Über reine und angewandte Psychologie.

Von

W. Wundt.

I.

    In seiner Eröffnungsrede zum dritten Kongreß des Vereins für experimentelle Psychologie zu Frankfurt a. M. hat der Vorsitzende dieses Vereins auf ein Wort Goethes in den "Wanderjahren" hingewiesen: "Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch anwenden". Dieses Wort bezeichnet in der Tat treffend die Lage der Psychologie in der Gegenwart. Die praktische Anwendung psychologischer Erkenntnisse ist das unmittelbare oder mindestens das entferntere Ziel einer großen Anzahl, wenn nicht der meisten psychologischen Arbeiten, besonders derjenigen, die der experimentellen Richtung angehören. Pädagogik, Psychiatrie, Jurisprudenz, Ethnologie eröffnen einer solchen angewandten Psychologie ein beinahe unbegrenztes Feld von Aufgaben, zu denen gewissermaßen als ein spezifisches Gebiet praktisch-psychologischer Forschung das Studium der typischen und der individuellen Unterschiede der geistigen Begabungen, insbesondere der unter- und der übernormalen Eigenschaften der Persönlichkeiten hinzukommt. Nachdem in Berlin ein eigens zu diesen Zwecken gegründetes "Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung" mit einer ihm als Organ dienenden Zeitschrift ins Leben getreten ist, das zugleich nachdrücklich ein Zusammenarbeiten von experimentellen Fachpsychologen und Angehörigen der verschiedenen Einzeldisziplinen erstrebt, darf man sicher erwarten, dass dieser Drang nach praktischer Anwendung in der nächsten Zukunft noch weiter zunehmen wird. Um so mehr, da auch in jenen Einzelgebieten das Bedürfnis nach einer gewissen psychologischen Orientierung offenbar im Wachsen begriffen ist.
    Kein einsichtiger Psychologe wird anstehen, diesen innerhalb wie zum Teil außerhalb der Psychologie erwachten Drang nach praktischer Betätigung als einen berechtigten und erfreulichen anzusehen. Als einen berechtigten, weil wirklich in Erziehung und Unterricht so gut wie in der Rechtspflege und in der Behandlung Geisteskranker so viel gegen die psychologische Erfahrung gesündigt worden ist und noch gesündigt wird, daß Abhilfe Not tut. Als einen erfreulichen, weil das nicht bloß in diesen praktischen, sondern auch in gewissen theoretischen Gebieten, wie Ethnologie, Geschichte, Sprachwissenschaft, sich regende psychologische Interesse dem Bedürfnis nach einer Vertiefung in die geistigen Zusammenhänge der Erscheinungen Ausdruck gibt. Auch ist anzuerkennen, daß unter allen diesen Anwendungen vor allem die praktischen nicht früh genug gemacht werden können. Sobald z. B. Methoden des Unterrichts oder der Behandlung Geisteskranker als verkehrt nachgewiesen sind, oder sobald es unbestreitbar geworden ist, daß die der Beurteilung der richterlichen Zeugenvernehmung zu Grunde gelegten Voraussetzungen falsch sind, so sollte keinen Augenblick gezögert werden, sie zu beseitigen; und der Versuch, solche verkehrte praktische Methoden und Voraussetzungen als irrige nachzuweisen, ist ganz gewiß sehr viel verdienstlicher, als über die Intensitäts- und Qualitätsverhältnisse von Empfindungen und von Gefühlen und über anderes Fragen zu stellen, deren Beantwortung, so groß ihr theoretisches Interesse auch sein mag, doch jedenfalls eine minder dringliche ist. Und auch das wird jeder einsichtige Psychologe bereitwillig zugestehen, daß die Ergebnisse, die praktisch vermöge der Übelstände und schweren Nachteile, die ihre Nichtbeachtung mit sich führt, eine möglichst einleuchtende und allgemein zugängliche Nachweisung heischen, nicht auf eine nach allen Seiten gerichtete erschöpfende Untersuchung ihrer näheren Bedingungen warten können. Darum hat die angewandte experimentelle Psychologie von dem Augenblick an, wo sie zuerst gewissen Fragen der Pädagogik sowie der psychiatrischen Diagnostik, wie z. B. der Prüfung der Arbeits- und Lernmethoden, der geistigen Leistungsfähigkeit und Ermüdbarkeit nahe trat, mit gutem Recht darauf gesehen, daß die zu solchen praktischen Zwecken dienenden experimentellen Methoden einfach genug seien, um nötigenfalls auch dem Lehrer oder Arzt zugänglich zu sein, dem kein Laboratorium mit komplizierten Präzisionsapparaten zur Verfügung steht. Besonders Kraepelin hat bei seinen zum erstenmal planmäßig jenen Anwendungsgebieten zugewandten Arbeiten diesen Gesichtspunkt betont, dabei aber auch mit Recht hervorgehoben, daß es sich bei solchen Arbeiten immer nur um verhältnismäßig einfache Aufgaben von praktischem Interesse handle, und daß man nicht daran denken dürfe, diese vereinfachten Methoden über die ihnen durch die Praxis gezogenen Grenzen hinaus auszudehnen. In der Tat pflegen in diesen Fällen die Fragen von Anfang an schon so einfach gestellt zu sein, daß sie einen verwickelten Apparat der Untersuchung überhaupt ausschließen. Zugleich knüpfen sie aber auch so unmittelbar an spezifische Bedingungen des praktischen Lebens an, daß an eine weitergehende Verwertung für die theoretische Psychologie nur ausnahmsweise gedacht werden kann. Besonders einleuchtend zeigen das die von William Stern ausgeführten verdienstvollen Untersuchungen zur "Psychologie der Aussage". Sie sind von der aufmerksamen Beobachtern längst bekannten Tatsache ausgegangen, daß die Berichte eines Menschen nicht nur über das, was er von andern gehört, sondern auch über das, was er selbst erlebt hat, durchweg ein gefälschtes Bild der wirklichen Ereignisse geben, und daß daher die Aussagen mehrerer Augenzeugen über den gleichen Tatbestand weit auseinandergehen können. Um nachzuweisen, daß diese Fälschung der Wirklichkeit in so weitem Umfange und in so tief eingreifender Weise stattfinden könne, wie es tatsächlich der Fall und von Stern