Von
W. Wundt.
I.
In seiner Eröffnungsrede zum dritten Kongreß
des Vereins für experimentelle Psychologie zu Frankfurt a. M. hat
der Vorsitzende dieses Vereins auf ein Wort Goethes in den "Wanderjahren"
hingewiesen: "Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch anwenden".
Dieses Wort bezeichnet in der Tat treffend die Lage der Psychologie in
der Gegenwart. Die praktische Anwendung psychologischer Erkenntnisse ist
das unmittelbare oder mindestens das entferntere Ziel einer großen
Anzahl, wenn nicht der meisten psychologischen Arbeiten, besonders derjenigen,
die der experimentellen Richtung angehören. Pädagogik, Psychiatrie,
Jurisprudenz, Ethnologie eröffnen einer solchen angewandten Psychologie
ein beinahe unbegrenztes Feld von Aufgaben, zu denen gewissermaßen
als ein spezifisches Gebiet praktisch-psychologischer Forschung das Studium
der typischen und der individuellen Unterschiede der geistigen Begabungen,
insbesondere der unter- und der übernormalen Eigenschaften der Persönlichkeiten
hinzukommt. Nachdem in Berlin ein eigens zu diesen Zwecken gegründetes
"Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung"
mit einer ihm als Organ dienenden Zeitschrift ins Leben getreten ist, das
zugleich nachdrücklich ein Zusammenarbeiten von experimentellen Fachpsychologen
und Angehörigen der verschiedenen Einzeldisziplinen erstrebt, darf
man sicher erwarten, dass dieser Drang nach praktischer Anwendung in der
nächsten Zukunft noch weiter zunehmen wird. Um so mehr, da auch in
jenen Einzelgebieten das Bedürfnis nach einer gewissen psychologischen
Orientierung offenbar im Wachsen begriffen ist.
Kein einsichtiger Psychologe wird anstehen, diesen
innerhalb wie zum Teil außerhalb der Psychologie erwachten Drang
nach praktischer Betätigung als einen berechtigten und erfreulichen
anzusehen. Als einen berechtigten, weil wirklich in Erziehung und Unterricht
so gut wie in der Rechtspflege und in der Behandlung Geisteskranker so
viel gegen die psychologische Erfahrung gesündigt worden ist und noch
gesündigt wird, daß Abhilfe Not tut. Als einen erfreulichen,
weil das nicht bloß in diesen praktischen, sondern auch in gewissen
theoretischen Gebieten, wie Ethnologie, Geschichte, Sprachwissenschaft,
sich regende psychologische Interesse dem Bedürfnis nach einer Vertiefung
in die geistigen Zusammenhänge der Erscheinungen Ausdruck gibt. Auch
ist anzuerkennen, daß unter allen diesen Anwendungen vor allem die
praktischen nicht früh genug gemacht werden können. Sobald z.
B. Methoden des Unterrichts oder der Behandlung Geisteskranker als verkehrt
nachgewiesen sind, oder sobald es unbestreitbar geworden ist, daß
die der Beurteilung der richterlichen Zeugenvernehmung zu Grunde gelegten
Voraussetzungen falsch sind, so sollte keinen Augenblick gezögert
werden, sie zu beseitigen; und der Versuch, solche verkehrte praktische
Methoden und Voraussetzungen als irrige nachzuweisen, ist ganz gewiß
sehr viel verdienstlicher, als über die Intensitäts- und Qualitätsverhältnisse
von Empfindungen und von Gefühlen und über anderes Fragen zu
stellen, deren Beantwortung, so groß ihr theoretisches Interesse
auch sein mag, doch jedenfalls eine minder dringliche ist. Und auch das
wird jeder einsichtige Psychologe bereitwillig zugestehen, daß die
Ergebnisse, die praktisch vermöge der Übelstände und schweren
Nachteile, die ihre Nichtbeachtung mit sich führt, eine möglichst
einleuchtende und allgemein zugängliche Nachweisung heischen, nicht
auf eine nach allen Seiten gerichtete erschöpfende Untersuchung ihrer
näheren Bedingungen warten können. Darum hat die angewandte experimentelle
Psychologie von dem Augenblick an, wo sie zuerst gewissen Fragen der Pädagogik
sowie der psychiatrischen Diagnostik, wie z. B. der Prüfung der Arbeits-
und Lernmethoden, der geistigen Leistungsfähigkeit und Ermüdbarkeit
nahe trat, mit gutem Recht darauf gesehen, daß die zu solchen praktischen
Zwecken dienenden experimentellen Methoden einfach genug seien, um nötigenfalls
auch dem Lehrer oder Arzt zugänglich zu sein, dem kein Laboratorium
mit komplizierten Präzisionsapparaten zur Verfügung steht. Besonders
Kraepelin hat bei seinen zum erstenmal planmäßig jenen
Anwendungsgebieten zugewandten Arbeiten diesen Gesichtspunkt betont, dabei
aber auch mit Recht hervorgehoben, daß es sich bei solchen Arbeiten
immer nur um verhältnismäßig einfache Aufgaben von praktischem
Interesse handle, und daß man nicht daran denken dürfe, diese
vereinfachten Methoden über die ihnen durch die Praxis gezogenen Grenzen
hinaus auszudehnen. In der Tat pflegen in diesen Fällen die Fragen
von Anfang an schon so einfach gestellt zu sein, daß sie einen verwickelten
Apparat der Untersuchung überhaupt ausschließen. Zugleich knüpfen
sie aber auch so unmittelbar an spezifische Bedingungen des praktischen
Lebens an, daß an eine weitergehende Verwertung für die theoretische
Psychologie nur ausnahmsweise gedacht werden kann. Besonders einleuchtend
zeigen das die von William Stern ausgeführten verdienstvollen
Untersuchungen zur "Psychologie der Aussage". Sie sind von der aufmerksamen
Beobachtern längst bekannten Tatsache ausgegangen, daß die Berichte
eines Menschen nicht nur über das, was er von andern gehört,
sondern auch über das, was er selbst erlebt hat, durchweg ein gefälschtes
Bild der wirklichen Ereignisse geben, und daß daher die Aussagen
mehrerer Augenzeugen über den gleichen Tatbestand weit auseinandergehen
können. Um nachzuweisen, daß diese Fälschung der Wirklichkeit
in so weitem Umfange und in so tief eingreifender Weise stattfinden könne,
wie es tatsächlich der Fall und von Stern u. a. ermittelt worden
ist, dazu bedurfte es jedoch einer gewissen Systematisierung und planmäßigen
Sammlung solcher Beobachtungen. Daß diese keiner besonderen Apparate
und Versuchseinrichtungen bedurften, ist einleuchtend. Ebenso aber auch,
daß die Resultate trotz ihrer großen praktischen Wichtigkeit
für Pädagogik und Rechtspflege und schließlich für
alle Gebiete des praktischen Lebens und der Wissenschaft, in denen die
Aussagen von Augenzeugen, wie z. B. bei der Beurteilung geschichtlicher
Überlieferungen, eine Rolle spielen, an sich über die Natur der
Sinnes- und Gedächtnistäuschungen, der Aufmerksamkeitsschwankungen
und der sonstigen Faktoren dieser Erscheinungen nichts lehren können.
Ist doch die Scheidung dieser mannigfaltigen Faktoren selbst ein Problem,
zu dessen Lösung solche Versuche überhaupt nichts beizutragen
haben, da es dabei nur auf das Endergebnis, die Unzuverlässigkeit
der Aussagen über wahrgenommene Tatsachen und höchstens noch
auf die Bedingungen ankommt, unter denen sie mehr oder weniger weit von
der Wirklichkeit abweichen können. Will man der Zerlegung der Phänomene
in ihre Bestandteile und der experimentellen Analyse dieser näher
treten, so genügen dann freilich jene einfachen Beobachtungsmethoden
nicht mehr. Aber es muß dann auch der Standpunkt der angewandten
Psychologie verlassen und mit dem der reinen Psychologie vertauscht werden,
auf dem sich die Aufgabe in eine Fülle von Einzelproblemen zerlegt,
von denen nun jedes einzelne sein selbständiges Interesse besitzt.
Dieses Interesse ist jedoch ein rein theoretisches. Zu einem praktischen
wird es erst, wenn man zu den Gesamtwirkungen zurückkehrt, die der
ganze Komplex von Ursachen auf die Aussagen eines Menschen ausübt.
Da es nun für die Praxis im allgemeinen mehr auf diese Gesamtwirkung
ankommt, als auf die Frage, wie sich diese aus ihren einzelnen psychischen
Komponenten zusammensetzt, so kann sie sich um so mehr mit diesem Endergebnis
begnügen, je dringlicher die praktischen Zwecke sind, und je weniger
die Art, wie sich die Abweichungen der Aussagen auf die einzelnen Täuschungsfaktoren
verteilen, die zu ziehenden praktischen Folgerungen alteriert. Darum gibt
es hier immerhin auch für die verschiedenen Anwendungsgebiete nicht
zu übersehende Unterschiede. So ist es z. B. für die Beurteilung
der Zeugenaussagen vor Gericht wesentlich gleichgültiger, wie sich
die verschiedenen Täuschungsfaktoren auf das Endresultat verteilen,
als für die analogen Abweichungen in den Angaben eines Schulkindes
über einen gesehenen Gegenstand oder über eine gehörte Erzählung.
Denn während es im ersteren Falle nur darauf ankommt, zu ermessen,
ob und inwieweit einer Aussage überhaupt objektive Glaubwürdigkeit
beizumessen sei, ist dies im zweiten Falle relativ gleichgültig. Wohl
aber ist es hier für den Erzieher vom höchsten Interesse, in
welchen Motiven, ob in solchen der Unsicherheit der Wahrnehmung oder des
Gedächtnisses, ob in Mängeln des Wollens und der Aufmerksamkeit,
in fehlendem Interesse, endlich in Bedingungen der Ermüdung und Übung,
die beobachteten Abweichungen zwischen den Erscheinungen und ihrer Reproduktion
ihren Grund haben. Wegen dieser hier im Vordergrund stehenden Rücksicht
auf die zukünftige Beeinflussung der Geistestätigkeit des Kindes
und auf die Notwendigkeit, die erforderlichen Angriffspunkte für eine
solche Beeinflussung zu finden, setzt überhaupt die Pädagogik
mehr als andere Disziplinen der angewandten Psychologie eine enge Anlehnung
an die reine Psychologie voraus, indem entweder die Resultate einer Deutung
mit Hilfe der bekannten Ergebnisse der letzteren bedürfen, oder aber
psychologische Untersuchungen fordern, die dann auch ein theoretisches
Interesse besitzen können.
Nicht anders verhält es sich mit den sogenannten
"Gedächtnisversuchen", die ja in der experimentellen Psychologie der
Gegenwart eine so vorwaltende Rolle spielen, daß man wohl ungefähr
die Hälfte der alljährlich produzierten experimentell-psychologischen
Arbeiten der Gedächtnispsychologie zurechnen darf. Auch hier ist es
der Wunsch nach praktischer Anwendung, der diesem Gebiet einen so großen
Vorzug vor anderen verleiht, besonders wenn man bedenkt, daß die
meisten Arbeiten über Vorstellungsassoziationen und ähnliche
irgendwie mit den Gedächtniserscheinungen affiliierte Funktionen ihrem
Zweck nach ebenfalls hierher gehören. Auch in dieser vorzugsweise
der Pädagogik zugewandten Disziplin der angewandten Psychologie lassen
sich wieder zwei Richtungen unterscheiden, deren eine sich fast ausschließlich
direkt um praktisch verwertbare Endergebnisse bemüht, ohne sich viel
um deren psychologische Begründung zu kümmern, während die
zweite neben dem praktischen zugleich ein gewisses theoretisches Interesse
im Auge hat, insofern auch bei ihr die Untersuchung schließlich zu
Aufgaben einer rein psychologischen Analyse hinüberführt; Der
ersten Art sind z. B. die Experimente über "Ökonomie und Technik
des Auswendiglernens". Denn bei ihnen handelt es sich im wesentlichen nur
um die Frage, welche der verschiedenen didaktischen Methoden, die hier
möglicherweise angewandt werden können, am raschesten und sichersten
zum Ziel führt. Zur zweiten Art gehören dagegen die Versuche,
in denen man die Unterschiede der Gedächtnisbegabung festzustellen,
die Bedingungen unzulänglicher Gedächtnisleistungen, die Hilfsmittel
solchen Mängeln abzuhelfen u. a. zu ermitteln sucht. Denn hier weist
überall wieder die Untersuchung, selbst da, wo sie bloß den
Zwecken des Unterrichts und der Erziehung dienen will, auf die in das Gebiet
der reinen Psychologie hereinreichende Analyse der Faktoren hin, aus denen
sich die Endergebnisse zusammensetzen.
Nun ist einleuchtend, daß die Aufgaben der
zweiten Art, bei denen ein Anwendungsgebiet der Psychologie, wie die Pädagogik,
in engerem Konnex und offenbar auch in fruchtbarerer Wechselwirkung mit
der reinen Psychologie steht, gegenüber den Aufgaben der ersten Art
eine ungleich höhere Wichtigkeit besitzen. Es ist ja gewiß nützlich,
unter den verschiedenen Lernmethoden die zweckmäßigste zu ermitteln.
Dennoch kann sich dieser Zweck nicht entfernt mit der Tragweite messen,
welche der Analyse der einzelnen psychischen Faktoren zukommt, aus denen
sich die individuellen und die typischen Eigentümlichkeiten der Gedächtnisbegabung
zusammensetzen, und die ihrerseits wieder praktisch wichtige Folgerungen
für die allgemeinen Unterrichtsmethoden ergeben können. Dies
spricht sich auch darin aus, daß zu jenen rein technischen Lernexperimenten
eine besondere psychologische Vorbildung eventuell gar nicht erforderlich
ist, während eine solche natürlich im zweiten Fall nicht entbehrt
werden kann. Auch wird wohl jeder erfahrene Pädagoge zugeben, daß
für die allgemeinen Aufgaben der Erziehung und des Unterrichts eine
allseitige psychologische Bildung ungleich fruchtbarer ist, als die Ansammlung
einzelner technischer Erfahrungen auf Grund eigener oder fremder Experimente.
Zugleich berühren sich hier jene tiefer dringenden Anwendungen der
Psychologie unmittelbar mit einem selbst schon in das Gebiet der reinen
Psychologie hereinreichenden Zwischengebiet: mit der Psychologie des Kindes,
die einerseits unter dem rein theoretischen Gesichtspunkt der psychischen
Entwicklungsgeschichte zugehört, anderseits aber wegen ihrer Bedeutung
für die Fragen der Erziehung und des Unterrichts, sowie in Anbetracht
des hier vornehmlich dem Lehrer zu Gebote stehenden reichen Materials von
Erfahrungen enger als andere Teile der Psychologie an die Pädagogik
gebunden ist. Darum ist gerade auf diesem Gebiete und zum Teil unter dem
Einfluß der von der experimentellen Pädagogik ausgehenden Anregungen
ein erfreulicher Wetteifer zwischen einzelnen lebhafter für die Fragen
der Erziehung interessierten Eltern und Pädagogen in der Sammlung
von Beobachtungen über die seelische Entwicklung des Kindes entstanden.
So tritt hier vor allem die Pädagogik zugleich nehmend und gebend
der Psychologie gegenüber. Nehmend, da die Grundanschauungen, von
denen die psychologische Beobachtung des Kindes geleitet wird, mit den
allgemeinen Ergebnissen der reinen Psychologie in Einklang stehen müssen.
Gebend, insofern die psychische Entwicklungsgeschichte ein wichtiger Teil
der Psychologie selbst ist. Auf diese Weise gestaltet sich vor allem hier
das Verhältnis zwischen beiden Gebieten, dem theoretischen und dem
praktischen, zu einer fruchtbaren Wechselwirkung, die zu gemeinsamer Arbeit
und günstigen Falls zur Verbindung des rein psychologischen und des
pädagogischen Interesses in einer und derselben Persönlichkeit
führen kann.
