer Kräfte darstellt. Nicht durch jede völkerpsychologische Erscheinung, wohl aber durch die wichtigsten Zusammenhänge solcher müssen wir uns bei den Formen der Kulturentwicklung Querschnitte gelegt denken, wenn wir uns überhaupt über die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen Rechenschaft geben wollen. Die Formen der Gesellschaftsverfassung von der primitiven Horde bis zu den verschiedenen Gestaltungen der Stammes- und der politischen Verfassungen fordern überall zu Zerlegungen heraus, die einerseits von systematischen Gesichtspunkten ausgehen, anderseits in ihrem Zusammenhang eine Stufenfolge von Entwicklungen bilden. Nicht anders verhält es sich mit den mythologischen, den religiösen Systemen, den sittlichen Anschauungen, den Epochen der künstlerischen Tätigkeit. Die Erscheinungen selbst fließen, die Zustände des geistigen Lebens verändern sich unaufhaltsam. Aber die Aufgabe der Wissenschaft ist es jederzeit, das Fließende in Anschauung und Begriff festzuhalten und dabei zugleich über jenes Fließen der Erscheinungen und über die Kräfte, die es bewirken, Rechenschaft zu geben.

    Wenn demnach wegen des auch bei ihr unentbehrlichen Ineinandergreifens systematischer und genetischer Gesichtspunkte, der zwischen beiden stehenden, zunächst aber mehr der systematischen Vergleichung zugewandten Aufgabe einer Charakterologie der Völker der Name "Entwicklungspsychologie" kein brauchbarer Ersatz für den der Völkerpsychologie ist, so könnte gleichwohl in einer anderen, allgemeineren Bedeutung dieses Wort brauchbar sein. Ja man darf vielleicht sagen, es würde in dieser einem Bedürfnis entgegenkommen, das durch die mehr und mehr über die verschiedenen Gebiete der lebenden Natur sich erstreckende Geltung des Entwicklungsprinzips entstanden ist. Die beiden ersten Hefte der von Krueger herausgegebenen "Arbeiten zur Entwicklungspsychologie", die bis jetzt vorliegen, weisen unmittelbar auf diese umfassendere Bedeutung hin. Das erste ist, abgesehen von der Hervorhebung der über alle Gebiete der Psychologie sich erstreckenden Herrschaft des genetischen Prinzips, vornehmlich seiner Geltung in der Völkerpsychologie bestimmt; das zweite, früher erschienene behandelt ein interessantes tierpsychologisches Thema. Es fehlt demnach nur noch ein kinderpsychologisches, um den Umkreis der Gebiete zu umfassen, die man in eminentem Sinne als entwicklungspsychologische schon jetzt zu betrachten pflegt. Aber noch fehlt es durchaus an der Lösung einer Aufgabe, die gerade einer künftigen Entwicklungspsychologie im eigentlichen Sinne dieses Wortes zu stellen ist: an der Herstellung der Beziehungen, die zwischen diesen drei Gebieten bestehen, oder auch an der kritischen Prüfung derjenigen, die zwischen ihnen angenommen worden sind. Es ist klar, daß es sich bei der Ausfüllung dieser Lücke nur um eine fortgesetzte Anwendung derselben vergleichenden Methode handelt, die auf den genannten drei Einzelgebieten bereits ihre Dienste geleistet hat.

    So ist in der Tat die Vermutung, unter einer allgemeinen Entwicklungspsychologie eine vergleichende Entwicklungsgeschichte der Seele bei Tieren, Kindern, Völkern zu verstehen, für jeden, der mit der wichtigen Rolle vertraut ist, die das Entwicklungsprinzip in der heutigen Biologie spielt, wohl die nächstliegende. Wie die Biologie die Gesamtheit der Lebewesen umfaßt und sie alle, die Protozoen, die Pflanzen, die Tiere, womöglich als Stufen einer einzigen, die ganze organische Welt umschließenden Entwicklung zu begreifen sucht, so wird jeder, dem die Rückwirkungen nahegetreten sind, die dieses universelle biologische Entwicklungsprinzip auf die Geisteswissenschaften ausgeübt hat, unter einer "Entwicklungspsychologie" zunächst eine analoge Betrachtung der allgemeinen geistigen Entwicklung und ihrer Gesetze vermuten, wobei, was bisher die einzelnen psychologischen Disziplinen in gesonderter Arbeit geleistet, nun zu einem großen, unter einheitlichen genetischen Gesichtspunkten geordneten Ganzen vereinigt werden solle. Aber ein näherer Anhalt, der die Verwirklichung dieses Programms einer allgemeinen Psychogenese als das eigentliche Ziel erkennen ließe, läßt sich in Kruegers Abhandlung nicht auffinden. Doch wenn auch diese Absicht nicht bestehen sollte, kann man in einer Sammlung von Arbeiten, die, wenn auch sonst disparaten Gebieten angehörend, in der Beziehung zu psychologischen Entwicklungsproblemen gewissermaßen ihr gemeinsames Zentrum finden, sicherlich ein verdienstvolles Unternehmen erblicken. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß hier das Programm einer "Entwicklungspsychologie" mit innerer Notwendigkeit in Gedankengänge einmündet, die, gerade von der allgemeinen Biologie ausgehend, gegenwärtig mehr und mehr auf die Psychologie übergegriffen haben, so daß man wohl auch in dem vorliegenden Programm einen Ausdruck dieser verbreiteten Strömung erblicken darf. Daß Krueger dieser doch offenbar die Grundlage der Entwicklungspsychologie bildenden biologischen Analogien mit keiner Silbe gedacht hat, ist daher immerhin auffallend. Seine einleitenden Erörterungen verbreiten sich über die mannigfaltigsten Einflüsse, die auf die Psychologie der Gegenwart von außen eingewirkt haben: von der naturwissenschaftlichen Mechanik, der Geschichtswissenschaft, der Philosophie in ihren verschiedenen Richtungen, aber er schweigt völlig von dem Gebiet, das, wie man denken sollte, vor allen anderen als Pate an der Wiege der Entwicklungspsychologie gestanden hat: von der allgemeinen Entwicklungsgeschichte der Organismen. Wer kennt nicht die Diskussion über die Frage der Anwendung des "biogenetischen Grundgesetzes" auf die Psychologie? Müßte nicht eine "Entwicklungspsychologie", die im Prinzip alle Arten psychischer Entwicklung umfaßt, vor allem anderen die Beziehungen dieser zu einander vor ihr Forum ziehen? Doch so gründlich Krueger darzutun sucht – was meines Wissens eigentlich niemand bestritten hat – daß die grundlegenden Probleme der Völkerpsychologie Entwicklungsprobleme sind, so wenig geht er auf die Frage ein, die doch im eminenten Sinn einer allgemeinen Entwicklungspsychologie, wie er sie plant, zufällt, auf die Frage: wie verhält sich auf psychischem Gebiet die "Ontogenese" zur "Phylogenese?" Und doch liegt hier der Punkt, wo sich Kinder- und Völkerpsychologie berühren oder einander kreuzen, so daß sie in ihrer Verbindung und womöglich auch noch im Verein mit der Tierpsychologie in eine allgemeine Entwicklungspsychologie überzugehen scheinen. Zudem ist die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zur menschlichen Gemeinschaft schließlich eine Grundfrage nicht bloß der Völkerpsychologie, sondern der Geisteswissenschaften überhaupt. Wie sollte also eine Entwicklungspsychologie, die ihrem Namen nach die individuelle und die gemeinsame Entwicklung zugleich umfaßt, über das Verhältnis beider zu einander stillschweigend hinweggehen können? Gar mancher, der von der genetischen Biologie herkommt, wird vielleicht erwidern: nach dem biogenetischen Grundgesetz beantworte sich diese Frage von selbst, da nach ihm die individuelle Entwicklung im großen und ganzen eine Wiederholung der Entwicklung der Gattung sei. Daß man sich mit dieser Antwort nicht zufrieden geben darf, sagt aber bereits der limitierende Ausdruck "im großen und ganzen", der vor allem auch das wichtige und, wie man wohl einräumen muß, im wesentlichen noch ungelöste Problem in sich schließt, innerhalb welcher Grenzen das biogenetische Entwicklungsgesetz überhaupt auf die geistige Entwicklung übertragbar sei. Welches sind die Merkmale, nach denen ein analoger Parallelismus der Ontogenese und Phylogenese, wie ihn für die Biologie die morphologische Beobachtung ergibt, auf psychologischem Gebiet statuiert werden darf? Und welches sind die Bedingungen, unter denen, wo die Entwicklung in beiden Fällen eine abweichende ist, solche Abweichungen begründet sind? Daß sich diese Fragen nicht beliebig nach zufälligen Eindrücken beantworten lassen, und daß man daher das biogenetische Gesetz nicht einfach als ein Axiom behandeln darf, nach dem z. B. die Kunsterzeugnisse primitiver Völker und die des Kindes einander ähnlich seien, oder aus dem die mythologischen Vorstellungen der Naturvölker aus dem Vorstellungskreis des Kindes heraus erklärt werden könnten, versteht sich von selbst. Um so mehr bilden aber diese Fragen und alle weiteren, die sich hier anreihen und zu denen schließlich auch die nach der Entwicklung der psychischen Funktionen im Tierreich bis herauf zum Menschen gehören, ein großes und wichtiges Gebiet von Untersuchungen, die freilich vielfach zugleich in andere Teile der Psychologie hinüberreichen und solche als ihre Grundlagen voraussetzen, die sich aber sehr wohl, wie ich glaube, in einer eigenen Wissenschaft zusammenfassen ließen. Auch scheint es mir, daß eine solche vergleichende Psychologie höchster Stufe in der Tat ein Desiderat ist, dem bis jetzt durch gelegentliche Exkurse innerhalb der einzelnen Gebiete, die ihre Grundlagen bilden, nur unzureichend abgeholfen wird. Und so wenig sich der Ausdruck "Entwicklungspsychologie" wegen seiner Allgemeinheit und Mehrdeutigkeit dazu eignet, den Namen Völkerpsychologie in dem bis dahin gebrauchten Sinne zu ersetzen, so treffend würde er durch diese Allgemeinheit den Inhalt einer derartigen vergleichenden Psychologie umfassendster, eben darum aber auch für die Gesamtauffassung des geistigen Lebens bedeutsamster Art kennzeichnen. Freilich ist die Zeit zum positiven Aufbau einer solchen allgemeinsten vergleichenden Seelenwissenschaft, wie man mit Recht einwenden kann, noch nicht gekommen. Dafür fehlt es vielleicht weniger an der notwendigen Vorarbeit im einzelnen, die ein solches Unternehmen voraussetzt, als an der zureichenden Übereinstimmung der methodologischen Voraussetzungen und der allgemeinen Gesichtspunkte, die in den einzelnen Teilen eines so weiten Gebiets begreiflicherweise maßgebend zu sein pflegen. Mag aber die vergleichende Entwicklungspsychologie bis dahin in Wirklichkeit mehr aus strittigen Problemen als aus sicherstehenden Tatsachen und Prinzipien bestehen, so erscheint um so mehr die kritische Prüfung dieser Probleme und der zu ihrer Lösung bestimmten Hypothesen mindestens als eine vorbereitende Aufgabe.