u. a. ermittelt worden ist, dazu bedurfte es jedoch einer gewissen Systematisierung und planmäßigen Sammlung solcher Beobachtungen. Daß diese keiner besonderen Apparate und Versuchseinrichtungen bedurften, ist einleuchtend. Ebenso aber auch, daß die Resultate trotz ihrer großen praktischen Wichtigkeit für Pädagogik und Rechtspflege und schließlich für alle Gebiete des praktischen Lebens und der Wissenschaft, in denen die Aussagen von Augenzeugen, wie z. B. bei der Beurteilung geschichtlicher Überlieferungen, eine Rolle spielen, an sich über die Natur der Sinnes- und Gedächtnistäuschungen, der Aufmerksamkeitsschwankungen und der sonstigen Faktoren dieser Erscheinungen nichts lehren können. Ist doch die Scheidung dieser mannigfaltigen Faktoren selbst ein Problem, zu dessen Lösung solche Versuche überhaupt nichts beizutragen haben, da es dabei nur auf das Endergebnis, die Unzuverlässigkeit der Aussagen über wahrgenommene Tatsachen und höchstens noch auf die Bedingungen ankommt, unter denen sie mehr oder weniger weit von der Wirklichkeit abweichen können. Will man der Zerlegung der Phänomene in ihre Bestandteile und der experimentellen Analyse dieser näher treten, so genügen dann freilich jene einfachen Beobachtungsmethoden nicht mehr. Aber es muß dann auch der Standpunkt der angewandten Psychologie verlassen und mit dem der reinen Psychologie vertauscht werden, auf dem sich die Aufgabe in eine Fülle von Einzelproblemen zerlegt, von denen nun jedes einzelne sein selbständiges Interesse besitzt. Dieses Interesse ist jedoch ein rein theoretisches. Zu einem praktischen wird es erst, wenn man zu den Gesamtwirkungen zurückkehrt, die der ganze Komplex von Ursachen auf die Aussagen eines Menschen ausübt. Da es nun für die Praxis im allgemeinen mehr auf diese Gesamtwirkung ankommt, als auf die Frage, wie sich diese aus ihren einzelnen psychischen Komponenten zusammensetzt, so kann sie sich um so mehr mit diesem Endergebnis begnügen, je dringlicher die praktischen Zwecke sind, und je weniger die Art, wie sich die Abweichungen der Aussagen auf die einzelnen Täuschungsfaktoren verteilen, die zu ziehenden praktischen Folgerungen alteriert. Darum gibt es hier immerhin auch für die verschiedenen Anwendungsgebiete nicht zu übersehende Unterschiede. So ist es z. B. für die Beurteilung der Zeugenaussagen vor Gericht wesentlich gleichgültiger, wie sich die verschiedenen Täuschungsfaktoren auf das Endresultat verteilen, als für die analogen Abweichungen in den Angaben eines Schulkindes über einen gesehenen Gegenstand oder über eine gehörte Erzählung. Denn während es im ersteren Falle nur darauf ankommt, zu ermessen, ob und inwieweit einer Aussage überhaupt objektive Glaubwürdigkeit beizumessen sei, ist dies im zweiten Falle relativ gleichgültig. Wohl aber ist es hier für den Erzieher vom höchsten Interesse, in welchen Motiven, ob in solchen der Unsicherheit der Wahrnehmung oder des Gedächtnisses, ob in Mängeln des Wollens und der Aufmerksamkeit, in fehlendem Interesse, endlich in Bedingungen der Ermüdung und Übung, die beobachteten Abweichungen zwischen den Erscheinungen und ihrer Reproduktion ihren Grund haben. Wegen dieser hier im Vordergrund stehenden Rücksicht auf die zukünftige Beeinflussung der Geistestätigkeit des Kindes und auf die Notwendigkeit, die erforderlichen Angriffspunkte für eine solche Beeinflussung zu finden, setzt überhaupt die Pädagogik mehr als andere Disziplinen der angewandten Psychologie eine enge Anlehnung an die reine Psychologie voraus, indem entweder die Resultate einer Deutung mit Hilfe der bekannten Ergebnisse der letzteren bedürfen, oder aber psychologische Untersuchungen fordern, die dann auch ein theoretisches Interesse besitzen können.
    Nicht anders verhält es sich mit den sogenannten "Gedächtnisversuchen", die ja in der experimentellen Psychologie der Gegenwart eine so vorwaltende Rolle spielen, daß man wohl ungefähr die Hälfte der alljährlich produzierten experimentell-psychologischen Arbeiten der Gedächtnispsychologie zurechnen darf. Auch hier ist es der Wunsch nach praktischer Anwendung, der diesem Gebiet einen so großen Vorzug vor anderen verleiht, besonders wenn man bedenkt, daß die meisten Arbeiten über Vorstellungsassoziationen und ähnliche irgendwie mit den Gedächtniserscheinungen affiliierte Funktionen ihrem Zweck nach ebenfalls hierher gehören. Auch in dieser vorzugsweise der Pädagogik zugewandten Disziplin der angewandten Psychologie lassen sich wieder zwei Richtungen unterscheiden, deren eine sich fast ausschließlich direkt um praktisch verwertbare Endergebnisse bemüht, ohne sich viel um deren psychologische Begründung zu kümmern, während die zweite neben dem praktischen zugleich ein gewisses theoretisches Interesse im Auge hat, insofern auch bei ihr die Untersuchung schließlich zu Aufgaben einer rein psychologischen Analyse hinüberführt; Der ersten Art sind z. B. die Experimente über "Ökonomie und Technik des Auswendiglernens". Denn bei ihnen handelt es sich im wesentlichen nur um die Frage, welche der verschiedenen didaktischen Methoden, die hier möglicherweise angewandt werden können, am raschesten und sichersten zum Ziel führt. Zur zweiten Art gehören dagegen die Versuche, in denen man die Unterschiede der Gedächtnisbegabung festzustellen, die Bedingungen unzulänglicher Gedächtnisleistungen, die Hilfsmittel solchen Mängeln abzuhelfen u. a. zu ermitteln sucht. Denn hier weist überall wieder die Untersuchung, selbst da, wo sie bloß den Zwecken des Unterrichts und der Erziehung dienen will, auf die in das Gebiet der reinen Psychologie hereinreichende Analyse der Faktoren hin, aus denen sich die Endergebnisse zusammensetzen.