Nicht anders als die Pädagogik in diesen in
die psychische Entwicklungsgeschichte hereingreifenden Fragen steht nun
die große Anzahl jener Geisteswissenschaften der Psychologie gegenüber,
die nicht durch einzelne praktische Anwendungen, sondern durch die Vertiefung
in die psychologische Seite ihrer Probleme in gewissem Sinn zu Anwendungsgebieten
der Psychologie geworden und im Grunde auch immer gewesen sind. Nur daß
die Erkenntnis, sich bei solchen Aufgaben an die wissenschaftliche Psychologie
anlehnen zu müssen, statt den beliebig aufgerafften Eingebungen der
Vulgärpsychologie oder, was damit in der Regel zusammenfällt,
einer veralteten und planlosen Vermögenspsychologie zu folgen, allmählich
in die weiteren Kreise der beteiligten Forscher zu dringen beginnt. In
erster Linie stehen hier die Gebiete, die man wohl am zutreffendsten als
die "vergleichenden und historischen Geisteswissenschaften" bezeichnen
kann, wobei diese beiden Attribute nicht als alternativ, sondern durchweg
als koordiniert zu betrachten sind. Dahin gehören Mythologie, Sprach-,
Kunst-, Religionswissenschaft, schließlich auch die Soziologie mit
ihren Zweiggebieten, der Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft, der Sitte,
des Rechts, des Staates, der Wirtschaft. Alle diese Wissenschaften sind
vergleichend und historisch zugleich. Nicht nur muß die ethnologische
Vergleichung ergänzend eintreten, wo die Kontinuität der geschichtlichen
Zustände im Stiche läßt, sondern die historische Forschung
selbst bedient sich intensiv wie extensiv der vergleichenden Methode. Intensiv,
indem sie die Phasen einer und derselben geschichtlichen Entwicklung in
ihrer Aufeinanderfolge; extensiv, indem sie verschiedene, einander parallel
gehende Entwicklungen vergleicht. Alle diese Untersuchungen führen
aber schließlich auf psychische Motive und psychophysische Bedingungen
zurück, bei deren Erforschung notwendig die allgemeine Psychologie
mitwirken muß, indes zugleich infolge des weit über das individuelle
Seelenleben hinausreichenden Umfangs der Probleme der Schauplatz der seelischen
Erscheinungen selbst sich erweitert. Daher nun die in jenen Anwendungsgebieten
gewonnenen Ergebnisse wiederum auf die individuelle Psychologie, von der
sie ausgegangen sind, nach den verschiedensten Richtungen hin Licht werfen.
Insbesondere ist das überall da der Fall, wo das Individuum teils
von Anfang an unter dem Einfluß der es umgebenden historischen Bildungen
steht, teils in irgend einem Zeitpunkt seines Lebens mit diesen in Berührung
kommt. Eben diese Abhängigkeit der in das individuelle Leben hereinreichenden
Ergebnisse solcher Entwicklungen bewirkt es aber zugleich, daß die
individuelle Psychologie und Entwicklungsgeschichte zwar ein unentbehrliches,
immer jedoch ein unzulängliches Hilfsmittel bei der psychologischen
Untersuchung solcher Erzeugnisse des in langer Tradition zur Entfaltung
gelangten geistigen Lebens ist. Anderseits vermag dagegen die psychologische
Analyse jener Gesellschaftserzeugnisse auf diejenigen Prozesse Licht zu
werfen, die der individuellen Entwicklungsgeschichte nur unter sehr beschränkten
Bedingungen zugänglich sind. So gibt die Psychologie des Kindes zwar
einige wertvolle Fingerzeige für die Lösung des allgemeinen Problems
der Sprachentwicklung; doch die hauptsächlichen Aufschlüsse wird
hier auch die reine Psychologie der vergleichenden und der historischen
Sprachwissenschaft und der psychologischen Beleuchtung der von ihnen gebotenen
Tatsachen entnehmen müssen. Für die psychologische Entwicklungsgeschichte
der Kunst bietet ferner das Kind nur dürftige Analogien zu den der
Hauptsache nach der Ethnologie zu entnehmenden Zeugnissen. Vollends der
Versuch, ein primitives mythologisches Denken oder die Entstehung der Religion
aus dem Anschauungskreis unseres heutigen Kindes heraus erklären zu
wollen, hat noch immer, wo er unternommen wurde, zu gänzlich willkürlichen
und wertlosen Konstruktionen geführt. Umgekehrt ist die Sprachpsychologie
die Hauptquelle für die allgemeine Psychologie der Begriffs- und Gedankenbildung.
Nicht anders verhält sich die psychologische Entwicklungsgeschichte
der Kunst und des Mythus zur Psychologie der Phantasie überhaupt usw.
Darin liegt der Grund für die Zusammenfassung aller dieser Gebiete
psychologischer Betrachtung in dem Begriff der "Völkerpsychologie".
Dieser wird aber damit zugleich die doppelte Stellung eines Anwendungs-
und eines Teilgebietes der Psychologie angewiesen. Das erstere ist sie,
insofern selbstverständlich die psychologische Analyse aller jener
psychischen Gemeinschaftserzeugnisse eine vorhergehende Analyse der einfacheren
individuellen Bewußtseinsphänomene voraussetzt; das letztere,
weil erst sie zu einer Interpretation aller der psychischen Bildungen führen
kann, die das individuelle Bewußtsein den Einflüssen seiner
Umgebung verdankt – Einflüssen, die selbst wieder nur aus ihrer eigenen
meist weit zurückreichenden Entwicklungsgeschichte zu begreifen sind.
In dieser Abhängigkeit von der historischen Entwicklung, für
die sie ein tieferes psychologisches Verständnis gewinnen soll, tritt
zudem die Völkerpsychologie in engen Kontakt mit allen anderen Zweigen
historischer Forschung bis herauf zu ihrer Vereinigung zur allgemeinen
Geschichte und zu der die Summe ihrer Ergebnisse zusammenfassenden philosophischen
Geschichtsbetrachtung. Wenn nun aber in den anderen, direkt auf die Zeugnisse
des individuellen Bewußtseins zurückgehenden Gebieten der angewandten
Psychologie, vor allem in der Pädagogik, die hier eine typische Bedeutung
besitzt, die Anwendung selbst eine doppelte ist, einmal nämlich in
der Übertragung einzelner praktisch verwertbarer Ergebnisse und Methoden,
sodann nicht minder in der Verwertung der gesamten in der reinen Psychologie
gewonnenen Anschauungen besteht, so ist bei allen jenen in die historischen
Erkenntnisgebiete einmündenden weiteren Anwendungen von der Völkerpsychologie
an bis herauf zur allgemeinen Geschichte nur noch die zweite übrig
geblieben. In keiner dieser historischen Disziplinen kann man einen Schritt
tun, ohne auf Probleme zu stoßen, die im letzten Grunde psychologischer
Natur sind und daher teils direkt, teils und vor allem durch die Vermittlung
der Völkerpsychologie auf die reine Psychologie zurückführen.
Aber nirgends handelt es sich dabei um eine unmittelbare Verwertung einzelner,
aus dem gesamten Zusammenhang des seelischen Lebens losgelöster Ergebnisse,
oder gar um eine Übertragung irgend welcher in der experimentellen
Psychologie benutzter technischer Methoden. Vielmehr ist es überall
nur die wissenschaftliche Gesamtauffassung der psychischen Vorgänge,
ihrer Beziehungen und Wechselwirkungen und der ihnen zu entnehmenden Gesetze
des geistigen Lebens, die hier zur Anwendung kommen kann. Und eben darin
besteht nicht zum wenigsten die Hilfe, die die Völkerpsychologie ihrerseits
wieder der Gesamtheit der historischen Geisteswissenschaften gewähren
kann, daß uns in den von ihr untersuchten Gebieten des geistigen
Lebens infolge der relativ einfachen und einheitlichen Beschaffenheit der
Aufgaben die psychischen Zusammenhänge des geschichtlichen Werdens
am klarsten entgegentreten. Zugleich ist aber die Völkerpsychologie
ohne Frage dasjenige Anwendungsgebiet auf dem der Streit abweichender Grundanschauungen
über Wesen und Zusammenhang der psychischen Vorgänge am meisten
zu seiner Entscheidung drängt und am sichersten eine solche finden
muß. Denn wenn es die letzte Aufgabe der Psychologie ist und immer
bleiben wird, das geistige Leben in allen seinen Erscheinungen verstehen
zu lernen und dadurch der Gesamtheit der Geisteswissenschaften eine Grundlage
zu bieten, so muß es sich vor allem an der Anwendung auf die fundamentalen
Gebiete der Geisteswissenschaften zeigen, welche der Grundlagen, die man
der Psychologie selber zu geben sucht, sich bewährt oder nicht.
II.
Unten den verschiedenen Anwendungsgebieten der Psychologie,
deren oben gedacht wurde, ist nun die Pädagogik, wenn sie auch
im Hinblick auf die ungleich weiter reichenden theoretischen Aufgaben der
Völkerpsychologie nicht das absolut wichtigste sein mag, doch zweifellos
eines der wichtigsten. Sicherlich steht sie aber allen anderen darin voran,
daß in ihr praktische und theoretische Interessen sich begegnen,
und daß hier vor allem die dringlichste aller praktischen Fragen,
die nach der Erziehung der kommenden Geschlechter und damit die nach der
Zukunft der Kultur selbst, an die Türen pocht. So sind es denn auch
die drei Aufgaben, die möglicherweise einer angewandten Psychologie
gestellt werden können, und von denen in den anderen Anwendungsgebieten
bald die eine bald die andere ganz zurücktritt, die hier sämtlich
der Untersuchung sich aufdrängen und innerhalb der Pädagogik
selbst sich den Vorrang streitig machen. Wir können diese drei Aufgaben
kurz als die praktisch-technische, die praktisch-theoretische und die rein
theoretische bezeichnen. Zu den praktisch-technischen gehören die
Untersuchungen über die zweckmäßigsten Lern- und Lehrmethoden,
über die Zeitverhältnisse der Erholung und Übung bei verschiedenen
Arten geistiger Arbeit, die damit zusammenhängenden wünschenswerten
Erholungspausen, Zeitdauer und Verteilung der Arbeit usw. Zu den praktisch-theoretischen
kann man die Ermittelungen über die Unterschiede der Begabung, der
Altersstufen, der Geschlechter, über Hilfsmittel zur Erweckung der
Aufmerksamkeit und des Interesses und ähnliche zählen. Endlich
als eine diese Gruppe ergänzende und sie beeinflussende, aber an sich
rein theoretische Aufgabe bietet sich die Entwicklungsgeschichte des Kindes
mit ihren Verzweigungen nach den verschiedenen Funktionsgebieten, wie Ausdrucksbewegungen,
Willenshandlungen, Intelligenzäußerungen, Sprache usw. So selbstverständlich
es nun ist, daß diese drei Gruppen vielfach ineinander eingreifen,
und daß dabei namentlich die dritte ebenfalls den praktischen Interessen
dienstbar wird, so leidet es doch keinen Zweifel, daß vor allem diese
letztere eine umfassende Orientierung in der allgemeinen Psychologie und
eine womöglich durch selbständige Arbeit erworbene psychologische
Gesamtauffassung voraussetzt. Nur unter dieser Bedingung wird sie dann
auch wiederum der reinen Psychologie förderlich sein und zur Vertiefung
der anderen vorwiegend praktischen Teile der experimentellen Pädagogik
beitragen können. Umsomehr freilich erwächst daraus der reinen
Psychologie die Forderung, diejenigen Probleme, die ein voll ausgebildetes
Bewußtsein und in vielen Fällen eine besondere Schärfe
der psychologischen Beobachtungsgabe voraussetzen, in möglichst umfassender
Weise zu bearbeiten. Denn es ist einleuchtend, daß erst auf Grund
der unter solchen Bedingungen möglichen exakten Untersuchung der allgemeinen
Bewußtseinsprobleme auch eine fruchtbare Erledigung der Aufgaben
der psychischen Entwicklungsgeschichte möglich ist.
Nun stehen aber offenbar gerade dieser letzten Forderung
Widerstände im Wege, die in der die gegenwärtige Psychologie
in weitem Umfange beherrschenden Tendenz nach praktischer Anwendung ihren
Ursprung haben. Da unter diesen Anwendungen die auf die Pädagogik
im Vordergrund stehen, und unter ihnen wieder die praktisch-technischen
Fragen des Unterrichts am ehesten einer verhältnismäßig
raschen Erledigung zugänglich sind, so begreift sich hieraus vor allem
die dominierende Rolle, die heute auch in den Kreisen der reinen Psychologen
die sogenannte "Gedächtnisforschung" spielt. Sie ist in erster Linie
jener "Ökonomie und Technik des Auswendiglernens" zugewandt, deren
Aufgaben sich leicht ohne eine besondere Vertiefung in die zugrunde liegenden
Aufmerksamkeits-, Assoziations- und Reproduktionsprobleme erledigen lassen,
während sie gleichwohl einen unmittelbaren Ertrag für die Zwecke
des Schulunterrichtes in Aussicht stellen. Begreiflich daher, daß
nicht wenige Psychologen hier die Angriffspunkte erblicken, bei denen die
psychologische Arbeit in aller Augen als eine für die Allgemeinheit
nützliche sich dartun lasse, die auf ihrer Seite einigermaßen
mit der Naturwissenschaft und ihren technischen Anwendungsgebieten vergleichbar
sei. Freilich wird dabei wohl nicht zureichend beachtet, daß die
exakte Naturwissenschaft eine lange Geschichte hinter sich hat. In ihr
hat sie sich redlich um die Gewinnung jener allgemeinen theoretischen Grundlagen
abgemüht, auf denen sie überall erst den reichen Ertrag technischer
Anwendungen gewinnen konnte, durch welchen die Praxis mit überreichen
Zinsen der Wissenschaft das Kapital der aufgewandten geistigen Arbeit heimzahlte.
So verlockend daher die Aussicht sein mag, der Psychologie einen ähnlich
lohnenden Ertrag aus ihren praktischen Anwendungen in den an sich nicht
minder wichtigen Gebieten des Unterrichts und der Erziehung zu sichern,
so sollte doch nicht übersehen werden, daß die heutige Lage
der Psychologie und diejenige, in der sich etwa Physik und Chemie im Moment
ihres Überganges in das Zeitalter ihrer großen technischen Anwendungen
befanden, wesentlich verschieden sind. Jene technischen Anwendungsgebiete
der Naturwissenschaften erwuchsen aus einer langen, wesentlich dem theoretischen
Interesse zugewandten vorangegangenen Entwicklung. Wo ein Gebiet ursprünglich
selbst schon in einem praktischen Berufe wurzelte, wie dies ja zumeist
für die Chemie zutrifft, die im 18. und noch teilweise im Beginne
des 19. Jahrhunderts aus der Pharmazie hervorging, da geschah dies nicht
sowohl aus den eigensten Interessen dieser praktischen Mutterdisziplin
heraus, sondern umgekehrt dadurch, daß die Pharmazeuten bei ihren
Arbeiten auf rein theoretische Fragen stießen, die sie nun auch zunächst
in rein theoretischem Interesse bearbeiteten, und durch die sie auf Bahnen
geführt wurden, die mit der Herstellung der Arzneimittel absolut nichts
mehr zu tun hatten. So kam es denn auch, daß, als nun späterhin
in dem fortgeschritteneren Stadium der Entwicklung die Wissenschaft wiederum
zu technischen Anwendungen führte, diese zum größten Teil
auf ganz anderen Gebieten lagen als da, wo zum erstenmal aus der Apothekerpraxis
heraus die Anfänge der modernen Chemie, gewissermaßen als nutzlose
Nebenbeschäftigungen des Pharmazeuten, erwachsen waren. Andere Gebiete
der Technik und nicht zum wenigstens die in die Gestaltung des modernen
Lebens am tiefsten eingreifenden sind aber unmittelbar aus rein theoretischen
Forschungen hervorgegangen. Noch ein Faraday hat bei seinen epochemachenden
Untersuchungen über elektrische Fernwirkungen und magnetoelektrische
Wirkungen zunächst nur an das theoretische Interesse gedacht, das
ihn vornehmlich an das Problem der Wechselbeziehungen der Naturkräfte
fesselte. Ja selbst heute, wo uns die ungeahnten technischen Anwendungen
der exakten Naturwissenschaften umgeben, sehen wir noch Forscher genug,
die aus rein wissenschaftlichen Motiven, ohne an eine praktische Verwendung
ihrer Arbeiten zu denken, ihre Wege gehen. Und noch heute können die
wichtigsten praktischen Anwendungen da erwachsen, wo man ursprünglich
nicht sie, sondern nur die theoretische Seite der Probleme im Auge hatte.
So ist z. B. H. C. Röntgen zur Entdeckung der nach ihm benannten
Strahlen durch Untersuchungen geführt worden, denen jede solche Rücksicht
ferne lag; und an der merkwürdigen Permeabilität undurchsichtiger
Körper für diese Strahlen interessierte ihn in erster Linie nicht
der praktische Nutzen für die pathologische und chirurgische Diagnose,
sondern wiederum die rein theoretische Frage nach der physikalischen Natur
dieser Strahlen. Nachdem Physik und Chemie eine so große Fülle
technischer Gebiete hervorgebracht haben, ist es dann allerdings begreiflich,
daß nun auch wiederum die Praxis vielfach zu Untersuchungen anregt,
die zugleich von theoretischem Interesse sind, oder daß sie auch
direkt an die theoretische Wissenschaft Fragen stellt, deren Beantwortung
sie auch für ihre Zwecke zu verwerten hofft. Aber der allgemeine Grundsatz,
daß die Wissenschaft zunächst um ihrer selbst willen da ist,
und daß sie auch den Zwecken der Praxis am besten dient, wenn sie
sich in erster Linie durch die Probleme rein theoretischer Erkenntnis leiten
läßt, ist heute noch unerschüttert; und er hat nicht zum
wenigsten auch innerhalb der Technik in den Mitteln, welche Unternehmungen,
wie die großen Zeißwerke in Jena oder einige große chemische
Fabriken, außerhalb des Kreises ihrer eigenen praktischen Sphäre
der Wissenschaft zur Verfügung stellen, seinen Ausdruck gefunden.
Indem sich nun die experimentelle Psychologie schon
in den bescheidenen Anfängen, in denen sie sich heute noch befindet,
ringsum von der gewaltigen Macht technischer und industrieller Unternehmungen,
die das wirtschaftliche Leben beseelen, und denen die Naturwissenschaft
fortan neue Mittel zur Verfügung stellt, umgeben sieht, ist es begreiflich
genug, daß auch sie von diesem Drang nach nutzbringender Anwendung
erfaßt wird, und daß ihr als das hierzu geeignetste Gebiet
das der Pädagogik und ihrer praktischen Disziplinen erscheinen muß.
Kommt ihr doch hier aus dem Kreise der Pädagogen selbst ein lebhaft
gefühltes Bedürfnis nach tieferer psychologischer Begründung
ihrer Erfahrungen und nach Überwindung der so vielfach zur bloßen
Schablone gewordenen Traditionen philosophischer Schulpädagogik entgegen.
Daß dabei der gewaltige Unterschied allzu sehr übersehen wird,
der zwischen den reich ausgebildeten Zweigen der exakten Naturwissenschaft,
deren technische Anwendungen sich überall auf festen Grundlagen bewegen,
und einer erst tastend vordringenden, in den wichtigsten Fragen noch zwischen
weit divergierenden Anschauungen schwankenden Disziplin, wie es heute noch
die experimentelle Psychologie ist, besteht, ist verständlich und
einigermaßen verzeihlich. So entsteht dann aber aus dem Drang nach
nutzbringender Anwendung naturgemäß die weitere Tendenz, vor
allem jenen Gebieten der Pädagogik zu Hilfe zu kommen, für die
eine solche am unmittelbarsten in den Ergebnissen der Gedächtnispsychologie,
der Versuche über Ermüdung und Übung usw. bereit zu liegen
scheint. Zudem haben alle diese Untersuchungen den Vorteil, daß ihre
Ergebnisse, wenn sie überhaupt tatsächlich sichergestellt sind,
im wesentlichen außerhalb des Streites der Meinungen über die
allgemeinen Anschauungen und die tiefer gehenden Probleme stehen. Andererseits
gestatten sie aber aus demselben Grunde für die Pädagogik nur
Anwendungen auf solche Fragen, bei denen die Probleme der psychologischen
Entwicklungsgeschichte und andere, die mit den Grundfragen der Psychologie
selbst zusammenhängen, zurücktreten. Damit ist die praktische
Psychologie in diesen pädagogischen Anwendungen unter den drei Gebieten,
deren oben gedacht wurde, hauptsächlich auf das erste, das praktisch-technische
eingeschränkt. Dem entspricht nun auch die große Rolle, welche
die Versuche über die formalen Leistungen des Gedächtnisses,
die Methoden des Memorierens und dergleichen, gegenwärtig sowohl in
der experimentellen Psychologie wie Pädagogik spielen. Zwar ist der
Standpunkt, von welchem aus diese Versuche unternommen werden, insofern
ein einigermaßen verschiedener, als die Psychologen sich mit ihrer
Hilfe Aufschluß über die Assoziations- und Reproduktionsgesetze
verschaffen wollen, während die Pädagogen dieselben unmittelbar
in den Dienst der Lernpraxis zu stellen pflegen. Aber dieser abweichende
Standpunkt begründet weder einen wesentlichen Unterschied der Methoden,
noch der Verwertung ihrer Ergebnisse. Denn auch die Gedächtnispsychologie
pflegt sich kaum auf eine nähere Analyse der elementaren psychischen
Faktoren einzulassen, aus denen sich die komplexen Resultate zusammensetzen.
Hieraus begreift es sich zugleich, daß Versuche völlig übereinstimmenden
Inhalts nach Belieben von ihren Autoren bald der Psychologie, bald der
experimentellen Pädagogik zugerechnet werden. Nicht minder wird aus
solchem Ineinanderfließen der Gebiete verständlich, daß
die experimentelle Pädagogik gelegentlich den Anspruch erhebt, eine
selbständige empirische Wissenschaft zu sein1).
Durch diese Auffassung gewinnt dann zugleich jener Verzicht auf eine psychologische
Analyse der Ergebnisse von Versuchen, die ohnehin, wie man annimmt, der
praktischen Anwendung keinen besonderen Nutzen bringen, eine gewisse Rechtfertigung.
1) Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik, 1907, I, S. 5.
Daß diese vorwiegend praktische Strömung
in der Psychologie der Gegenwart speziell für das Anwendungsgebiet
der Pädagogik nicht ganz ohne Nutzen gewesen ist, wird man nicht leugnen
wollen. Bleibt es doch immer wertvoll, wenn der Lehrer und Erzieher die
Resultate seiner eigenen praktischen Erfahrung in Schule und Haus durch
deutlich greifbare experimentelle Resultate bestätigt oder traditionelle
Vorurteile durch sie widerlegt sieht. Aber diesen Vorteilen stehen ebenso
unzweifelhaft schwere Nachteile sowohl für die reine Psychologie wie
für die Pädagogik gegenüber. Der Psychologie verengt sich
unter dem Drang der praktischen Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse naturgemäß
das Gebiet der von ihr bearbeiteten Aufgaben in einer Weise, die nicht
bloß andere, für die theoretische Erkenntnis der psychischen
Vorgänge wichtigere unverhältnismäßig zurückdrängt,
sondern auch der Einreihung der gewonnenen Ergebnisse in den allgemeineren
Zusammenhang des psychischen Lebens im Wege steht. Die Pädagogik wird
durch die gleiche Beschränkung zu einer schablonenhaften Anwendung
experimenteller Ergebnisse veranlaßt, bei der leicht die Einsicht
in die Bedingungen und die Grenzen solcher Anwendung abhanden kommt. Indem
sich hierzu noch die von der Psychologie bereits eingeschlagene Richtung
auf unmittelbar praktisch verwertbare Versuche gesellt, treten in ihr vollends
die äußerlichen, technischen Fragen des Unterrichts unverhältnismäßig
in den Vordergrund. Wird sich doch nur zu leicht der Pädagoge, der
sich überall von Lern- und anderen Gedächtnisversuchen umgeben
sieht, wiederum dem alten, wie man hoffen durfte, glücklich überwundenen
Aberglauben hingeben, die Technik des Auswendiglernens sei eine Hauptaufgabe
des Unterrichts, und durch eifrige Gedächtnisübung seien schließlich
alle Ziele der geistigen Bildung erreichbar. Sollte dies die Wirkung sein,
die die Übertragung des Experimentes aus der Psychologie in die Pädagogik
hervorbringt, so würde sicherlich der Schaden, den sie stiftet, die
Vorteile, die sie der Lern- und Arbeitstechnik bieten mag, weit überwiegen.
So unbestreitbar jener Satz der "Wanderjahre" daher ist, daß man
nicht bloß wissen soll, sondern auch anwenden, so bedenklich ist
es, wenn man anwenden will, wo das Wissen noch allzu beschränkt ist
oder auf allzu unsicheren Grundlagen ruht.
Doch diese Rückwirkungen auf die Pädagogik
liegen dem Kreis meiner eigenen Studien allzu fern, als daß ich dieses
Thema weiter verfolgen möchte. Das Ziel dieser kritischen Erörterungen
ist vielmehr das andere, auf die bedenklichen Rückwirkungen hinzuweisen,
die jenes praktische Streben mit seinem pädagogischen Hintergrund
auf die Psychologie selbst ausübt. Indem diese sich auf die Erledigung
der hier in Frage kommenden Aufgaben im wesentlichen beschränkt, wandelt
sich nämlich mit einer Art innerer Notwendigkeit die Tendenz, psychologische
Ergebnisse zu pädagogischen Zwecken anzuwenden, in die entgegengesetzte
um, praktisch-pädagogische Experimente zu Grundlagen der psychologischen
Untersuchung zu nehmen. Betrachtet man erst die experimentelle Pädagogik
als eine ähnlich selbständige Wissenschaft, wie die experimentelle
Psychologie, so wird nun, je nachdem es vorteilhaft scheint die
eine oder die andere Richtung einzuschlagen, die Wahl um so leichter zugunsten
des Primats der Pädagogik ausfallen, je mehr von vornherein die Fragen
der psychologischen Untersuchung selbst bereits nach den Bedürfnissen
der pädagogischen Anwendungen orientiert sind. Die notwendige Folge
ist eine Verengerung des Gesichtskreises, in der eben mehr und mehr die
Psychologie zu einer angewandten Pädagogik zu werden droht. Dann stellt
sich der pädagogische Psychologe nicht bloß seine Aufgaben nach
den Bedürfnissen der Pädagogik, sondern er entnimmt auch, ohne
sich viel um anderwärts gewonnene Erfahrungen zu kümmern, das
Material zu ihrer Lösung wiederum dem Umkreis pädagogischer Beobachtungen
und Experimente. So droht schließlich – man entschuldige das Wort
– die Psychologie selbst zur Beute der Pädagogik zu werden: Arbeiten
über rein psychologische Themata schlagen nicht nur unversehens in
pädagogische Aufgaben um, sondern sie bedienen sich auch fast ganz
eines zu pädagogischen Zwecken gesammelten Materials.
Diese zuerst geflissentlich gewählte und dann
durch den einmal eingeschlagenen Weg unwillkürlich vorgezeichnete
Einseitigkeit hat nun notwendig drei bedenkliche Folgen, von denen bald
die eine, bald die andere mehr hervortreten kann, die aber, wie zumeist
solche aus gemeinsamer Quelle entsprungene Fehler, im ganzen die Tendenz
zeigen, sich wiederum gegenseitig zu verstärken. Die erste dieser
Folgen besteht in der Neigung zu übereilten Verallgemeinerungen von
Ergebnissen, die, unter beschränkten Bedingungen gewonnen, weit über
die ihnen hierdurch vorgezeichneten Grenzen ausgedehnt werden. Dies ist
um so unvermeidlicher, je mehr die selbstgewählte Beschränkung
des Standpunktes alles das leicht übersehen läßt, was jenseits
seines Horizontes liegt. Dazu kommt als eine weitere Folge die Neigung
zu abschließenden Begriffsbildungen, die, wiederum aus einer begrenzten
Erfahrung geschöpft, nachträglich benutzt werden, um ihnen die
Tatsachen der Beobachtung zu subsumieren, so daß nun diese Allgemeinbegriffe
als Erklärungsgründe der psychischen Vorgänge dienen. Auf
solche Weise lenkt dann die Untersuchung wieder in die alte Vermögenspsychologie
ein. Gleich dieser verwendet sie Begriffe, die zur ersten praktischen Orientierung
dienlich sein mögen, und die zumeist der Populärpsychologie entlehnt
sind, statt eine eindringende Analyse der Tatsachen vorzunehmen; und sie
verwechselt die Subsumtion unter solche Begriffe mit einer Erklärung
der Vorgänge. Aus beiden Quellen, der übereilten Verallgemeinerung
und der schematisierenden Begriffsbildung, entspringt endlich als eine
dritte Folge die unzulängliche und widerspruchsvolle Interpretation
der Erscheinungen. Sie äußert sich teils darin, daß tatsächlich
vorhandene Bestandteile derselben unberücksichtigt bleiben, während
andere in sie hineingedeutet werden, die eine sorgfältige Beobachtung
oder experimentelle Analyse nicht in ihnen finden kann, und die offenbar
nicht den Tatsachen selbst, sondern den zumeist logischen Überlegungen
des Beobachters entnommen sind. So reicht hier die Reflexions- der Vermögenspsychologie
die Hand, um der Wirklichkeit irgend ein künstliches Begriffsgebilde
zu substituieren. Je mehr aber daneben doch auch dem Bemühen um eine
genaue Beschreibung der Erscheinungen Rechnung getragen wird, um so eklatantere
Widersprüche stellen sich dann zwischen Theorie und Beobachtung schon
in der Darstellung der Ergebnisse ein; und, indem sich unwillkürlich
immerhin ein dunkles Bewußtsein solcher Unzuträglichkeiten geltend
macht, kann es gelegentlich zu einer Vielheit theoretischer Behauptungen
kommen, die in allen Farben schillern und als einziges Resultat dies übrig
lassen, daß sie sich selbst aufheben.
Die Rückwirkungen der praktischen auf die reine
Psychologie in den drei Richtungen, in die ich sie hier zu ordnen versucht
habe, an einer Anzahl von Beispielen aus der Literatur der jüngsten
Vergangenheit nachzuweisen, würde nun, wie ich glaube, wenig ersprießlich
sein, wenn man solche Beispiele den verschiedensten, zum Teil wieder weit
voneinander abliegenden Arbeiten von Psychologen und Pädagogen entnehmen
wollte, wo sie leicht den Anschein des tendenziösen Zusammentragens
vereinzelter Entgleisungen erwecken könnten. Zweckmäßiger
scheint es mir, einer solchen Betrachtung ein einziges Werk zugrunde zu
legen. Auch glaube ich am besten zu tun, wenn ich hierzu nicht die Arbeit
irgendeines subalternen Schriftstellers wähle, sondern die eines Autors,
der sich in der Psychologie wie in der Pädagogik mit Recht eines hohen
Ansehens erfreut, dessen Beispiel aber eben deshalb namentlich auch in
pädagogischen und in andern für psychologische Fragen interessierten
Kreisen leicht Irrungen und Mißverständnisse erzeugen könnte.