    Nun ist einleuchtend, daß die Aufgaben der zweiten Art, bei denen ein Anwendungsgebiet der Psychologie, wie die Pädagogik, in engerem Konnex und offenbar auch in fruchtbarerer Wechselwirkung mit der reinen Psychologie steht, gegenüber den Aufgaben der ersten Art eine ungleich höhere Wichtigkeit besitzen. Es ist ja gewiß nützlich, unter den verschiedenen Lernmethoden die zweckmäßigste zu ermitteln. Dennoch kann sich dieser Zweck nicht entfernt mit der Tragweite messen, welche der Analyse der einzelnen psychischen Faktoren zukommt, aus denen sich die individuellen und die typischen Eigentümlichkeiten der Gedächtnisbegabung zusammensetzen, und die ihrerseits wieder praktisch wichtige Folgerungen für die allgemeinen Unterrichtsmethoden ergeben können. Dies spricht sich auch darin aus, daß zu jenen rein technischen Lernexperimenten eine besondere psychologische Vorbildung eventuell gar nicht erforderlich ist, während eine solche natürlich im zweiten Fall nicht entbehrt werden kann. Auch wird wohl jeder erfahrene Pädagoge zugeben, daß für die allgemeinen Aufgaben der Erziehung und des Unterrichts eine allseitige psychologische Bildung ungleich fruchtbarer ist, als die Ansammlung einzelner technischer Erfahrungen auf Grund eigener oder fremder Experimente. Zugleich berühren sich hier jene tiefer dringenden Anwendungen der Psychologie unmittelbar mit einem selbst schon in das Gebiet der reinen Psychologie hereinreichenden Zwischengebiet: mit der Psychologie des Kindes, die einerseits unter dem rein theoretischen Gesichtspunkt der psychischen Entwicklungsgeschichte zugehört, anderseits aber wegen ihrer Bedeutung für die Fragen der Erziehung und des Unterrichts, sowie in Anbetracht des hier vornehmlich dem Lehrer zu Gebote stehenden reichen Materials von Erfahrungen enger als andere Teile der Psychologie an die Pädagogik gebunden ist. Darum ist gerade auf diesem Gebiete und zum Teil unter dem Einfluß der von der experimentellen Pädagogik ausgehenden Anregungen ein erfreulicher Wetteifer zwischen einzelnen lebhafter für die Fragen der Erziehung interessierten Eltern und Pädagogen in der Sammlung von Beobachtungen über die seelische Entwicklung des Kindes entstanden. So tritt hier vor allem die Pädagogik zugleich nehmend und gebend der Psychologie gegenüber. Nehmend, da die Grundanschauungen, von denen die psychologische Beobachtung des Kindes geleitet wird, mit den allgemeinen Ergebnissen der reinen Psychologie in Einklang stehen müssen. Gebend, insofern die psychische Entwicklungsgeschichte ein wichtiger Teil der Psychologie selbst ist. Auf diese Weise gestaltet sich vor allem hier das Verhältnis zwischen beiden Gebieten, dem theoretischen und dem praktischen, zu einer fruchtbaren Wechselwirkung, die zu gemeinsamer Arbeit und günstigen Falls zur Verbindung des rein psychologischen und des pädagogischen Interesses in einer und derselben Persönlichkeit führen kann.
    Nicht anders als die Pädagogik in diesen in die psychische Entwicklungsgeschichte hereingreifenden Fragen steht nun die große Anzahl jener Geisteswissenschaften der Psychologie gegenüber, die nicht durch einzelne praktische Anwendungen, sondern durch die Vertiefung in die psychologische Seite ihrer Probleme in gewissem Sinn zu Anwendungsgebieten der Psychologie geworden und im Grunde auch immer gewesen sind. Nur daß die Erkenntnis, sich bei solchen Aufgaben an die wissenschaftliche Psychologie anlehnen zu müssen, statt den beliebig aufgerafften Eingebungen der Vulgärpsychologie oder, was damit in der Regel zusammenfällt, einer veralteten und planlosen Vermögenspsychologie zu folgen, allmählich in die weiteren Kreise der beteiligten Forscher zu dringen beginnt. In erster Linie stehen hier die Gebiete, die man wohl am zutreffendsten als die "vergleichenden und historischen Geisteswissenschaften" bezeichnen kann, wobei diese beiden Attribute nicht als alternativ, sondern durchweg als koordiniert zu betrachten sind. Dahin gehören Mythologie, Sprach-, Kunst-, Religionswissenschaft, schließlich auch die Soziologie mit ihren Zweiggebieten, der Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft, der Sitte, des Rechts, des Staates, der Wirtschaft. Alle diese Wissenschaften sind vergleichend und historisch zugleich. Nicht nur muß die ethnologische Vergleichung ergänzend eintreten, wo die Kontinuität der geschichtlichen Zustände im Stiche läßt, sondern die historische Forschung selbst bedient sich intensiv wie extensiv der vergleichenden Methode. Intensiv, indem sie die Phasen einer und derselben geschichtlichen Entwicklung in ihrer Aufeinanderfolge; extensiv, indem sie verschiedene, einander parallel gehende Entwicklungen vergleicht. Alle diese Untersuchungen führen aber schließlich auf psychische Motive und psychophysische Bedingungen zurück, bei deren Erforschung notwendig die allgemeine Psychologie mitwirken muß, indes zugleich infolge des weit über das individuelle Seelenleben hinausreichenden Umfangs der Probleme der Schauplatz der seelischen Erscheinungen selbst sich erweitert. Daher nun die in jenen Anwendungsgebieten gewonnenen Ergebnisse wiederum auf die individuelle Psychologie, von der sie ausgegangen sind, nach den verschiedensten Richtungen hin Licht werfen. Insbesondere ist das überall da der Fall, wo das Individuum teils von Anfang an unter dem Einfluß der es umgebenden historischen Bildungen steht, teils in irgend einem Zeitpunkt seines Lebens mit diesen in Berührung kommt. Eben diese Abhängigkeit der in das individuelle Leben hereinreichenden Ergebnisse solcher Entwicklungen bewirkt es aber zugleich, daß die individuelle Psychologie und Entwicklungsgeschichte zwar ein unentbehrliches, immer jedoch ein unzulängliches Hilfsmittel bei der psychologischen Untersuchung solcher Erzeugnisse des in langer Tradition zur Entfaltung gelangten geistigen Lebens ist. Anderseits vermag dagegen die psychologische Analyse jener Gesellschaftserzeugnisse auf diejenigen Prozesse Licht zu werfen, die der individuellen Entwicklungsgeschichte nur unter sehr beschränkten Bedingungen zugänglich sind. So gibt die Psychologie des Kindes zwar einige wertvolle Fingerzeige für die Lösung des allgemeinen Problems der Sprachentwicklung; doch die hauptsächlichen Aufschlüsse wird hier auch die reine Psychologie der vergleichenden und der historischen Sprachwissenschaft und der psychologischen Beleuchtung der von ihnen gebotenen Tatsachen entnehmen müssen. Für die psychologische Entwicklungsgeschichte der Kunst bietet ferner das Kind nur dürftige Analogien zu den der Hauptsache nach der Ethnologie zu entnehmenden Zeugnissen. Vollends der Versuch, ein primitives mythologisches Denken oder die Entstehung der Religion aus dem Anschauungskreis unseres heutigen Kindes heraus erklären zu wollen, hat noch immer, wo er unternommen wurde, zu gänzlich willkürlichen und wertlosen Konstruktionen geführt. Umgekehrt ist die Sprachpsychologie die Hauptquelle für die allgemeine Psychologie der Begriffs- und Gedankenbildung. Nicht anders verhält sich die psychologische Entwicklungsgeschichte der Kunst und des Mythus zur Psychologie der Phantasie überhaupt usw. Darin liegt der Grund für die Zusammenfassung aller dieser Gebiete psychologischer Betrachtung in dem Begriff der "Völkerpsychologie". Dieser wird aber damit zugleich die doppelte Stellung eines Anwendungs- und eines Teilgebietes der Psychologie angewiesen. Das erstere ist sie, insofern selbstverständlich die psychologische Analyse aller jener psychischen Gemeinschaftserzeugnisse eine vorhergehende Analyse der einfacheren individuellen Bewußtseinsphänomene voraussetzt; das letztere, weil erst sie zu einer Interpretation aller der psychischen Bildungen führen kann, die das individuelle Bewußtsein den Einflüssen seiner Umgebung verdankt – Einflüssen, die selbst wieder nur aus ihrer eigenen meist weit zurückreichenden Entwicklungsgeschichte zu begreifen sind. In dieser Abhängigkeit von der historischen Entwicklung, für die sie ein tieferes psychologisches Verständnis gewinnen soll, tritt zudem die Völkerpsychologie in engen Kontakt mit allen anderen Zweigen historischer Forschung bis herauf zu ihrer Vereinigung zur allgemeinen Geschichte und zu der die Summe ihrer Ergebnisse zusammenfassenden philosophischen Geschichtsbetrachtung. Wenn nun aber in den anderen, direkt auf die Zeugnisse des individuellen Bewußtseins zurückgehenden Gebieten der angewandten Psychologie, vor allem in der Pädagogik, die hier eine typische Bedeutung besitzt, die Anwendung selbst eine doppelte ist, einmal nämlich in der Übertragung einzelner praktisch verwertbarer Ergebnisse und Methoden, sodann nicht minder in der Verwertung der gesamten in der reinen Psychologie gewonnenen Anschauungen besteht, so ist bei allen jenen in die historischen Erkenntnisgebiete einmündenden weiteren Anwendungen von der Völkerpsychologie an bis herauf zur allgemeinen Geschichte nur noch die zweite übrig geblieben. In keiner dieser historischen Disziplinen kann man einen Schritt tun, ohne auf Probleme zu stoßen, die im letzten Grunde psychologischer Natur sind und daher teils direkt, teils und vor allem durch die Vermittlung der Völkerpsychologie auf die reine Psychologie zurückführen. Aber nirgends handelt es sich dabei um eine unmittelbare Verwertung einzelner, aus dem gesamten Zusammenhang des seelischen Lebens losgelöster Ergebnisse, oder gar um eine Übertragung irgend welcher in der experimentellen Psychologie benutzter technischer Methoden. Vielmehr ist es überall nur die wissenschaftliche Gesamtauffassung der psychischen Vorgänge, ihrer Beziehungen und Wechselwirkungen und der ihnen zu entnehmenden Gesetze des geistigen Lebens, die hier zur Anwendung kommen kann. Und eben darin besteht nicht zum wenigsten die Hilfe, die die Völkerpsychologie ihrerseits wieder der Gesamtheit der historischen Geisteswissenschaften gewähren kann, daß uns in den von ihr untersuchten Gebieten des geistigen Lebens infolge der relativ einfachen und einheitlichen Beschaffenheit der Aufgaben die psychischen Zusammenhänge des geschichtlichen Werdens am klarsten entgegentreten. Zugleich ist aber die Völkerpsychologie ohne Frage dasjenige Anwendungsgebiet auf dem der Streit abweichender Grundanschauungen über Wesen und Zusammenhang der psychischen Vorgänge am meisten zu seiner Entscheidung drängt und am sichersten eine solche finden muß. Denn wenn es die letzte Aufgabe der Psychologie ist und immer bleiben wird, das geistige Leben in allen seinen Erscheinungen verstehen zu lernen und dadurch der Gesamtheit der Geisteswissenschaften eine Grundlage zu bieten, so muß es sich vor allem an der Anwendung auf die fundamentalen Gebiete der Geisteswissenschaften zeigen, welche der Grundlagen, die man der Psychologie selber zu geben sucht, sich bewährt oder nicht.

II.

    Unten den verschiedenen Anwendungsgebieten der Psychologie, deren oben gedacht wurde, ist nun die Pädagogik, wenn sie auch im Hinblick auf die ungleich weiter reichenden theoretischen Aufgaben der Völkerpsychologie nicht das absolut wichtigste sein mag, doch zweifellos eines der wichtigsten. Sicherlich steht sie aber allen anderen darin voran, daß in ihr praktische und theoretische Interessen sich begegnen, und daß hier vor allem die dringlichste aller praktischen Fragen, die nach der Erziehung der kommenden Geschlechter und damit die nach der Zukunft der Kultur selbst, an die Türen pocht. So sind es denn auch die drei Aufgaben, die möglicherweise einer angewandten Psychologie gestellt werden können, und von denen in den anderen Anwendungsgebieten bald die eine bald die andere ganz zurücktritt, die hier sämtlich der Untersuchung sich aufdrängen und innerhalb der Pädagogik selbst sich den Vorrang streitig machen. Wir können diese drei Aufgaben kurz als die praktisch-technische, die praktisch-theoretische und die rein theoretische bezeichnen. Zu den praktisch-technischen gehören die Untersuchungen über die zweckmäßigsten Lern- und Lehrmethoden, über die Zeitverhältnisse der Erholung und Übung bei verschiedenen Arten geistiger Arbeit, die damit zusammenhängenden wünschenswerten Erholungspausen, Zeitdauer und Verteilung der Arbeit usw. Zu den praktisch-theoretischen kann man die Ermittelungen über die Unterschiede der Begabung, der Altersstufen, der Geschlechter, über Hilfsmittel zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Interesses und ähnliche zählen. Endlich als eine diese Gruppe ergänzende und sie beeinflussende, aber an sich rein theoretische Aufgabe bietet sich die Entwicklungsgeschichte des Kindes mit ihren Verzweigungen nach den verschiedenen Funktionsgebieten, wie Ausdrucksbewegungen, Willenshandlungen, Intelligenzäußerungen, Sprache usw. So selbstverständlich es nun ist, daß diese drei Gruppen vielfach ineinander eingreifen, und daß dabei namentlich die dritte ebenfalls den praktischen Interessen dienstbar wird, so leidet es doch keinen Zweifel, daß vor allem diese letztere eine umfassende Orientierung in der allgemeinen Psychologie und eine womöglich durch selbständige Arbeit erworbene psychologische Gesamtauffassung voraussetzt. Nur unter dieser Bedingung wird sie dann auch wiederum der reinen Psychologie förderlich sein und zur Vertiefung der anderen vorwiegend praktischen Teile der experimentellen Pädagogik beitragen können. Umsomehr freilich erwächst daraus der reinen Psychologie die Forderung, diejenigen Probleme, die ein voll ausgebildetes Bewußtsein und in vielen Fällen eine besondere Schärfe der psychologischen Beobachtungsgabe voraussetzen, in möglichst umfassender Weise zu bearbeiten. Denn es ist einleuchtend, daß erst auf Grund der unter solchen Bedingungen möglichen exakten Untersuchung der allgemeinen Bewußtseinsprobleme auch eine fruchtbare Erledigung der Aufgaben der psychischen Entwicklungsgeschichte möglich ist.