Liegt es doch nahe, anzunehmen, daß ein Autor, der sich auf den beiden
Gebieten der Psychologie wie der Pädagogik ausgezeichnet hat, vor
allem da, wo es sich um die Wechselbeziehungen zwischen Theorie und Praxis
handelt, demjenigen, der sich aus eigener Erfahrung kein Urteil zu bilden
vermag, als der zuverlässigste Führer erscheint. In dieser Beziehung
nimmt aber Ernst Meumann, der Verfasser des jüngst erschienenen
Werkes "Intelligenz und Wille" (Leipzig 1908) ohne Frage eine hervorragende
Stellung unter den heutigen Psychologen und Pädagogen ein, durch die
er vor anderen zum Vermittler nach beiden Seiten prädestiniert erscheint.
Um die Psychologie hat er sich durch seine "Beiträge zur Psychologie
des Zeitbewußtseins" sowie durch die sich daran anschließenden
"Untersuchungen zur Psychologie und Ästhetik des Rhythmus" (Philos.
Studien, Bd. 8, 9, 10 und 12) unleugbare Verdienste erworben. Bei den Pädagogen
genießen neben seinen der Psychologie des Kindes und den Lernmethoden
gewidmeten Arbeiten, die den Ertrag seiner pädagogischen Studien zusammenfassenden
"Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und
ihre psychologischen Grundlagen" (2 Bände 1907) ein hohes Ansehen,
und sie haben rasch eine weite Verbreitung in Lehrerkreisen gefunden. Nun
liegt freilich zwischen jenen ersten der reinen Psychologie angehörenden
und diesen neuesten pädagogisch-psycho-logischen Arbeiten mehr als
ein Jahrzehnt, und in dieser Zeit hat das pädagogische Interesse den
Verfasser dieser Schriften fast vorwiegend gefesselt, so daß man
sich nicht wundern kann, wenn sich seine Anschauungen unter diesem Einfluß
mannigfach gewandelt haben. Auch würde es sicherlich verkehrt sein,
solche Wandlungen deshalb verurteilen zu wollen, weil sie von praktischen
Aufgaben ausgegangen sind. Im Gegenteil, was theoretisch berechtigt ist,
das muß sich schließlich ja auch in der Anwendung bewähren.
Immerhin, ein Dezennium praktisch gerichteter Arbeit ist auf der andern
Seite auch lang genug, um jener Tendenz nach einer rückwärts
gerichteten Einwirkung, also nach einer Verallgemeinerung, Übertragung
und erklärenden Anwendung einer von praktischen Gesichtspunkten bestimmten
Betrachtung auf theoretische Probleme zu einem allzu großen Einflusse
zu verhelfen. Hier ist nun das erwähnte Buch über "Intelligenz
und Wille", wie mir scheint, vor andern geeignet, den Folgen einer solchen
Rückwirkung näher zu treten. Es ist nach einer längeren,
fast ganz der pädagogischen Psychologie gewidmeten Pause wieder das
erste Werk, das sein Verfasser einem Thema der reinen Psychologie gewidmet
hat. Mögen es gleich auch hier zunächst pädagogische Interessen
sein, die ihn zu diesem Thema geführt, und die demnach die ganze Tendenz
seiner Bearbeitung wesentlich mit bestimmt haben, an sich ist doch die
Frage nach dem Verhältnis der im Titel genannten psychischen Funktionsgebiete
eine in erster Linie theoretische; und als eine solche ist sie auch von
dem Verfasser behandelt. In diesem Sinne ist daher dieses Buch in besonderem
Maße geeignet, die Folgen zu studieren, welche die in der Gegenwart
in weitem Umfang die Psychologie beherrschende praktische Tendenz für
die Psychologie selbst mit sich führt.
Vielleicht ließe sich dagegen einwenden, es
handle sich hier um ein populäres, für ein größeres
Publikum bestimmtes Buch, an das man den Maßstab einer strengeren
wissenschaftlichen Kritik nicht anlegen dürfe. Aus zwei Gründen
kann ich mich jedoch dieser Ansicht nicht anschließen, bin vielmehr
geneigt zu glauben, daß eine Arbeit, die eben durch ihre Popularität
den Anspruch auf weiteste Verbreitung der in ihr vertretenen Anschauungen
verrät, eine um so strengere Prüfung der Probehaltigkeit ihrer
Behauptungen herausfordert. Erstens pflegt der Verfasser einer solchen
populären oder halbpopulären Schrift, um seine Ansichten in ein
möglichst helles Licht zu setzen, diese mit großer apodiktischer
Sicherheit vorzutragen, während ihn anderseits gerade der Anspruch
auf Popularität gegen das Verlangen schützt, seine Sätze
streng beweisen zu müssen. Das "Sic volo sic jubeo" kann darum hier
jeder möglichen Kontrebande verfehlter Definitionen und willkürlicher
Hypothesen das Ansehen unbestreitbarer Wahrheiten verleihen. Zweitens sieht
sich der Autor solcher für das größere Publikum bestimmter
Darstellungen nicht veranlaßt, andere Ansichten zu Worte kommen zu
lassen. Oder wo er dies tut, da liebt er es, deren Vertreter als unbekannte
Größen einzuführen, deren Meinungen sich dann gelegentlich
auch nach Belieben modeln lassen, um ihre Unzulänglichkeit anschaulich
zu machen. Meist genügt es sogar, diese einfach als "falsch" oder
"ganz irrtümlich" zu bezeichnen, so daß der Leser den Eindruck
gewinnt, die so zurückgewiesenen abweichenden Ansichten seien Meinungen
einiger sonderbarer Schwärmer, während das, was der Autor selbst
vortrage, die lautere oder mindestens zur Zeit in der Wissenschaft anerkannte
Wahrheit bedeute. Auch Meumann hat von diesen beiden Mitteln reichlich
Gebrauch gemacht. Aber ich will dem hier nicht näher nachgehen. Die
unbekannten Autoren, die gelegentlich in dieser Weise abgefertigt werden,
mögen samt ihren Meinungen ganz aus dem Spiel bleiben. Ich werde mich
darauf beschränken, die drei Richtungen, in denen sich die Rückwirkungen
der wesentlich nach pädagogischen Rücksichten bestimmten Psychologie
auf die reine Psychologie geltend machen, an einigen der hervorstechendsten
Beispiele aus dem genannten Werk zu erläutern. Zugleich bemerke ich
ausdrücklich, daß auch diese Schrift die bekannten Vorzüge
Meumannscher Darstellung, Klarheit, praktisch-psychologische Erfahrung
und treffende Charakteristik einzelner Persönlichkeiten, nicht vermissen
läßt. Daß ich mich übrigens bei den hier kritisch
zu beleuchtenden Beispielen für jede der oben gekennzeichneten drei
Richtungen auf ein einziges beschränke, wird wohl umsomehr gerechtfertigt
erscheinen, als ich jedesmal das wichtigste, vom Verfasser selbst in den
Vordergrund gestellte, bevorzuge.
III.
In seinen Betrachtungen über den Einfluß
der Übung auf die Leistung "geistiger Arbeit" und der zu ihr erforderlichen
physischen Vorbedingungen erwähnt Meumann, daß Memorierversuche
mit der Aneinanderreihung sinnloser Silben in den anfänglichen Übungsstadien
eine vierzig- bis fünfzigmalige Wiederholung erfordern, damit zwölf
solcher Silben ohne Fehler reproduziert werden können, daß aber,
normale physische und psychische Leistungsfähigkeit vorausgesetzt,
und abgesehen von gewissen Altersgrenzen nach unten und oben, schon nach
kurzer Zeit eine einmalige Wiederholung genügt, um das gleiche Resultat
zu erzielen. Hieraus schließt er erstens, daß, wenn nicht die
Ermüdung im Wege stünde, oder wenn dem Memorierenden die zureichende
Erholung jedesmal vergönnt würde, schließlich, falls nur
die Zeit der Übung lang genug wäre, eventuell 100 sinnlose Silben
nach einer einzigen Wiederholung festgehalten werden könnten. Zweitens
folgert er: "Wenn sich zwei Klavierspieler, von denen der eine eine sehr
große, der andere eine äußerst geringe Anlage zum Klavierspielen
besitzt, bemühen, es durch Übung dahin zu bringen, daß
sie ein technisch sehr schwieriges und zugleich sehr umfangreiches Stück
auswendig, fehlerlos und mit musikalischem Ausdruck zu spielen fähig
sind, so kann das jeder von beiden erreichen, aber der erste wird es relativ
schnell erreichen, der zweite wird ungeheuer viel mehr an Zeit und Übung
aufwenden müssen, und, wenn die angeborene musikalische Begabung nur
eine äußerst schwache ist, wird einfach schon die Zeit und die
physische Ausdauer diesem Ziel eine Grenze setzen. Nehmen wir aber einmal
an, es stände diesem Menschen unbegrenzt viel Zeit und Ausdauer zur
Verfügung, so würde er – soweit es auf die Übung allein
ankommt – sicher zu seinem Ziel gelangen, trotz der Schwäche seiner
Anlage" (S. 43). Diese Erwägungen führen Meumann zu einem
allgemeinen psychologischen Gesetz, das er folgendermaßen formuliert:
"Die Möglichkeit der Steigerung unserer Fertigkeiten durch Übung
ist, abgesehen von den oben angedeuteten Einschränkungen, eine unbegrenzte,
das heißt, wir können durch Übung alles erreichen"
(S. 42).
Daß die Ableitung dieses merkwürdigen
Gesetzes auf zwei unerlaubten Verallgemeinerungen einer beschränkten
Erfahrung beruht, läßt sich wohl kaum bestreiten. Erstens wird
der Begriff der geistigen Arbeit hier von einem Gebiet einfachster Gedächtnisübung
an, das man fast Bedenken tragen muß, ihr überhaupt noch zuzurechnen,
bis zu den höchsten, nur unter den verwickeltsten Bedingungen möglichen
Leistungen unterschiedslos zu einem Ganzen zusammengefaßt; und zweitens
wird das in jenem einfachsten Grenzfall gewonnene Ergebnis auf alle anderen
möglichen Formen geistiger Arbeit übertragen. Um das zu erreichen,
bedient sich zudem der Verfasser einer Fiktion, die niemals in der wirklichen
Erfahrung denkbar ist, der Fiktion nämlich, daß der Übung
eventuell eine unendliche Zeit zur Verfügung stehe. Ich bekenne, daß
ich gerade im Hinblick auf Beobachtungen an Klavierspielern einigen Zweifel
hege, ob sich die Meumannsche Behauptung bestätigen würde,
auch wenn es möglich wäre, seine Fiktion zu verwirklichen. In
der Tat scheint er selbst in dieser Beziehung etwas zweifelhaft zu sein,
wie dies wohl die limitierende Bemerkung andeutet "soweit es auf die Übung
allein ankommt". Da ich jedoch beobachtet zu haben glaube, daß es,
um ein musikalisches Stück mit vollendetem Ausdruck wiederzugeben,
auf die Übung überhaupt nicht ankommt, so kann ich seiner Behauptung
auch mit jener Einschränkung nicht beipflichten. Auf alle Fälle
würde er aber nicht berechtigt gewesen sein, auf Grund solcher ins
Unendliche gehenden Fiktionen das allgemeine Gesetz aufzustellen, der Mensch
könne durch Übung alles erreichen.
Ist dieses Verfahren einer unbegrenzten Verallgemeinerung
höchst beschränkter Erfahrungen vom Standpunkt psychologischer
Methodik aus verwerflich, so kann ich mir aber auch nicht vorstellen, daß
der Hinweis auf eine solche Möglichkeit, durch fortgesetzte Übung
jedes Ziel, auch das der Begabung heterogenste, zu verwirklichen, für
die Pädagogik besonders nützlich sei. Was sollte daraus werden,
wenn der Lehrer im Vertrauen auf die Exaktheit experimenteller Untersuchungen
solche angebliche Gesetze in die Praxis umsetzen wollte? Abgesehen von
diesen immerhin möglichen praktischen Folgen ist aber zu bemerken,
daß die reine Psychologie bei jener Verwertung einer an sich sehr
interessanten experimentellen Tatsache eigentlich leer ausgeht. Indem der
Verfasser ausschließlich der pädagogischen Anwendung solcher
Maßbestimmungen des Gedächtnisumfanges bei einfacher und mehrfacher
Wiederholung der Eindrücke nachgeht, verliert er die zum Verständnis
der psychologischen Bedingungen der so gewonnenen Ergebnisse erforderlichen
Beziehungen zu anderen Erscheinungen aus dem Auge. Er biegt nämlich
die zum Ausgangspunkt dienende empirische Tatsache, daß im allgemeinen
nach zureichender Übung zwölf zusammenhanglose Eindrücke
den Umfang des Gedächtnisses bei einmaliger Einwirkung bezeichnen,
sofort in das Übungsproblem um, ohne der Frage näher zu treten,
wie etwa in der allgemeinen Konstitution des menschlichen Bewußtseins
diese Beschränkung begründet sein möchte. Weist doch hierauf
schon die weitere Tatsache hin, daß die verschiedenen Beobachter
immer wieder annähernd die gleiche Anzahl einfacher Eindrücke,
die nach langer Gedächtnisübung bei bloß einmaliger Einwirkung
fehlerlos reproduziert werden können, als Grenze gefunden haben. So
gibt Ebbinghaus als Resultat seiner sehr sorgfältigen Versuche
sieben sinnlose Laute als solche Grenze an, was in Anbetracht der mannigfachen
individuellen Abweichungen des Gedächtnisses immerhin von der von
Meumann angegebenen Zahl 12 nicht allzuweit abweicht2).
Diese nahe Übereinstimmung der erreichbaren Grenzen macht es doch
wohl schon sehr wahrscheinlich, daß es sich hier nicht um einen von
der zufälligen Übungsstufe abhängigen Befund handelt, über
den durch fortgesetzte Übung beliebig weiter, bis auf 100 und mehr
fortgeschritten werden könnte, sondern um eine Größe, die
mit dem Umfang des Bewußtseins und der Aufmerksamkeit zusammenhängt,
Eigenschaften, die im Grunde ebensowenig durch Übung in erheblichem
Grade verändert werden können, wie etwa der Umfang der hörbaren
Töne oder der im Sonnenspektrum gesehenen Farben. In der Tat stimmen
die Resultate der Memorierversuche in jenem Grenzfall wie unter sich, so
wiederum mit den Messungen über den Umfang der Aufmerksamkeit, bzw.
den Umfang einer in der Apperzeption zusammenzufassenden Gesamtvorstellung
annähernd genug überein, um hier an mehr als eine bloß
zufällige Beziehung denken zu lassen. So ergaben die tachistoskopischen
Versuche 6 bis 10 zusammenhanglose Buchstaben oder sinnlose Silben als
Grenze der unmittelbaren Auffassung eines optischen Gesamteindruckes, und
J. Quandt fand bei der Aufeinanderfolge von Schalleindrücken
bei günstiger Wahl der Zeitintervalle, aber unter Vermeidung jeder
rhythmischen Gliederung, sechs als die Maximalzahl der unmittelbar als
ein einheitliches Ganzes von der Aufmerksamkeit zu erfassenden Eindrücke3).
Da bei den Lernversuchen schwerlich darauf geachtet wurde, ob und inwieweit
eine rhythmische Gliederung der Reihe stattfand, so erklären sich
daraus möglicherweise ebenso die Abweichungen der verschiedenen Beobachter
bei diesen Versuchen voneinander wie von den Resultaten Quandts.
Sollten z. B. bei den von Meumann verwerteten Beobachtungen die
Silben, wozu eine vorwiegende Neigung besteht, nach dem Zweiachteltakt
gruppiert worden sein, so würde die von ihm angegebene Zahl zwölf
der von Quandt gefundenen sechs genau entsprechen, da in diesem Fall der
einzelne Zweiachteltakt einem einfachen Eindruck der nicht rhythmisierten
Reihe äquivalent ist.
2) Ebbinghaus, Über das Gedächtnis, S.
69. Vgl. auch W. G. Smith, Psychol. Review, vol. 3, p. 21 ff.
3) Vgl. meinen Grundriß der Psychologie8,
S. 255f. Quandt, Bewußtseinsumfang für regelmäßig
gegliederte Gesamtvorstellungen, Psychologische Stadien, Bd. l,
S. 137ff., 171f.
IV.
Indem sich Meumann die Aufgabe stellt, die
unter dem Namen der "Intelligenz" vereinigten psychischen Funktionen in
ihre Bestandteile zu sondern, geht er zunächst von dem bereits im
populären Sprachgebrauch ausgeprägten Allgemeinbegriff der Intelligenz
aus, um dann alles das, was in unserem geistigen Leben teils direkt an
jenen Funktionen beteiligt ist, teils hilfreich oder hemmend in dieselben
eingreift, in ihrer Beziehung zu ihnen zu erörtern. Danach bestimmt
er die Intelligenz im allgemeinen als die Fähigkeit, zu denken und
zu urteilen, wobei sich dann die Grade der Intelligenz nach der Selbständigkeit
des Urteils und nach der Originalität und Produktivität des Denkens
bemessen (S. 8 f.). Indem sich nun aber alles Denken und Urteilen in der
Feststellung von Beziehungen zwischen Vorstellungen und Begriffen betätigt,
die in Urteilen ihren Ausdruck finden, ergibt sich schließlich die
Urteilsfähigkeit oder die "beziehende Tätigkeit" als das eigentliche
Wesen der Intelligenz (S. 151). Die Hauptaufgabe der Untersuchung, ihrer
psychologischen Eigenschaften, ihrer verschiedenen Äußerungen
und Formen besteht hiernach in der Feststellung der Wechselbeziehungen
der auf solche Weise wesentlich auf die formalen logischen Funktionen zurückgeführten
eigentlichen Intelligenz mit den niederen psychischen Tätigkeiten.
Einerseits handelt es sich dabei um die Beeinflussung des Denkens durch
diese niederen Tätigkeiten, anderseits um das Eingreifen des Denkens
in jene. Die so als Voraussetzungen und Vorbedingungen der Intelligenz
zu betrachtenden geistigen Fähigkeiten scheidet Meumann in
zwei Gruppen: eine formale, nämlich Aufmerksamkeit,
Übung, Gewöhnung und Ermüdung, und eine materiale,
nämlich Anschauung, Beobachtung, Gedächtnis und Phantasie (14).
Es kann nicht meine Aufgabe sein, dieses hier in
seinen allgemeinen Umrissen angedeutete Schema in seine einzelnen Züge
zu verfolgen. Der wichtigsten unter den "formalen" Voraussetzungen ist
ohnehin schon oben gedacht worden. Als eine für den allgemeineren
Standpunkt des Verfassers beachtenswerte Bemerkung mag hier nur noch beigefügt
werden, daß sich auf jede Art geistiger Leistungen der Übungsfortschritt
eben so sehr erstrecke, wie auf die körperlichen: dies sei "übrigens
vom Standpunkt physiologischer Psychologie aus ganz selbstverständlich,
da nach deren Annahme alle geistige Arbeit zugleich körperliche und
alle körperliche Arbeit zugleich geistige" sei (S. 46). Daß
diese Behauptung eine selbstverständliche Annahme der physiologischen
Psychologie sei, erlaube ich mir zu bestreiten. Ich glaube nicht, daß
jemand, er sei denn ein alle Erfahrung in den Wind schlagender Metaphysiker,
die Arbeit der Atem- oder der Herzbewegungen für eine "geistige Arbeit"
erklären wird. Aber auch der umgekehrten Behauptung, jede geistige
sei zugleich körperliche Arbeit, wird der besonnene Psychologe nur
unter der Voraussetzung zustimmen, daß mit dem "zugleich" lediglich
ein innerhalb der begleitenden Stoffwechselvorgänge stattfindender
Verbrauch latenter Arbeitskräfte gemeint sei, daß aber davon
alles das, was den spezifischen Inhalt und damit den Wert der geistigen
Arbeit ausmache, nicht getroffen werde. Kaum kann man daher annehmen, daß
dies des Verfassers eigene Meinung sei. Dennoch läßt sich nicht
verkennen, daß in dem allumfassenden Gebrauch, den er von dem Begriff
der "geistigen Arbeit" macht, solche extreme metaphysische Hypothesen anklingen.
Auf alle Fälle gibt sich in jenen Behauptungen eine bei einem empirischen
Psychologen befremdliche Neigung kund, aus allgemeinen Begriffen Folgerungen
zu ziehen, ohne erhebliche Rücksicht darauf, ob sie sich in der Erfahrung
bewähren oder nicht. Dies zeigt sich auch bei der Betrachtung der
den Gegensatz zur Übung bildenden "formalen Bedingung" der Intelligenz,
bei der "Ermüdung". Die Wissenschaft, sagt Meumann, macht uns
eine körperliche, aber keine geistige Ermüdung verständlich.
"Warum sollte auch das Bewußtsein oder die Seele ermüden?" Auf
geistiger Seite fehle es uns ganz an Parallelvorgängen zu den das
Wesen der physiologischen Ermüdung verständlich machenden Vorgängen,
des Stoffverbrauches, der Ansammlung von Ermüdungsstoffen usw. Dagegen
haben wir "auf geistiger Seite immer nur die Veränderungen der psychischen
Prozesse selbst vor uns. ..... Auf körperlichem Gebiete haben daher
alle solche Veränderungen, wie Ubungswirkungen, Ermüdung und
Erholung, sowohl eine substantielle wie eine funktionelle Bedeutung, auf
geistigem Gebiete sind sie nur als funktionelle Veränderungen vorhanden"
(S. 64 f.). Es ist klar, daß sich diese Deduktion und die obige von
den Grundlagen der Übung auf metaphysische Voraussetzungen stützen,
die nicht bloß außerhalb einer rein empirischen Betrachtung
des Seelenlebens liegen, sondern die sich auch wechselseitig widersprechen.
Im einen Fall wird das Parallelismusprinzip im Sinne einer realen Identität
des Körperlichen und Geistigen angewandt; im anderen wird dem Geistigen
eine bloß funktionelle Bedeutung zugeschrieben, daher es sich ausschließlich
aus den Veränderungen seiner substantiellen physiologischen Grundlagen
erklären lasse.
Von größerer Bedeutung als solche mehr
metaphysische denn empirische Betrachtungen sind jedoch für das Problem
der Intelligenz die "materialen Voraussetzungen" der letzteren. Jeden der
hier aneinandergereihten Begriffe, Beobachtung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis,
Phantasie, sucht der Verfasser zunächst durch eine möglichst
ihn von den anderen scheidende Definition zu fixieren, um ihn dann im Verhältnis
zu den anderen und in seinen Wechselwirkungen mit der Intelligenz zu untersuchen.
Ich will hier nicht auf die ganze Reihe dieser Begriffe eingehen, sondern
beschränke mich auf die beiden der Intelligenz nächstliegenden:
Gedächtnis und Phantasie. Das Gedächtnis definiert Meumann
in der althergebrachten Weise: "es besteht ihm in der Wiederholung früherer
Eindrücke, früherer Erlebnisse oder früher von uns gebildeter
Vorstellungen"; die Phantasie dagegen "arbeitet mit solchen Vorstellungen,
die als Ganzes den Charakter von etwas Neuem durch uns selbst gebildeten
besitzen, bei welchen aber natürlich Bestandteile früherer Erinnerungen
verwendet werden" (S. 124). Das sind mit einigen Umschreibungen die bekannten
Distinktionen der Vermögenspsychologie: Gedächtnis ist das Vermögen,
frühere Empfindungen unverändert zu erneuern, die Phantasie besteht
in der Fähigkeit, ihre Anordnung zu verändern. Nun kann sich
freilich auch der Verfasser nicht ganz der Erkenntnis entziehen, daß
das Gedächtnis "nicht einfach eine getreue Abbildung früherer
Eindrücke bringt, sondern eine gewisse Umbildung und Veränderung
mit ihnen vornimmt". Aber "es tut das gewissermaßen unerlaubter Weise".
Überdies ist eine Beihilfe der Phantasietätigkeit schon dadurch
veranlaßt, "daß unsere Erinnerung lückenhaft ist, und
daß wir diese Lücken durch Zutaten von Phantasievorstellungen
ausfüllen" (S. 125). In der Tat, fast könnte man glauben, hier
einen Paragraphen aus Christian Wolffs Psychologie zu lesen, nur
daß zuweilen da und dort die alten Schubfächer mit etwas moderneren
Aufschriften versehen sind. Streng geschieden stehen sich wiederum die
alten Vermögensbegriffe gegenüber. Gelegentlich will sich zwar
einmal einer in das Gebiet eines anderen einschleichen. Aber unerbittlich
wird er zurückgewiesen, und wenn er sich der Definiton seines Gebietes
nicht fügen will, so wird der Widerspruch durch die Annahme einer
Kooperation beider Vermögen beseitigt. Da aber über all diesem
Streit der Vermögen die allbeherrschende Intelligenz steht, so wird
schließlich die allzugroße Dissonanz durch die Reflexion ausgeglichen.
Wo der Widerspruch zwischen Gedächtnis und früherer Wahrnehmung
zu groß ist, da kommt eine "Vermutung" zu Hilfe, um zu rechter Zeit
die Phantasie herbeizurufen, damit sie ihre Schuldigkeit tue. Es ist vollständig
jenes "Bellum omnium contra omnes", das schon Herbart mit so bitterem
Spott verfolgt hatte, daß man längst geglaubt seiner ledig zu
sein. Hier wiederholt sich bis ins Kleinste das alte Bild. Neben dem Krieg
fehlt auch die friedliche Zusammenarbeit nicht, und wiederum wird diese
durch den souveränen reflektierenden Verstand ermöglicht, dessen
Diener ja schließlich alle anderen Vermögen sind4).
Der Verstand gebietet, wo das Gedächtnis seine Pflicht verabsäumt,
der Phantasie, um unter seinem Beistand eine passende Vermutung zustande
zu bringen. Zu Christian Wolffs Zeiten mochte diese Zuflucht zur
Reflexion immerhin noch erlaubt erscheinen. Heute ist sie es angesichts
alles dessen, was wir experimentell über den Einfluß reproduktiver
Assimilationen auf Wahrnehmungs- wie Erinnerungsvorgänge erfahren
haben, nicht mehr. Man denke nur, um aus den massenhaft hier vorliegenden
Versuchen bloß einige herauszugreifen, an die tachistoskopischen
Jul. Zeitlers und anderer über die Auffassung von Worten mit
willkürlich variierter Einschaltung falscher Buchstaben, bei denen
gelegentlich die abweichenden Wortelemente so zahlreich sein können,
daß verschiedene Auffassungen des gleichen Buchstabenkomplexes möglich
werden5). In diesen Versuchen erscheinen
die Elemente, die in dem Worte fehlen oder durch andere ersetzt sind, die
also infolge einer Assimilation von den gegebenen Wortelementen aus an
die Stelle der fehlenden treten, genau so deutlich wie die wirklich gesehenen.
Der ganze Prozeß gleicht vollständig einer objektiven Wahrnehmung,
und zwischen den optisch vorhandenen und den optisch nicht vorhandenen
Teilen des Bildes ist absolut gar kein Unterschied zu bemerken. Vor allem
fehlt also ganz ein Vorgang, der irgendwie als ein solcher der "Vermutung"
mit irgendeinem Schein von Recht bezeichnet werden könnte, es sei
denn, daß man es für erlaubt hält, den wirklichen Tatsachen
seine eigenen Reflexionen über dieselben zu substituieren. Das ist
im vorliegenden Beispiel um so augenfälliger, als in der Tat gelegentlich
Fälle vorkommen können, wo der Beobachter nur einzelne Teile
des gebotenen Objektes aufzufassen vermag, und wo er dann auf Grund irgendwelcher
Überlegungen eine "Vermutung" über die Beschaffenheit des Bildes
äußert. Dieser Fall scheidet sich von dem ersten des unmittelbaren
Eindruckes der ganzen Wortvorstellung schon durch die Dauer der zur Bildung
einer Vermutung erforderlichen Zeit, dann aber auch durch den Inhalt des
Prozesses so gewaltig, daß man entweder solche Versuche niemals ausgeführt
haben oder unter den Einfluß einer die wirkliche Beobachtung gänzlich
trübenden Reflexionspsychologie geraten sein muß, wenn man bei
jenen unmittelbar und mit vollkommenster Anschaulichkeit erfolgenden assimilativen
Täuschungen eine Vermutung interpoliert. Da das erstere im vorliegenden
Fall nicht wohl angenommen werden kann, so ist nur das zweite möglich:
der mit der oben gekennzeichneten praktischen Richtung des psychologischen
Denkens zusammenhängende Drang nach absoluter Begriffsscheidung bewirkt
zunächst unwillkürlich einen Rückfall in die Vermögenspsychologie;
und da die Tatsachen der Beobachtung heute noch weniger als ehedem der
Einfügung in die Vermögensschablone gehorchen wollen, so muß
wohl oder übel, ganz so wie ehedem, zu Ergänzungen durch die
Reflexion gegriffen werden. So wiederholt sich auch hier die in die frühere
Aera der Vermögenspsychologie zurückfallende Herrschaft des Intellekts
über die anderen Vermögen.
4) Vgl. hierzu meine Bemerkungen über die Seelenvermögen
der alten Psychologie, Grundzüge der physiol. Psychologie6, Bd. l,
S. 16ff.
5) Jul. Zeitler, Tachistoskopische Untersuchungen
über das Lesen. Phil. Studien, Bd. 16, S. 380 ff.
Womöglich noch schlagender als die tachistoskopischen Versuche zeigen übrigens die Unmöglichkeit, mittels solcher intellektueller Hilfsoperationen die Erscheinungen zu interpretieren, unter den sonstigen Formen sogenannter Sinnestäuschungen die "umkehrbaren perspektivischen Vorstellungen". Bekanntlich hat man diese, z. B. die Umkehrung der Konturenzeichnung eines Prismas aus einer Körperin eine Hohlform u. a., früher auf Wirkungen der Phantasie zurückgeführt. Die neuere experimentelle Analyse der Erscheinungen hat aber gezeigt, daß sie in streng gesetzmäßiger Weise aus der primären Fixation eines Punktes der Figur und der sich anschließenden Augenbewegung über die von diesem Punkte ausgehenden Fixierlinien hervorgehen, eine Tatsache, die kaum anders als aus der Assoziation mit der bei der normalen Sinneswahrnehmung stattfindenden regulären Aufeinanderfolge von Blickbewegungen und Partialauffassungen erklärt werden kann. Besonders die Skioptikonversuche sind in dieser Beziehung vollkommen entscheidend6). Was zuvor der Phantasie zugerechnet wurde, verwandelt sich also hier zu einem wesentlichen Teile in einen sogenannten Gedächtnisvorgang. Wiederum aber steht in allen Fällen das Relief so unmittelbar und so vollkommen äquivalent einer direkten plastischen Wahrnehmung vor dem Bewußtsein, daß von einer intellektuellen Hilfsoperation, die etwa zwischen Gedächtnis und Phantasie vermitteln sollte, nicht die Rede sein kann. So zeigen alle diese Beispiele deutlich, daß jener Rückfall in eine aus Vermögens- und Reflexionspsychologie gemischte Interpretation überhaupt keine Interpretation, sondern die Beseitigung dieser durch komplexe Begriffe ist, die selbst erst der psychologischen Analyse bedürfen.