    Nun stehen aber offenbar gerade dieser letzten Forderung Widerstände im Wege, die in der die gegenwärtige Psychologie in weitem Umfange beherrschenden Tendenz nach praktischer Anwendung ihren Ursprung haben. Da unter diesen Anwendungen die auf die Pädagogik im Vordergrund stehen, und unter ihnen wieder die praktisch-technischen Fragen des Unterrichts am ehesten einer verhältnismäßig raschen Erledigung zugänglich sind, so begreift sich hieraus vor allem die dominierende Rolle, die heute auch in den Kreisen der reinen Psychologen die sogenannte "Gedächtnisforschung" spielt. Sie ist in erster Linie jener "Ökonomie und Technik des Auswendiglernens" zugewandt, deren Aufgaben sich leicht ohne eine besondere Vertiefung in die zugrunde liegenden Aufmerksamkeits-, Assoziations- und Reproduktionsprobleme erledigen lassen, während sie gleichwohl einen unmittelbaren Ertrag für die Zwecke des Schulunterrichtes in Aussicht stellen. Begreiflich daher, daß nicht wenige Psychologen hier die Angriffspunkte erblicken, bei denen die psychologische Arbeit in aller Augen als eine für die Allgemeinheit nützliche sich dartun lasse, die auf ihrer Seite einigermaßen mit der Naturwissenschaft und ihren technischen Anwendungsgebieten vergleichbar sei. Freilich wird dabei wohl nicht zureichend beachtet, daß die exakte Naturwissenschaft eine lange Geschichte hinter sich hat. In ihr hat sie sich redlich um die Gewinnung jener allgemeinen theoretischen Grundlagen abgemüht, auf denen sie überall erst den reichen Ertrag technischer Anwendungen gewinnen konnte, durch welchen die Praxis mit überreichen Zinsen der Wissenschaft das Kapital der aufgewandten geistigen Arbeit heimzahlte. So verlockend daher die Aussicht sein mag, der Psychologie einen ähnlich lohnenden Ertrag aus ihren praktischen Anwendungen in den an sich nicht minder wichtigen Gebieten des Unterrichts und der Erziehung zu sichern, so sollte doch nicht übersehen werden, daß die heutige Lage der Psychologie und diejenige, in der sich etwa Physik und Chemie im Moment ihres Überganges in das Zeitalter ihrer großen technischen Anwendungen befanden, wesentlich verschieden sind. Jene technischen Anwendungsgebiete der Naturwissenschaften erwuchsen aus einer langen, wesentlich dem theoretischen Interesse zugewandten vorangegangenen Entwicklung. Wo ein Gebiet ursprünglich selbst schon in einem praktischen Berufe wurzelte, wie dies ja zumeist für die Chemie zutrifft, die im 18. und noch teilweise im Beginne des 19. Jahrhunderts aus der Pharmazie hervorging, da geschah dies nicht sowohl aus den eigensten Interessen dieser praktischen Mutterdisziplin heraus, sondern umgekehrt dadurch, daß die Pharmazeuten bei ihren Arbeiten auf rein theoretische Fragen stießen, die sie nun auch zunächst in rein theoretischem Interesse bearbeiteten, und durch die sie auf Bahnen geführt wurden, die mit der Herstellung der Arzneimittel absolut nichts mehr zu tun hatten. So kam es denn auch, daß, als nun späterhin in dem fortgeschritteneren Stadium der Entwicklung die Wissenschaft wiederum zu technischen Anwendungen führte, diese zum größten Teil auf ganz anderen Gebieten lagen als da, wo zum erstenmal aus der Apothekerpraxis heraus die Anfänge der modernen Chemie, gewissermaßen als nutzlose Nebenbeschäftigungen des Pharmazeuten, erwachsen waren. Andere Gebiete der Technik und nicht zum wenigstens die in die Gestaltung des modernen Lebens am tiefsten eingreifenden sind aber unmittelbar aus rein theoretischen Forschungen hervorgegangen. Noch ein Faraday hat bei seinen epochemachenden Untersuchungen über elektrische Fernwirkungen und magnetoelektrische Wirkungen zunächst nur an das theoretische Interesse gedacht, das ihn vornehmlich an das Problem der Wechselbeziehungen der Naturkräfte fesselte. Ja selbst heute, wo uns die ungeahnten technischen Anwendungen der exakten Naturwissenschaften umgeben, sehen wir noch Forscher genug, die aus rein wissenschaftlichen Motiven, ohne an eine praktische Verwendung ihrer Arbeiten zu denken, ihre Wege gehen. Und noch heute können die wichtigsten praktischen Anwendungen da erwachsen, wo man ursprünglich nicht sie, sondern nur die theoretische Seite der Probleme im Auge hatte. So ist z. B. H. C. Röntgen zur Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen durch Untersuchungen geführt worden, denen jede solche Rücksicht ferne lag; und an der merkwürdigen Permeabilität undurchsichtiger Körper für diese Strahlen interessierte ihn in erster Linie nicht der praktische Nutzen für die pathologische und chirurgische Diagnose, sondern wiederum die rein theoretische Frage nach der physikalischen Natur dieser Strahlen. Nachdem Physik und Chemie eine so große Fülle technischer Gebiete hervorgebracht haben, ist es dann allerdings begreiflich, daß nun auch wiederum die Praxis vielfach zu Untersuchungen anregt, die zugleich von theoretischem Interesse sind, oder daß sie auch direkt an die theoretische Wissenschaft Fragen stellt, deren Beantwortung sie auch für ihre Zwecke zu verwerten hofft. Aber der allgemeine Grundsatz, daß die Wissenschaft zunächst um ihrer selbst willen da ist, und daß sie auch den Zwecken der Praxis am besten dient, wenn sie sich in erster Linie durch die Probleme rein theoretischer Erkenntnis leiten läßt, ist heute noch unerschüttert; und er hat nicht zum wenigsten auch innerhalb der Technik in den Mitteln, welche Unternehmungen, wie die großen Zeißwerke in Jena oder einige große chemische Fabriken, außerhalb des Kreises ihrer eigenen praktischen Sphäre der Wissenschaft zur Verfügung stellen, seinen Ausdruck gefunden.