6) Physiol. Psychologie5, II, S. 543 ff., III, S. 530 f.
Die schlimmen Folgen, die ein derartiges Operieren mit allgemeinen Vermögensbegriffen mit sich führt, zeigen sich nun nicht minder bei dem Versuch, aus solchen starren Begriffsgebilden die in die praktische Psychologie herüberreichenden Erscheinungen verständlich zu machen. Hier treibt vollends jener wechselnde Streit der verschiedenen Vermögen sein verwegenstes Spiel. Er bewegt sich fortwährend in dem gleichen Zirkel, in welchem die einzelnen Fähigkeiten bald sich bekämpfen, bald einander zu Hilfe kommen. Den Mittelpunkt dieses Spieles bildet insbesondere die Intelligenz. Ein gutes Gedächtnis kann selbstverständlich eine mächtige Hilfe der Intelligenz sein, der es den nötigen Vorrat an Vorstellungen zur Verfügung stellt. Es kann aber auch derselben gefährlich werden, indem es die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Funktionen des Denkens auf die rein mechanischen Assoziationen ablenkt (S. 115). Ebenso steht die Phantasie bald in einem positiven, bald in einem negativen Verhältnis zur Intelligenz: sie hilft dieser bei der kombinatorischen Richtung ihrer Wirksamkeit; anderseits ist sie ihr hinderlich, indem sie die Arbeit des Denkens durch phantasievolle Einfälle und Kombinationen stört (S. 136). Doch können auch Gedächtnis und Phantasie, obgleich sie zu den niederen Seelenkräften und bloßen Vorbedingungen der Intelligenz gerechnet werden, durch ihr Zusammenspiel, wenn nur mäßige intellektuelle Anlagen hinzukommen, eine höhere Intelligenz vortäuschen oder sogar ersetzen. Beide werden so zu "niederen Äquivalenten der Intelligenz". Auch diese niederen Äquivalente können aber endlich, indem sich dasselbe Widerspiel der Kräfte wiederholt, die eigentliche, denkende Intelligenz schädigen oder gar verdrängen (S. 77). Man glaubt sich in eine, wie man meinte, längst hinter uns liegende Welt versetzt, wenn man diese Ausführungen liest. Wohl ist das Wort "Vermögen", das einen dem Ohr des modernen Psychologen widerstrebenden Klang besitzt, durchweg vermieden. Es ist durch "Fähigkeiten" oder "Anlagen" oder durch die Einzelbegriffe selbst vertreten. Aber in der Sache ist kein Unterschied. Dieses gleichförmig sich wiederholende Schema des wechselnden Spiels seelischer Kräfte mit ihrer Scheidung in niedere und höhere könnte ebensogut ihrem allgemeinen Inhalte nach in Moritz "Magazin für Erfahrungsseelenkunde" stehen, wie in der Arbeit eines experimentellen Psychologen der Gegenwart; und weder das Experiment selbst, noch die durch experimentelle Resultate nahe gelegte Analyse der Erscheinungen kommt zum Wort. Statt dessen wird gesucht, an Beispielen aus dem praktischen Leben oder aus der Charakteristik hervorragender Persönlichkeiten Belege für das Vorgetragene zu gewinnen. Doch auch hier gewinnt man durchaus den Eindruck, jener Wechsel von Kampf und Hilfeleistung sei nicht aus solchen Beispielen durch Induktion gewonnen, sondern aus dem zugrunde gelegten Schema zunächst als allgemeine Möglichkeit auf das Wechselverhältnis der einzelnen Vermögen angewandt, um dann nachträglich erst Beispiele zu den einzelnen möglichen Kombinationen zu suchen. Hier ist der Rückfall in die alte Vermögenspsychologie ein so vollständiger, daß selbst das alte Schema der Wechselwirkungen der Vermögen fast unverändert wiederholt wird. Natürlich geschieht das nicht absichtlich, sondern der Verfasser unterliegt unwillkürlich und offenbar unbewußt dem Zwang des Begriffsschematismus, dem er sich nun einmal anvertraut hat, und dieser Schematismus ist wiederum das unwillkürliche Produkt überhasteter Verallgemeinerung und mangelhafter psychologischer Analyse, wie sie das Streben nach möglichst rascher praktischer Anwendung in einem noch so sehr eines soliden theoretischen Unterbaues bedürfenden Gebiet wie der Psychologie in dem gegenwärtigen Stadium ihrer Entwicklung hervorbringen muß. Daß dabei dem Verfasser die Klarheit der Darstellung und bei manchen seiner Beispiele, wie bei der Charakteristik Lichtenbergs, Ruskins u. a., eine gewisse praktisch-psychologische Beobachtungsgabe zustatten kommen, versteht sich von selbst. Nur wirkt doch auch hier die Neigung nach schematisierender Anwendung der Vermögensbegriffe da und dort auf eine einseitige Beleuchtung der Charaktere hin.
V.
Den Begriff des Willens definiert Meumann
an verschiedenen Stellen zum Teil in abweichender Weise. Ich begnüge
mich, zwei dieser Definitionen hervorzuheben: 1. Der Wille ist einerseits
"die innere Aktivität, das Tun und Wirken unserer Persönlichkeit,
auf Grund deren unser ganzes inneres Leben etwas mehr ist als eine bloße
Summe von Vorgängen oder Naturprozessen. ..... Durch den Willen nimmt
das ganze psychische Geschehen einen eigenartigen Charakter an, den wir
nur mit dem Begriff Tätigkeitscharakter bezeichnen können, es
wird zu dem Wirken und Handeln einer Persönlichkeit. ..... Anderseits
liegt die Bedeutung der Willenshandlungen darin, daß sie Vorgänge
sind, durch welche wir auf die Außenwelt einwirken, ebenso wie die
Persönlichkeit durch innere Handlungen auf sich selbst einwirkt" (S.
176). 2. "Ich sehe den Kern der Willensvorgänge in aktiven Selektionsursachen
unseres psychischen Geschehens, wobei in der Aktivität durchaus nichts
rätselhaftes liegt, sie läßt sich vielmehr in einzelne
Bedingungen unseres intellektuellen Geschehens auflösen, die eine
besonders innige Beziehung zum Ichbewußtsein haben" (S. 198). Diese
Bedingungen bestehen: a) "in dem Einleiten des ganzen Prozesses durch die
Fixation einer Zielvorstellung im Bewußtsein", b) "in Prozessen,
die eine besonders innige Beziehung zu unserm Ichbewußtsein haben";
diese sind hauptsächlich: "Aufmerksamkeit, unser zustimmendes Urteil,
und in sekundärer Mitwirkung Gefühle und Organempfindungen",
endlich c) vor allem darin, daß wir "faktisch durch die Fixation
einer einzelnen Vorstellung oder Vorstellungsgruppe eine Auswahl unter
den folgenden Bewußtseinsvorgängen selbst herbeiführen,
indem die Fixation der Zielvorstellungen die nachfolgenden Prozesse beherrscht,
d. h. determiniert" (S. 190). In der weiteren Erläuterung wird dann
noch auf die "Zustimmung" zu der Zielvorstellung, die der Ausführung
der Handlung vorausgehende Entschließung oder Entscheidung oder (was
damit identisch sei) auf die bewußte Wahl zwischen verschiedenen
Motiven besonderer Wert gelegt (S. 213).
Meumann betrachtet die erste dieser Definitionen
als eine provisorische, die zunächst nur zusammenfassen soll, was
sich der populäre Sprachgebrauch unter dem Willen denke. Die zweite
ist ihm die definitive, die auf Grund der wissenschaftlichen Analyse der
Willenserscheinungen gewonnen werde. Ich bekenne, daß ich in diesem
Fall die provisorische Definition zwar keineswegs für tadellos, aber
doch gegenüber der definitiven unbedingt für die bessere halte.
Man könnte aus ihr vielleicht eine brauchbare Begriffsbestimmung gewinnen.
Die definitive dagegen leidet an den zwei schlimmsten Fehlern, die dem
Versuch einer Begriffsbestimmung begegnen können: sie enthält
Verschiedenes, von dem bezweifelt werden muß, ob es wirklich in einer
Willenshandlung vorkommt; und sie enthält gerade das nicht, was nach
der psychologischen Beobachtung für jede Willenshandlung erforderlich
ist, und was in jener provisorischen Definition immerhin angedeutet wird:
so das Bewußtsein der "eigenen Aktivität", das "Wirken und Handeln
einer Persönlichkeit"; u. a. Von der endgültigen Begriffsbestimmung
läßt sich geradezu sagen, sie sei bemüht, ebendiese Bestandteile
derart zu interpretieren, daß sie zu etwas anderem werden als was
sie nach dem Zeugnis unserer unmittelbaren inneren Wahrnehmung wirklich
sind. So ist die "Zielvorstellung" offenbar keine bloße Vorstellung,
sondern sie setzt den Willen, ein Ziel zu erreichen, bereits voraus. Dagegen
ist die "Zustimmung" oder "Billigung" nichts, was an und für sich
dem Wollen spezifisch eigen wäre: ich kann der Meinung eines andern
oder seiner Handlung zustimmen, ohne selbst etwas zu wollen. Sollte aber
jemand noch glauben, in dem Bewußtsein der "Aktivität des Ich"
einen Schatten der provisorischen Definition zu entdecken, so würde
er sich auch darin enttäuscht finden. Die Beziehungen zum Ich gehen,
wie uns die endgültige Definition weiterhin lehrt, völlig auf
in der Aufmerksamkeit, dem zustimmenden Urteil und vor allem in der Fixation
der Zielvorstellungen und in der durch sie bewirkten Determination der
nachfolgenden Prozesse, d. h. der den Entschluß ausführenden
Handlung selbst. Nun besteht die Aufmerksamkeit, wie wir anderwärts
erfahren, lediglich in einem höheren Grad von Bewußtheit gegenüber
anderen Vorstellungen (S. 16). Auch die Aufmerksamkeit ist also eine in
das Gebiet des intellektuellen Seelenlebens gehörige Tatsache. Wer
nach allem dem noch auf die Gefühle eine schwache Hoffnung gesetzt
haben sollte, der erfährt schließlich, daß es erstens
Willenshandlungen gibt, bei denen sie fehlen: die reinen Intelligenzformen
des Willens; daß die Gefühle zweitens, wo sie vorkommen, sekundäre,
dem eigentlichen Willensprozeß erst nachfolgende Elemente, und daß
sie endlich selbst schon intellektuelle Elemente sind, da sie nichts anderes
als "Verschmelzungen von Gemeinempfindungen"; darstellen. Damit ist dann
glücklich aus dem Begriff des Willens alles beseitigt, was der reinen
Intelligenz in ihrem unbeschränkten Walten im Wege stehen könnte.
Größerer oder geringerer Grad von Bewußtheit, begleitende
Organempfindungen, Vorstellungen von Handlungen, namentlich Zielvorstellungen,
endlich und hauptsächlich Urteile, die den Handlungen vorausgehen,
oder sie begleiten, bilden nunmehr den gesamten Inhalt eines Willensvorgangs.
Damit ist dieser in lauter Elemente der Intelligenz aufgelöst, und
die ganze weitere Beleuchtung des Willensproblems geht jetzt darauf aus,
diesen schon in der Definition vorausgenommenen Standpunkt eines radikalen
Intellektualismus, der wohl in dem bekannten "Syllogismus practicus" der
Scholastiker seinen nächsten Verwandten sehen darf, weiter im einzelnen
zu begründen.
Es kann hier nicht unternommen werden, dem Verf.
auf allen seinen Kreuz- und Querzügen, die zugleich Kreuzzüge
gegen den sogenannten "Voluntarismus" sind, zu folgen. Es muß genügen,
einzelnes hervorzuheben. Da ist zunächst die gänzliche Elimination
der Gefühle aus den Willensvorgängen von besonderem Interesse.
Sie stützt sich im ganzen auf drei Behauptungen. Erstens: es gibt
vollkommen gefühlsfreie, also rein intellektuell motivierte Willenshandlungen.
Zweitens: die einzigen Formen der Gefühle, die eventuell in ein Wollen
eingehen können, sind Lust oder Unlust; denn andere Gefühlsformen
gibt es überhaupt nicht. Drittens: auch diese gibt es eigentlich nicht;
denn auch die Gefühle der Lust und Unlust sind ihrem Wesen nach "Verschmelzungen
von Gemeinempfindungen".
Die erste dieser Behauptungen hängt unmittelbar
mit der oben gegebenen endgültigen Definition des Willens zusammen.
Nach ihr lassen sich die wesentlichen Bestandteile des Willens als Formen
der Intelligenz bezeichnen, welche sich in Handlungen umsetzen (S. 255),
oder der Wille selbst als ein "Übergehen von beurteilten Zielvorstellungen
und ihrer Zustimmung in Handlungen". "Ein Wille ohne vorhergehenden Intellekt
in irgend einem Sinne ist daher eine psychologische Unmöglichkeit.
Ein solcher Wille wäre keine Willenshandlung mehr, sondern ein ohne
Bewußtsein ablaufender Reflex" (S. 274). Dem entspricht, daß
sich die reinen intellektuellen Willensformen aus den komplexen Intelligenzformen
ableiten lassen, sobald man zu ihnen eine entsprechende Form des Handelns
hinzunimmt (S. 257). Dagegen gibt es reine Gefühlsformen des Willens
überhaupt nicht, und wo Gefühle bei den Willenshandlungen mitwirken,
da kommen sie überall nur als "Diener des Handelns" in Betracht, d.
h. im Sinne einer "sekundären Verstärkung und Steigerung und
Verminderung der Intelligenzformen" (S. 259). Insbesondere erleichtern
auf diese Weise die Gefühle die Bildung einer Assoziation von Motiv
und Handlung. Da aber die gleiche Assoziation ohne jede Gefühlserregung
stattfinden kann, so erweisen sich auch in diesen Fällen die Gefühle
als bloß sekundäre Bestandteile, umsomehr, da schon in der Entwicklung
des Kindes eine angeborene Assoziation zwischen Motiven und Handlungen
besteht, an die sich erst nachträglich bei der Erreichung eines Ziels
ein Lustgefühl anschließt (S. 199, 223).
Daß diese hier nur in ihren Grundzügen
wiedergegebene Deduktion der relativen Bedeutungslosigkeit der Gefühle
für die Willenshandlungen im wesentlichen nur eine Erfüllung
der bereits in der vorangestellten Definition liegenden Forderung einer
Elimination der Gefühle ist, fällt in die Augen. Zudem zieht
der Verf., um seinen Beweis zu führen, teils Erscheinungen in das
Gebiet der Willenshandlungen, die er anderwärts ausschließt,
teils stützt er sich auf die Voraussetzung, alle Gefühle seien
entweder Lust- oder Unlustgefühle, andere aber existierten nicht.
So beruft er sich auf die Entwicklung der Willenshandlungen beim Kinde,
bei dem er die angeborenen, nach seiner Vermutung gefühlsfreien Reflexe
den eigentlichen Willenshandlungen vorangehen läßt. Ich lasse
diese Annahme, über deren Wahrscheinlichkeit man vielleicht angesichts
der Schmerzenslaute des Neugeborenen streiten kann, hier dahingestellt.
Merkwürdiger ist es, daß der Verf. selbst anderwärts diesem
Argument in doppelter Weise widerspricht. Erstens schließt er die
ursprünglichen, unter sichtlicher Beteiligung von Gefühlen und
Affekten vor sich gehenden Handlungen überhaupt von den Willensvorgängen
aus, um sie einer besonderen Klasse "ideomotorischer Handlungen" zuzuweisen;
und zweitens läßt er aus der Erfolgsvorstellung, die zunächst
nur die Vorstellung einer Handlung und ihres Erfolgs sei, "zusammen mit
einem Lustgefühl", das nachträglich mit ihr verknüpft werde,
eine feste Assoziation der entsprechenden Bewegung entstehen (S. 180).
Wenn diese Konstruktion überhaupt für die Entwicklung des Willens
eine Bedeutung haben soll, so besteht diese aber offenbar darin, daß
nach ihr Lustgefühle für die Entstehung der Willenshandlungen
entscheidend sind. Dennoch wird dies abgelehnt, da hier nach dem Verf.
nicht Willenssondern nur ideomotorische Handlungen anzunehmen seien. Dann
ist es um so auffallender, daß er zwanzig Seiten weiter diese Scheidung
der sogenannten "ideomotorischen" und der eigentlichen Willenshandlungen
ignoriert und schon die jenen Lustgefühlen vorangehenden, nach ihm
gefühlsfreien Reflexe als die Ausgangspunkte wirklicher Willenshandlungen
verwendet (S. 199). Sollte man doch denken, daß nach der vorangegangenen
Entwicklung das Eingreifen jenes Lustgefühls, das die spontane Reproduktion
zustande bringen soll, vielmehr als der eigentliche Ausgangspunkt der Willenshandlungen
anzusehen sei. Trotzdem verlegt der Verf. das eine Mal den Anfang des Willens
in bekannter Weise schon in die Reflexbewegung, das andere Mal scheidet
er nicht nur diese, sondern auch alle einfacheren von psychischen Vorgängen
begleiteten Handlungen als eine besondere Klasse "ideomotorischer Bewegungen"
aus, um nun den eigentlichen Willen erst da beginnen zu lassen, wo das
Gebiet der reinen gefühlsfreien Entschlüsse erreicht ist. Die
Frage, ob in die Erfolgs- und Zielvorstellungen, in die Billigung des Ziels,
endlich in den etwa vorausgehenden Zweifel Gefühle oder gar Affekte
mit eingehen, bleibt dabei im wesentlichen außer Frage, da alle diese
nicht ohne weiteres der Vorstellung selbst zuzurechnenden Modifikationen
ohne Lust oder Unlust vorkommen können, der Satz aber, daß Lust
und Unlust die einzigen Gefühle seien, als ein Axiom vorausgesetzt
wird.
Nun ereignet es sich freilich auch hier, daß
dieses Axiom zwar durchgehends als ein selbstverständlicher und von
niemandem zu bestreitender Satz hingestellt ist, daß aber die eigenen
Ausführungen des Verf., wo sie sich im Gebiet des Tatsächlichen
bewegen, in Konflikt mit der Exklusivität jener beiden Gefühle
geraten, auch wenn man von den hinter der Aktivität, dem Ichbewußtsein,
der Zielvorstellung, Zustimmung usw. versteckten Gefühlen absieht.
Denn wo von Gefühlen im allgemeinen die Rede ist, da werden offenbar
nicht bloß Zustände, wie das Erstaunen, die Aufregung, der Ernst
u. dgl. darunter begriffen, sondern es werden auch ausdrücklich erregende
und hemmende oder depressive Gefühle unterschieden. Und wenn Meumann
versichert, daß es sich dabei lediglich um aktive und passive Formen
der Lust und der Unlust handle, so ist es augenfällig, wie hier der
Umstand, daß verschiedene Gefühlsformen sich gelegentlich verbinden
können, benutzt wird, um auch solche Fälle unter Lust und Unlust
unterzubringen, in denen eine unbefangene Beobachtung eine solche Verbindung
nicht auffinden kann. Nebenbei hilft hier wohl die vom Verf. bei der Charakterisierung
der Temperamente benutzte Annahme aus, jedes Gefühl könne in
sehr verschiedenen Gradabstufungen vorkommen, so daß man also eventuell
auch den Lust- und den Unlustwert des Gefühls nicht bemerken kann.
Oder es bleibt auch die andere Annahme, Lust und Unlust wirkten auf das
zentrale Nervensystem zurück, wodurch dann die Lebhaftigkeit und Energie
der geistigen Tätigkeiten vermehrt oder vermindert werde (S. 249ff.).
Nun sind nach der Auffassung Meumanns Lust und Unlust selbst schon
Formen gesteigerter oder gehemmter zentraler Erregung. Man gelangt also
zu dem merkwürdigen Ergebnis, daß diese gegensätzlichen
Formen zentraler Erregung und Hemmung selbst wieder erregend oder hemmend
auf die zentrale Substanz wirken können, daß aber diese sekundären
Erregungen und Hemmungen auf der Seite der psychischen Parallelvorgänge
nicht mehr als Lust und Unlust, sondern je nach Umständen in der Form
exzitierender oder deprimierender Unterarten dieser Grundformen erscheinen.
D. h. je nach Bedürfnis läßt man einem und demselben physischen
Vorgang auf der psychischen Seite verschiedene Vorgänge parallel gehen.
Hinsichtlich der mimischen, vasomotorischen und anderer körperlicher
Symptome der Gefühle, von denen wir doch immerhin etwas mehr wissen
als von den zentralen Erregungs- und Hemmungsvorgängen, äußert
sich der Verf. skeptisch. Aber seine Äußerungen lassen leider
annehmen, daß seiner Erinnerung die Ergebnisse dieser Untersuchungen
nicht gegenwärtig gewesen sind. Wenn er z. B. gegen ihre Verwendbarkeit
anführt, daß jemand im Zorn erblassen, aber auch erröten
könne, so hätte er aus den neueren Versuchen ersehen müssen,
daß auch diesen Unterschieden, wie übrigens nach seinen eigenen
Voraussetzungen von vornherein erwartet werden mußte, Unterschiede
der psychischen Vorgänge parallel gehen. In der Tat ist das Erblassen
jedesmal subjektiv von einem deprimierenden, das Erröten von einem
stark erregenden Gefühl begleitet. Der Wechsel zwischen diesen Formen
ist aber weniger ein Ausdruck individueller Unterschiede, als ein Wechsel
zwischen verschiedenen Phasen des Affektverlaufs. Namentlich bei dem plötzlich
hereinbrechenden Affekt pflegt einem ersten Erblassen das Erröten
zu folgen. Läßt man die erregenden und hemmenden Gefühle
als selbständige Gefühlsformen gelten, so ist dieser Wechsel
der Stadien eines und desselben Affektverlaufes nicht allzu schwer zu erklären:
subjektiv zeigt der Affekt des Zorns, vor allem wenn er von etwas längerer
Dauer ist, sehr ausgeprägt eine gewisse Periodizität, indem Depressions-
und Erregungszustände einander folgen, und diesem Wechsel entspricht
deutlich bei den plethysmographischen Versuchen der Wechsel zwischen Kontraktion
und Erweiterung der kleinsten Arterien7).
In der Lust- Unlusthypothese lassen sich freilich diese Tatsachen schwer
unterbringen. Wenn aber auf der vorangegangenen Seite erklärt ist,
"daß allen Gefühlen organische Reaktionen parallel gehen, die
die ganze Summe sogenannter Ausdrucksvorgänge ausmachen" (S. 248 f.),
so würde doch daraus, wie man erwarten sollte, folgen, daß,
wo diese Summe von Ausdrucksbewegungen, wie z. B. beim Zorn, dem vorausgesetzten
Parallelismus zwischen Lust-Unlust und Ausdrucksbewegung widerspricht,
damit auch die Lust-Unlusthypothese sich als unzulänglich erweise.
Der Verfasser folgert umgekehrt: weil dieser Widerspruch besteht, so verdienen
die betreffenden Symptome keine Beachtung. Anders, wo sich die Erscheinungen
ohne weiteres dem Schema fügen. Da wird z. B. die "Stauung des Blutes
in Händen und Füßen, die ihren Umfang vergrößert"
für eine regelmäßige Begleiterscheinung der Unlust erklärt
(S. 248). Freilich ist hier dem Verfasser eine Umkehrung der Symptome begegnet.
Die starke vasomotrische Volumabnahme der Arme und Hände ist neben
der Beschleunigung des Arterienpulses ein so konstantes Symptom der Unlust,
daß über diese Tatsache bei allen Beobachtern, die sich mit
dem Gegenstand beschäftigt haben, vollkommene Einhelligkeit besteht8).
7) Vgl. Physiol. Psychologie 5, III, S. 229, Fig. 230.
8) Vgl. z. B. Physiol. Psych.5, II, S. 297, Fig. 229.
Nachdem auf solche Weise erwiesen sein soll, daß
die Beteiligung von Gefühlen an den Willenshandlungen eine verhältnismäßig
zufällige, bei den wichtigsten typischen Formen der letzteren fehlende
Erscheinung sei, stellt sich übrigens heraus, daß dieses in
der Unterscheidung von Gefühls- und von reinen Intelligenzformen des
Willens gipfelnde Bemühen eigentlich überflüssig gewesen
ist, weil es Gefühle im Grunde überhaupt nicht gibt. Auf S. 217
heißt es: "die Gefühle fasse ich als Verschmelzungen von Organempfindungen
auf", und S. 276 lesen wir: "die Gefühlsbetonungen der intellektuellen
Elemente, der Empfindungen, sind ebenfalls intellektuelle Elemente", sie
sind "nach ganz entscheidenden neueren pathologischen Beobachtungen und
psychologischen Versuchen nur Organempfindungen, d. h. Empfindungen von
organischen Reaktionen, welche die physischen Parallelvorgänge der
Vorstellungen begleiten, und Verschmelzungen solcher Organempfindungen".
Was zuerst noch eine verhältnismäßig bescheiden vorgetragene
Hypothese war, hat sich fünfzig Seiten später in ein "ganz entscheidendes"
Ergebnis moderner Wissenschaft verwandelt, und der gläubige Leser,
dem ja in solchen populären Schriften Belege für die aufgestellten
Behauptungen nicht vorgelegt zu werden brauchen, fühlt sich jetzt
unter den schützenden Flügeln jener entscheidenden Ergebnisse
gegen jeden Zweifel geborgen. Nun ist mir wohl bekannt, daß einige
Psychologen und Pathologen der Hypothese zuneigen, die Gefühle seien
"Verschmelzungen von Organempfindungen". Auch sind bekanntlich gewisse
Organempfindungen, wie z. B. Schmerz, Hunger, Durst usw., mit Unlustgefühlen,
andere, wie mäßige Muskelarbeit, Wärmeempfindung usw. in
der Regel mit Lustgefühlen verbunden. Aber ehe man die Gefühle
samt und sonders auf Verschmelzungen von Organempfindungen zurückführt,
sollte man sich doch erinnern, was der Begriff der Verschmelzung in den
Fällen, für die er zunächst eingeführt worden ist,
und in denen er einen wohl definierbaren Sinn hat, überhaupt bedeutet.
Das typische Vorbild ist hier die "Tonverschmelzung". Wir nennen den Einzelklang
eine Verschmelzung von Tönen, insofern sich in ihm eine große
Zahl einzelner Töne nachweisen läßt, die, obgleich sie
in der Empfindung vorhanden sind, doch nicht als gesonderte Klangelemente,
sondern nur in der dem Grundton mitgeteilten Klangqualität, der sogenannten
Klangfärbung, wahrgenommen werden, so daß jede Variation jener
Elemente eine charakteristische Veränderung der Klangfärbung
hervorbringt. Demnach ist für jede Anwendung des Begriffs der Verschmelzung
zweierlei erforderlich: erstens müssen Elemente vorhanden sein, die
in der ihnen in ihrem isolierten Zustand zukommenden Empfindungsqualität
nicht unmittelbar wahrgenommen werden; zweitens muß die Variation
eines jeden dieser Elemente den Gesamtcharakter des Ganzen verändern.
Legt man diesen Begriff zugrunde, so ist es nun aber völlig unerlaubt,
ihn auch da anzuwenden, wo das zweite Merkmal gar nicht, das erste nur
in dem Sinne allenfalls zutrifft, daß in dem Produkt das nicht empfunden
wird, was nach der über seine Konstitution gemachten Voraussetzung
empfunden werden sollte. Es ist ferner klar, daß infolge dieser willkürlichen
Erweiterung des Begriffes über seine Grenzen hinaus schließlich
jeder beliebige Bewußtseinsinhalt als Verschmelzungsprodukt irgend
welcher anderer, disparater Inhalte definiert werden könnte. In der
Tat ist ja, selbst wenn man sich auf den Standpunkt der Lust- Unlusthypothese
stellt, nach der neben beiden doch auch Gefallen und Mißfallen, Liebe
und Haß, Furcht und Hoffnung usw. als Modifikationen jener beiden
Stammgefühle betrachtet werden, absolut nicht einzusehen, was diese
Gefühle unmittelbar mit den Organempfindungen zu tun haben. Diese
Interpretation steht genau auf gleichem Boden wie die einstige des "Systeme
de la Nature", die solche seelische Zustände auf verborgene und vorläufig
unbekannte Modifikationen in den Bewegungen der Hirnmoleküle bezog.
Die Verschmelzung ist hier zu einem Behälter geworden, in dem man
alles verschwinden läßt, was sich einer Behauptung nicht fügen
will.
Obgleich nun, nachdem durch dieses Versteckenspiel
mit den verschmolzenen Organempfindungen die Frage des Primats der Intelligenz
über den Willen eigentlich von vornherein zu Gunsten der ersteren
entschieden ist, so läßt Meumann doch diesem theoretischen
noch einige der Entwicklungsgeschichte der Willenshandlungen entnommene
praktische Argumente folgen, die zwar von geringerem Belang, gleichwohl
aber bemerkenswert sind. Zunächst zeige die Erfahrung, daß der
niedriger stehende Mensch immer weit mehr von dem Willen als von der Intelligenz
beherrscht werde (S. 277). Das tritt nach ihm auch in den metaphysischen
Richtungen der Philosophie hervor, wo die früheren Richtungen, vertreten
durch Leibniz und Spinoza, dem reinen Intellekt, die späteren,
vertreten durch Kant, Fichte, Schopenhauer, umgekehrt
dem Willen die Führung einräumten. Es sei aber augenfällig,
wie die Philosophen der zweiten Reihe mehr durch ihre Wünsche und
gelegentlich durch sprunghafte Einfälle, als durch strenges Denken
sich leiten ließen (S. 279 ff.). Die Richtigkeit dieser Wertbeurteilung
lasse ich ganz dahingestellt. Merkwürdig bleibt es dann immerhin,
daß, während im einzelnen der Willens- dem Intelligenzmenschen
vorausgehen soll, in dieser philosophischen Entwicklung im ganzen der Voluntarismus
offenbar als eine Art Degenerationserscheinung gegenüber dem vorangegangenen
Intellektualismus betrachtet wird. Merkwürdiger noch ist aber doch
eine andere Antinomie. Nachdem wir eben gehört, daß der niedrigere
Mensch der Willens-, der höhere der Intelligenzmensch sei, werden
die führenden Geister als solche Intelligenzmenschen gepriesen, die
einem ganzen Zeitalter den Stempel ihres Geistes aufdrücken, indes
die große Masse, bei denen der Wille die Intelligenz beherrscht,
ihnen blind folge. Bis dahin hatte man im allgemeinen umgekehrt angenommen,
die großen Charaktere seien vor allem auch willensstarke Menschen,
wogegen der ihrem Führer willenlos folgenden Masse eben der Wille
fehle, obgleich unter ihnen viele sein können, die über eine
große Intelligenz verfügen. Demgegenüber soll nach Meumann
weit eher die Intelligenz den fehlenden Willen ersetzen, als der Wille
die Intelligenz. Ich würde mich, wenn ich mir überhaupt in dieser
schwierigen Frage ein Urteil erlauben darf, weit mehr der Umkehrung dieses
Satzes zuneigen. Wer kennt nicht die Charaktere von hoher Intelligenz,
die zu keinem Entschluß gelangen können, weil sie unaufhörlich
schwanken und zweifeln? Und wer nicht die anderen, die mit relativ bescheidenen
Gaben von der Natur ausgestattet sind, aber durch eisernen, von einem festen
Willen geleiteten Fleiß, vielleicht nicht das Höchste, aber
doch Bedeutendes leisten? Doch was soll dieser Streit, – hören wir
doch unmittelbar darauf: "Der Wille ist nichts anderes als Intelligenz
(oder auf der niederen Stufe intellektuelle Elemente), die sich in Handlungen
umsetzt" (S. 281). Also müßten wir billigerweise folgern, eine
starke Intelligenz sei auch ein starker Wille, und ein starker Wille sei
hinwiederum eine starke Intelligenz. So ist es denn überhaupt augenfällig,
daß Meumann nicht am wenigsten in Widerspruch mit sich selber
da gerät, wo er das Problem von Intelligenz und Wille entwicklungsgeschichtlich
zu beleuchten sucht.