    Indem sich nun die experimentelle Psychologie schon in den bescheidenen Anfängen, in denen sie sich heute noch befindet, ringsum von der gewaltigen Macht technischer und industrieller Unternehmungen, die das wirtschaftliche Leben beseelen, und denen die Naturwissenschaft fortan neue Mittel zur Verfügung stellt, umgeben sieht, ist es begreiflich genug, daß auch sie von diesem Drang nach nutzbringender Anwendung erfaßt wird, und daß ihr als das hierzu geeignetste Gebiet das der Pädagogik und ihrer praktischen Disziplinen erscheinen muß. Kommt ihr doch hier aus dem Kreise der Pädagogen selbst ein lebhaft gefühltes Bedürfnis nach tieferer psychologischer Begründung ihrer Erfahrungen und nach Überwindung der so vielfach zur bloßen Schablone gewordenen Traditionen philosophischer Schulpädagogik entgegen. Daß dabei der gewaltige Unterschied allzu sehr übersehen wird, der zwischen den reich ausgebildeten Zweigen der exakten Naturwissenschaft, deren technische Anwendungen sich überall auf festen Grundlagen bewegen, und einer erst tastend vordringenden, in den wichtigsten Fragen noch zwischen weit divergierenden Anschauungen schwankenden Disziplin, wie es heute noch die experimentelle Psychologie ist, besteht, ist verständlich und einigermaßen verzeihlich. So entsteht dann aber aus dem Drang nach nutzbringender Anwendung naturgemäß die weitere Tendenz, vor allem jenen Gebieten der Pädagogik zu Hilfe zu kommen, für die eine solche am unmittelbarsten in den Ergebnissen der Gedächtnispsychologie, der Versuche über Ermüdung und Übung usw. bereit zu liegen scheint. Zudem haben alle diese Untersuchungen den Vorteil, daß ihre Ergebnisse, wenn sie überhaupt tatsächlich sichergestellt sind, im wesentlichen außerhalb des Streites der Meinungen über die allgemeinen Anschauungen und die tiefer gehenden Probleme stehen. Andererseits gestatten sie aber aus demselben Grunde für die Pädagogik nur Anwendungen auf solche Fragen, bei denen die Probleme der psychologischen Entwicklungsgeschichte und andere, die mit den Grundfragen der Psychologie selbst zusammenhängen, zurücktreten. Damit ist die praktische Psychologie in diesen pädagogischen Anwendungen unter den drei Gebieten, deren oben gedacht wurde, hauptsächlich auf das erste, das praktisch-technische eingeschränkt. Dem entspricht nun auch die große Rolle, welche die Versuche über die formalen Leistungen des Gedächtnisses, die Methoden des Memorierens und dergleichen, gegenwärtig sowohl in der experimentellen Psychologie wie Pädagogik spielen. Zwar ist der Standpunkt, von welchem aus diese Versuche unternommen werden, insofern ein einigermaßen verschiedener, als die Psychologen sich mit ihrer Hilfe Aufschluß über die Assoziations- und Reproduktionsgesetze verschaffen wollen, während die Pädagogen dieselben unmittelbar in den Dienst der Lernpraxis zu stellen pflegen. Aber dieser abweichende Standpunkt begründet weder einen wesentlichen Unterschied der Methoden, noch der Verwertung ihrer Ergebnisse. Denn auch die Gedächtnispsychologie pflegt sich kaum auf eine nähere Analyse der elementaren psychischen Faktoren einzulassen, aus denen sich die komplexen Resultate zusammensetzen. Hieraus begreift es sich zugleich, daß Versuche völlig übereinstimmenden Inhalts nach Belieben von ihren Autoren bald der Psychologie, bald der experimentellen Pädagogik zugerechnet werden. Nicht minder wird aus solchem Ineinanderfließen der Gebiete verständlich, daß die experimentelle Pädagogik gelegentlich den Anspruch erhebt, eine selbständige empirische Wissenschaft zu sein1). Durch diese Auffassung gewinnt dann zugleich jener Verzicht auf eine psychologische Analyse der Ergebnisse von Versuchen, die ohnehin, wie man annimmt, der praktischen Anwendung keinen besonderen Nutzen bringen, eine gewisse Rechtfertigung.

1) Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik, 1907, I, S. 5.

    Daß diese vorwiegend praktische Strömung in der Psychologie der Gegenwart speziell für das Anwendungsgebiet der Pädagogik nicht ganz ohne Nutzen gewesen ist, wird man nicht leugnen wollen. Bleibt es doch immer wertvoll, wenn der Lehrer und Erzieher die Resultate seiner eigenen praktischen Erfahrung in Schule und Haus durch deutlich greifbare experimentelle Resultate bestätigt oder traditionelle Vorurteile durch sie widerlegt sieht. Aber diesen Vorteilen stehen ebenso unzweifelhaft schwere Nachteile sowohl für die reine Psychologie wie für die Pädagogik gegenüber. Der Psychologie verengt sich unter dem Drang der praktischen Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse naturgemäß das Gebiet der von ihr bearbeiteten Aufgaben in einer Weise, die nicht bloß andere, für die theoretische Erkenntnis der psychischen Vorgänge wichtigere unverhältnismäßig zurückdrängt, sondern auch der Einreihung der gewonnenen Ergebnisse in den allgemeineren Zusammenhang des psychischen Lebens im Wege steht. Die Pädagogik wird durch die gleiche Beschränkung zu einer schablonenhaften Anwendung experimenteller Ergebnisse veranlaßt, bei der leicht die Einsicht in die Bedingungen und die Grenzen solcher Anwendung abhanden kommt. Indem sich hierzu noch die von der Psychologie bereits eingeschlagene Richtung auf unmittelbar praktisch verwertbare Versuche gesellt, treten in ihr vollends die äußerlichen, technischen Fragen des Unterrichts unverhältnismäßig in den Vordergrund. Wird sich doch nur zu leicht der Pädagoge, der sich überall von Lern- und anderen Gedächtnisversuchen umgeben sieht, wiederum dem alten, wie man hoffen durfte, glücklich überwundenen Aberglauben hingeben, die Technik des Auswendiglernens sei eine Hauptaufgabe des Unterrichts, und durch eifrige Gedächtnisübung seien schließlich alle Ziele der geistigen Bildung erreichbar. Sollte dies die Wirkung sein, die die Übertragung des Experimentes aus der Psychologie in die Pädagogik hervorbringt, so würde sicherlich der Schaden, den sie stiftet, die Vorteile, die sie der Lern- und Arbeitstechnik bieten mag, weit überwiegen. So unbestreitbar jener Satz der "Wanderjahre" daher ist, daß man nicht bloß wissen soll, sondern auch anwenden, so bedenklich ist es, wenn man anwenden will, wo das Wissen noch allzu beschränkt ist oder auf allzu unsicheren Grundlagen ruht.