Dennoch erklärt sich diese bei einem Psychologen,
der sich so eingehend mit der Psychologie des Kindes befaßt hat,
auffallende Tatsache leicht daraus, daß er für seine Definition
des Willensbegriffes ein Stadium vollendeter Entwicklung voraussetzt,
von dem an erst von einem eigentlichen Willen die Rede sein solle. Damit
wird das Wollen von vornherein zu einem höchst komplizierten, aus
Zielvorstellungen, Überlegungen, Zustimmungen usw. zusammengesetzten
intellektuellen Prozeß gestempelt, bei dem es eigentlich nur eine
rückläufige, durch Einübung die Willenshandlungen schließlich
in automatische Bewegungen überführende Entwicklung gibt. Was
jenem intellektuellen Höhepunkt des Willens vorangeht, wird unter
dem Namen der "ideomotorischen Handlungen" zu einer besonderen Gattung
von Bewegungen umgeprägt. Dadurch gerät Meumann hier in
einen auffallenden Widerspruch mit sich selber. Denn bei jener regressiven
Phase der Entwicklung ereignet es sich, daß er genau das, was er
bei der progressiven vom Willen ausschloß, in diesen einschließt.
Da werden geradezu jene ideomotorischen Bewegungen als unvollständige
Willenshandlungen bezeichnet, und es wird hervorgehoben, daß die
Gewohnheitshandlungen durchweg in diese Klasse reduzierter Willenshandlungen
gehören. Außerdem zählt Meumann hierher noch als
eine besondere Unterform die instinktiven Handlungen, bei denen der klare
Einblick in die Beweggründe des Handelns ganz fehle, und die daher
entweder auf angeborenen oder durch Gewöhnung erworbenen Willensdispositionen
beruhten (S. 205 ff.). Nun ist es klar, daß nicht der geringste Grund
vorliegt, jene vor der Erreichung vollkommener Willenshandlungen liegenden
Stadien und die der regressiven Entwicklung angehörenden einer absolut
abweichenden Beurteilung zu unterziehen. Jenem vorbereitenden Stadium,
wo die angeborenen Reflexbewegungen des Kindes sich zum ersten Mal mit
sogenannten Zielvorstellungen verbinden, wird man also genau mit demselben
Recht einfache Willenshandlungen zuerkennen müssen, wie Meumann
selbst auf die regressiven Gewohnheitshandlungen, bei denen eben noch eine
determinierende Zielvorstellung vorhanden ist, diesen Begriff anwendet.
Demgegenüber ist es dann freilich auffallend, daß er die Unterscheidung
einfacher und komplexer oder eindeutig und mehrdeutig bestimmter Willenshandlungen
unbedingt ablehnt, indem er kategorisch versichert, eindeutig bestimmte
Willenshandlungen gebe es beim erwachsenen Menschen überhaupt nicht,
außer in seltenen Grenzfällen (S. 182). Erstens gehören
doch die Willenshandlungen des Kindes und wahrscheinlich auch viele Handlungen
der Tiere zu den Willenshandlungen. Zweitens aber scheint Meumann
bei seiner Schilderung der einzelnen Stadien regressiver Entwicklung, die
er z. B. bei der Unterscheidung der Bedingungen aufzählt, unter denen
jemand ein Glas Zuckerwasser ergreifen kann, jenen kategorischen Satz völlig
vergessen zu haben. Denn hier zeigt es sich, daß die ungeheuere Mehrzahl
der Willenshandlungen selbst des erwachsenen Menschen zu den eindeutig,
nicht zu den mehrdeutig bestimmten gehört, und daß vielmehr
diejenige Form, die als der normale Typus einer menschlichen Willenshandlung
hingestellt wird, einen seltenen Grenzfall bildet.
So enthält denn überhaupt die Darstellung
eigentlich nicht bloß eine, sondern zwei Entwicklungsgeschichten
des Willens. Die eine ergibt sich, wenn man der von Meumann gegebenen
Begriffskonstruktion folgt; die andere gewinnt man, wenn man die berichteten
Tatsachen selbst reden läßt und solche Begriffs- oder vielmehr
Namenunterscheidungen beseitigt, die nach dem eigenen Zugeständnis
des Verfassers willkürliche sind, wie z. B. die der "ideomotorischen"
Handlungen in der aufsteigenden Reihe und der analogen ausdrücklich
unter die Willenshandlungen gezählten in der absteigenden. Die eine,
die mehr konstruktive oder, wie wir sie wohl kurz nennen dürfen, die
Entwicklung von oben, beginnt mit jener typischen Willenshandlung, die
sich aus Zielvorstellungen, Überlegungen, Zustimmungen, Handlungen
usw. zusammensetzt, um unter dem Einfluß der Übung und Gewöhnung
allmählich unter Elimination einzelner Glieder dieses komplexen Prozesses
durch einfachere Willenshandlungen zu automatischen Bewegungen herabzusteigen.
Die andere, wir wollen sie die mehr tatsächliche oder die auf- und
absteigende nennen, beginnt mit den aus angeborenen Dispositionen entspringenden
Reflexbewegungen des Kindes. Diese gehen dann, sobald gelegentlich die
Handlung einen Effekt hat, der mit einem Lustgefühl verbunden ist,
durch Wiederholung in einfache Willenshandlungen über. Indem das einfache
Motiv der letzteren allmählich einer Mehrheit mit einander streitender
Motive Platz macht, treten an Stelle jenes ursprünglichen Gefühlsmotives
mehr und mehr intellektuelle Überlegungen, Wahlvorgänge usw.
als vorbereitende Prozesse der Handlungen ein. Dann beginnt die regressive
Bewegung infolge der sich befestigenden Vorherrschaft einzelner, durch
Einübung gefestigter Motive und der hier einsetzenden Mechanisierung
der Prozesse durch Gewöhnung. Nun wird die erste dieser Entwicklungstheorien,
die konstruktive, unhaltbar, sobald man eine ausschließlich regressive
Entwicklung auch auf geistigem Gebiet für objektiv unmöglich
und eine willkürliche Begriffsunterscheidung, die sich schließlich
als eine bloße Namenunterscheidung herausstellt, für logisch
unerlaubt hält. Der zweiten, mehr tatsächlichen Entwicklungsgeschichte
könnte man sich möglicherweise anschließen, wenn erst die
auch hier nicht ganz unterlassenen willkürlichen Konstruktionen, insbesondere
die des Höhepunktes der Entwicklung beseitigt würden. Denn hier
gleicht in der Tat die Beschreibung mehr der Schilderung der Verhandlungen
und Beschlußfassungen einer Ratsversammlung, als der eines tatsächlich
beobachteten Willensvorganges. Auch dann würde aber diese Schilderung
mehr nur den äußeren Verlauf der Verhandlungen wiedergeben,
als die Gesamtheit der inneren Triebfedern, der Gefühle und Affekte,
von denen die Mitglieder bestimmt werden. Diese letzteren Bestandteile
sind jedoch, nachdem sie bei der ersten Entstehung einer Willens- oder
"ideomotorischen"; Handlung beim Kinde ihre Schuldigkeit getan, unterwegs
wieder liegen geblieben, um nur da und dort, wo man gar nicht ohne sie
auskommen kann, als Folgen der Handlungen anerkannt zu werden, und schließlich
auch hier im sicheren Gewahrsam der hypothetischen "Organempfindungen"
zu verschwinden.
Selbst in dieser mehr tatsächlichen und dem
entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt besser entsprechenden Schilderung
wird nun aber unverkennbar der absteigenden Stufenfolge eingehender Rechnung
getragen als der aufsteigenden. Über diese eilt der Verfasser rasch
hinweg, um seinen definitiven Begriff einer vollkommenen Willenshandlung
zu gewinnen. Dagegen wird die Rückverwandlung in automatische Bewegungen
näher verfolgt, und zahlreiche Bemerkungen, denen man ohne weiteres
zustimmen kann, zeigen hier wieder den trefflichen Beobachter im Einzelnen.
Nur in einem Punkte macht sich noch einmal die praktische Tendenz, von
der diese Gedächtnispsychologie beseelt ist, geltend. Das Schema des
Lernprozesses und das Motiv der Erleichterung der geistigen Arbeit durch
die assoziative Einübung wird so sehr in den Vordergrund geschoben,
daß sie das gesamte geistige Leben zu mechanisieren droht. So wird
die Herbeiführung einer Handlung zu einem überall durch Assoziation
entstehenden Reproduktionsvorgang. Die Einübung der Assoziation in
bestimmten vorgezeichneten Richtungen soll daher auch das wesentliche Mittel
sein für die Erziehung des Charakters (S. 215). Ein großer Teil
der Lernregeln läßt sich dann überhaupt auf die Bildung
der Willenshandlungen anwenden. So z. B. können wir unseren Willen
an irgendeinem Punkte ausbilden und daraus für das Wollen im allgemeinen
profitieren, ähnlich wie man sein Gedächtnis an dem Erlernen
bestimmter Stoffe auch für andere Stoffe üben kann usw. (S. 229).
Wo die natürliche Assoziation nicht ausreicht, da soll man eine künstliche
bilden, indem man von der "Perseverationstendenz" einzelner Vorstellungen
Gebrauch macht, wie sie bei den Lernversuchen zur Beobachtung kommt. Diese
zuerst von G. E.Müller beschriebene Erscheinung besteht nämlich
darin, daß sich irgendeine beliebige Vorstellung, ohne nachweisbar
mit anderen assoziativ verbunden zu sein, immer wieder ins Bewußtsein
drängt. Diese Tatsache soll nun der Erzieher benutzen, um die Konsequenz
des Handelns zu sichern, oder um allgemeine Entschließungen für
einzelne Fälle wirksam zu machen (S. 228). Hier scheinen mir denn
doch die näheren Bedingungen, unter denen jene Erscheinungen beobachtet
zu werden pflegen, nicht zureichend berücksichtigt zu sein. Die sogenannte
Perseverationstendenz macht sich durchweg als ein störendes Moment
des Vorstellungsverlaufs geltend, indem die perseverierende Vorstellung
immer und immer wieder ohne unser Wollen in die ablaufende Reihe sich eindrängt.
Extreme Fälle solcher Perseveration beobachten wir aber, abgesehen
von den künstlichen Gedächtnisversuchen, in besonders ausgeprägter
Weise bei der sogenannten Ideenflucht Geisteskranker. Sie lassen sich hier
deutlich in der Sprache und in den schriftlichen Aufzeichnungen solcher
Geisteskranker verfolgen. Da kommt es z. B. vor, daß gewisse Worte
zunächst nur vereinzelt, dann immer häufiger und endlich unablässig
wiederholt werden. Es sind Prozesse der Dissolution des Bewußtseins,
die offenbar einen spezifischen Fall der Ausbildung sogenannter "fixer
Ideen" darstellen. Hier kann man sich dem Eindruck schwerlich verschließen,
daß diese Anwendung einer in ihren prägnantesten Formen der
Pathologie angehörenden Erscheinung auf die Erziehung des Willens
eher auf einer äußeren Wortassoziation als auf wirklicher Beobachtung
beruht. Die Perseverationstendenz einer Vorstellung erinnert an die "perseveratio
animi", – eine Verwechselung von Begriffen, die psychologisch ungefähr
das Gegenteil bedeuten, der eine das völlige Versagen der willkürlichen
Regelung des Vorstellungsverlaufs, der andere die feste Richtung des Willens
auf vorgesetzte Zwecke. Nebenbei ein deutliches Zeugnis für die schädliche
Wirkung der Vermögensbegriffe auf die psychologische Analyse. Der
einmal gebildete Allgemeinbegriff, unter Umständen das für ihn
eingeführte Wort, deckt die entlegensten Erscheinungen, mögen
diese an sich selbst von entgegengesetzter Natur sein. Die "Tendenz" ist
ja in der Tat nichts anderes als eine Abart des Vermögensbegriffes,
die man da anzuwenden pflegt, wo das Vermögen nicht als eine allgemeine
Eigenschaft oder Fähigkeit der Seele, sondern als die eines einzelnen
seelischen Inhaltes, z. B. einer einzelnen Vorstellung, bezeichnet werden
soll.
Damit kommen wir auf den Punkt zurück, von
dem diese Betrachtung ausgegangen ist. Das verfrühte Streben nach
praktischer Anwendung führt zu Begriffsbildungen, in denen sich der
Standpunkt der Vermögenspsychologie wiederholt. Die schablonenhafte
Verwendung der Vermögensbegriffe läßt dann die nächste
Aufgabe der Psychologie, die Beschreibung und die experimentelle Analyse
der psychischen Vorgänge in den Hintergrund treten. Die in jenem praktischen
Streben begründete einseitige Richtung auf die Gedächtnispsychologie
und die Technik der Lernmethoden endlich, mag sie auch der pädagogischen
Praxis einzelne nützliche Winke geben, erinnert in bedenklicher Weise
an den äußerlichen Gedächtnisdrill der alten Pädagogik,
den man glücklich überwunden glaubte, und den vollends zu beseitigen
eine der wichtigsten Aufgaben der Psychologie in ihrer Anwendung auf die
Pädagogik sein sollte. Wo die moderne Psychologie aus allzu eifrigem
Streben, der Praxis zu dienen, auf eine rückständige Memoriertechnik
für Lernen und Lehren, für Geistes- und Charakterbildung hinauskommt,
da kann man diese praktischen Folgen wohl schon als ein sicheres Zeichen
dafür ansehen, daß sie sich auch in der Theorie auf Irrwegen
befindet. Wenn ein Forscher, der, wie Meumann, in früheren
Arbeiten glänzende Proben seiner Befähigung für die Analyse
psychologischer Einzelprobleme abgelegt hat, durch eine längere, vielleicht
allzu ausschließliche Beschäftigung mit Lernmethoden und ähnlichen
praktischen Aufgaben, auf solche bedenkliche Wege geraten ist, was soll
man aber dann erst von den experimentellen Pädagogen erwarten, die
ohne diese Vorbereitung, der Führerschaft der von der Psychologie
herübergekommener Pädagogen folgend, Erziehung und Unterricht
reformieren wollen? Wiederum kann man ihnen nur raten, zunächst und
vor allem allseitig gebildete, nicht einseitig orientierte Psychologen
zu werden und dann an die Frage heranzutreten, wie von dem so gewonnenen
Standpunkte aus auch der Pädagogik neue Aufgaben zu stellen seien.
Doch von dem trefflichen Verfasser von "Intelligenz und Wille" dürfen
wir wohl hoffen, daß er den Weg zur rein psychologischen Einzeluntersuchung
wieder zurückfinden werde, der wir eine so mustergültige Leistung
wie die "Untersuchungen über die Psychologie und Ästhetik des
Rhythmus" verdanken.