    Doch diese Rückwirkungen auf die Pädagogik liegen dem Kreis meiner eigenen Studien allzu fern, als daß ich dieses Thema weiter verfolgen möchte. Das Ziel dieser kritischen Erörterungen ist vielmehr das andere, auf die bedenklichen Rückwirkungen hinzuweisen, die jenes praktische Streben mit seinem pädagogischen Hintergrund auf die Psychologie selbst ausübt. Indem diese sich auf die Erledigung der hier in Frage kommenden Aufgaben im wesentlichen beschränkt, wandelt sich nämlich mit einer Art innerer Notwendigkeit die Tendenz, psychologische Ergebnisse zu pädagogischen Zwecken anzuwenden, in die entgegengesetzte um, praktisch-pädagogische Experimente zu Grundlagen der psychologischen Untersuchung zu nehmen. Betrachtet man erst die experimentelle Pädagogik als eine ähnlich selbständige Wissenschaft, wie die experimentelle Psychologie, so wird nun, je nachdem es vorteilhaft scheint die eine oder die andere Richtung einzuschlagen, die Wahl um so leichter zugunsten des Primats der Pädagogik ausfallen, je mehr von vornherein die Fragen der psychologischen Untersuchung selbst bereits nach den Bedürfnissen der pädagogischen Anwendungen orientiert sind. Die notwendige Folge ist eine Verengerung des Gesichtskreises, in der eben mehr und mehr die Psychologie zu einer angewandten Pädagogik zu werden droht. Dann stellt sich der pädagogische Psychologe nicht bloß seine Aufgaben nach den Bedürfnissen der Pädagogik, sondern er entnimmt auch, ohne sich viel um anderwärts gewonnene Erfahrungen zu kümmern, das Material zu ihrer Lösung wiederum dem Umkreis pädagogischer Beobachtungen und Experimente. So droht schließlich – man entschuldige das Wort – die Psychologie selbst zur Beute der Pädagogik zu werden: Arbeiten über rein psychologische Themata schlagen nicht nur unversehens in pädagogische Aufgaben um, sondern sie bedienen sich auch fast ganz eines zu pädagogischen Zwecken gesammelten Materials.
    Diese zuerst geflissentlich gewählte und dann durch den einmal eingeschlagenen Weg unwillkürlich vorgezeichnete Einseitigkeit hat nun notwendig drei bedenkliche Folgen, von denen bald die eine, bald die andere mehr hervortreten kann, die aber, wie zumeist solche aus gemeinsamer Quelle entsprungene Fehler, im ganzen die Tendenz zeigen, sich wiederum gegenseitig zu verstärken. Die erste dieser Folgen besteht in der Neigung zu übereilten Verallgemeinerungen von Ergebnissen, die, unter beschränkten Bedingungen gewonnen, weit über die ihnen hierdurch vorgezeichneten Grenzen ausgedehnt werden. Dies ist um so unvermeidlicher, je mehr die selbstgewählte Beschränkung des Standpunktes alles das leicht übersehen läßt, was jenseits seines Horizontes liegt. Dazu kommt als eine weitere Folge die Neigung zu abschließenden Begriffsbildungen, die, wiederum aus einer begrenzten Erfahrung geschöpft, nachträglich benutzt werden, um ihnen die Tatsachen der Beobachtung zu subsumieren, so daß nun diese Allgemeinbegriffe als Erklärungsgründe der psychischen Vorgänge dienen. Auf solche Weise lenkt dann die Untersuchung wieder in die alte Vermögenspsychologie ein. Gleich dieser verwendet sie Begriffe, die zur ersten praktischen Orientierung dienlich sein mögen, und die zumeist der Populärpsychologie entlehnt sind, statt eine eindringende Analyse der Tatsachen vorzunehmen; und sie verwechselt die Subsumtion unter solche Begriffe mit einer Erklärung der Vorgänge. Aus beiden Quellen, der übereilten Verallgemeinerung und der schematisierenden Begriffsbildung, entspringt endlich als eine dritte Folge die unzulängliche und widerspruchsvolle Interpretation der Erscheinungen. Sie äußert sich teils darin, daß tatsächlich vorhandene Bestandteile derselben unberücksichtigt bleiben, während andere in sie hineingedeutet werden, die eine sorgfältige Beobachtung oder experimentelle Analyse nicht in ihnen finden kann, und die offenbar nicht den Tatsachen selbst, sondern den zumeist logischen Überlegungen des Beobachters entnommen sind. So reicht hier die Reflexions- der Vermögenspsychologie die Hand, um der Wirklichkeit irgend ein künstliches Begriffsgebilde zu substituieren. Je mehr aber daneben doch auch dem Bemühen um eine genaue Beschreibung der Erscheinungen Rechnung getragen wird, um so eklatantere Widersprüche stellen sich dann zwischen Theorie und Beobachtung schon in der Darstellung der Ergebnisse ein; und, indem sich unwillkürlich immerhin ein dunkles Bewußtsein solcher Unzuträglichkeiten geltend macht, kann es gelegentlich zu einer Vielheit theoretischer Behauptungen kommen, die in allen Farben schillern und als einziges Resultat dies übrig lassen, daß sie sich selbst aufheben.
    Die Rückwirkungen der praktischen auf die reine Psychologie in den drei Richtungen, in die ich sie hier zu ordnen versucht habe, an einer Anzahl von Beispielen aus der Literatur der jüngsten Vergangenheit nachzuweisen, würde nun, wie ich glaube, wenig ersprießlich sein, wenn man solche Beispiele den verschiedensten, zum Teil wieder weit voneinander abliegenden Arbeiten von Psychologen und Pädagogen entnehmen wollte, wo sie leicht den Anschein des tendenziösen Zusammentragens vereinzelter Entgleisungen erwecken könnten. Zweckmäßiger scheint es mir, einer solchen Betrachtung ein einziges Werk zugrunde zu legen. Auch glaube ich am besten zu tun, wenn ich hierzu nicht die Arbeit irgendeines subalternen Schriftstellers wähle, sondern die eines Autors, der sich in der Psychologie wie in der Pädagogik mit Recht eines hohen Ansehens erfreut, dessen Beispiel aber eben deshalb namentlich auch in pädagogischen und in andern für psychologische Fragen interessierten Kreisen leicht Irrungen und Mißverständnisse erzeugen könnte. Liegt es doch nahe, anzunehmen, daß ein Autor, der sich auf den beiden Gebieten der Psychologie wie der Pädagogik ausgezeichnet hat, vor allem da, wo es sich um die Wechselbeziehungen zwischen Theorie und Praxis handelt, demjenigen, der sich aus eigener Erfahrung kein Urteil zu bilden vermag, als der zuverlässigste Führer erscheint. In dieser Beziehung nimmt aber Ernst Meumann, der Verfasser des jüngst erschienenen Werkes "Intelligenz und Wille" (Leipzig 1908) ohne Frage eine hervorragende Stellung unter den heutigen Psychologen und Pädagogen ein, durch die er vor anderen zum Vermittler nach beiden Seiten prädestiniert erscheint. Um die Psychologie hat er sich durch seine "Beiträge zur Psychologie des Zeitbewußtseins" sowie durch die sich daran anschließenden "Untersuchungen zur Psychologie und Ästhetik des Rhythmus" (Philos. Studien, Bd. 8, 9, 10 und 12) unleugbare Verdienste erworben. Bei den Pädagogen genießen neben seinen der Psychologie des Kindes und den Lernmethoden gewidmeten Arbeiten, die den Ertrag seiner pädagogischen Studien zusammenfassenden "Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen" (2 Bände 1907) ein hohes Ansehen, und sie haben rasch eine weite Verbreitung in Lehrerkreisen gefunden. Nun liegt freilich zwischen jenen ersten der reinen Psychologie angehörenden und diesen neuesten pädagogisch-psycho-logischen Arbeiten mehr als ein Jahrzehnt, und in dieser Zeit hat das pädagogische Interesse den Verfasser dieser Schriften fast vorwiegend gefesselt, so daß man sich nicht wundern kann, wenn sich seine Anschauungen unter diesem Einfluß mannigfach gewandelt haben. Auch würde es sicherlich verkehrt sein, solche Wandlungen deshalb verurteilen zu wollen, weil sie von praktischen Aufgaben ausgegangen sind. Im Gegenteil, was theoretisch berechtigt ist, das muß sich schließlich ja auch in der Anwendung bewähren. Immerhin, ein Dezennium praktisch gerichteter Arbeit ist auf der andern Seite auch lang genug, um jener Tendenz nach einer rückwärts gerichteten Einwirkung, also nach einer Verallgemeinerung, Übertragung und erklärenden Anwendung einer von praktischen Gesichtspunkten bestimmten Betrachtung auf theoretische Probleme zu einem allzu großen Einflusse zu verhelfen. Hier ist nun das erwähnte Buch über "Intelligenz und Wille", wie mir scheint, vor andern geeignet, den Folgen einer solchen Rückwirkung näher zu treten. Es ist nach einer längeren, fast ganz der pädagogischen Psychologie gewidmeten Pause wieder das erste Werk, das sein Verfasser einem Thema der reinen Psychologie gewidmet hat. Mögen es gleich auch hier zunächst pädagogische Interessen sein, die ihn zu diesem Thema geführt, und die demnach die ganze Tendenz seiner Bearbeitung wesentlich mit bestimmt haben, an sich ist doch die Frage nach dem Verhältnis der im Titel genannten psychischen Funktionsgebiete eine in erster Linie theoretische; und als eine solche ist sie auch von dem Verfasser behandelt. In diesem Sinne ist daher dieses Buch in besonderem Maße geeignet, die Folgen zu studieren, welche die in der Gegenwart in weitem Umfang die Psychologie beherrschende praktische Tendenz für die Psychologie selbst mit sich führt.
    Vielleicht ließe sich dagegen einwenden, es handle sich hier um ein populäres, für ein größeres Publikum bestimmtes Buch, an das man den Maßstab einer strengeren wissenschaftlichen Kritik nicht anlegen dürfe. Aus zwei Gründen kann ich mich jedoch dieser Ansicht nicht anschließen, bin vielmehr geneigt zu glauben, daß eine Arbeit, die eben durch ihre Popularität den Anspruch auf weiteste Verbreitung der in ihr vertretenen Anschauungen verrät, eine um so strengere Prüfung der Probehaltigkeit ihrer Behauptungen herausfordert. Erstens pflegt der Verfasser einer solchen populären oder halbpopulären Schrift, um seine Ansichten in ein möglichst helles Licht zu setzen, diese mit großer apodiktischer Sicherheit vorzutragen, während ihn anderseits gerade der Anspruch auf Popularität gegen das Verlangen schützt, seine Sätze streng beweisen zu müssen. Das "Sic volo sic jubeo" kann darum hier jeder möglichen Kontrebande verfehlter Definitionen und willkürlicher Hypothesen das Ansehen unbestreitbarer Wahrheiten verleihen. Zweitens sieht sich der Autor solcher für das größere Publikum bestimmter Darstellungen nicht veranlaßt, andere Ansichten zu Worte kommen zu lassen. Oder wo er dies tut, da liebt er es, deren Vertreter als unbekannte Größen einzuführen, deren Meinungen sich dann gelegentlich auch nach Belieben modeln lassen, um ihre Unzulänglichkeit anschaulich zu machen. Meist genügt es sogar, diese einfach als "falsch" oder "ganz irrtümlich" zu bezeichnen, so daß der Leser den Eindruck gewinnt, die so zurückgewiesenen abweichenden Ansichten seien Meinungen einiger sonderbarer Schwärmer, während das, was der Autor selbst vortrage, die lautere oder mindestens zur Zeit in der Wissenschaft anerkannte Wahrheit bedeute. Auch Meumann hat von diesen beiden Mitteln reichlich Gebrauch gemacht. Aber ich will dem hier nicht näher nachgehen. Die unbekannten Autoren, die gelegentlich in dieser Weise abgefertigt werden, mögen samt ihren Meinungen ganz aus dem Spiel bleiben. Ich werde mich darauf beschränken, die drei Richtungen, in denen sich die Rückwirkungen der wesentlich nach pädagogischen Rücksichten bestimmten Psychologie auf die reine Psychologie geltend machen, an einigen der hervorstechendsten Beispiele aus dem genannten Werk zu erläutern. Zugleich bemerke ich ausdrücklich, daß auch diese Schrift die bekannten Vorzüge Meumannscher Darstellung, Klarheit, praktisch-psychologische Erfahrung und treffende Charakteristik einzelner Persönlichkeiten, nicht vermissen läßt. Daß ich mich übrigens bei den hier kritisch zu beleuchtenden Beispielen für jede der oben gekennzeichneten drei Richtungen auf ein einziges beschränke, wird wohl umsomehr gerechtfertigt erscheinen, als ich jedesmal das wichtigste, vom Verfasser selbst in den Vordergrund gestellte, bevorzuge.

III.

    In seinen Betrachtungen über den Einfluß der Übung auf die Leistung "geistiger Arbeit" und der zu ihr erforderlichen physischen Vorbedingungen erwähnt Meumann, daß Memorierversuche mit der Aneinanderreihung sinnloser Silben in den anfänglichen Übungsstadien eine vierzig- bis fünfzigmalige Wiederholung erfordern, damit zwölf solcher Silben ohne Fehler reproduziert werden können, daß aber, normale physische und psychische Leistungsfähigkeit vorausgesetzt, und abgesehen von gewissen Altersgrenzen nach unten und oben, schon nach kurzer Zeit eine einmalige Wiederholung genügt, um das gleiche Resultat zu erzielen. Hieraus schließt er erstens, daß, wenn nicht die Ermüdung im Wege stünde, oder wenn dem Memorierenden die zureichende Erholung jedesmal vergönnt würde, schließlich, falls nur die Zeit der Übung lang genug wäre, eventuell 100 sinnlose Silben nach einer einzigen Wiederholung festgehalten werden könnten. Zweitens folgert er: "Wenn sich zwei Klavierspieler, von denen der eine eine sehr große, der andere eine äußerst geringe Anlage zum Klavierspielen besitzt, bemühen, es durch Übung dahin zu bringen, daß sie ein technisch sehr schwieriges und zugleich sehr umfangreiches Stück auswendig, fehlerlos und mit musikalischem Ausdruck zu spielen fähig sind, so kann das jeder von beiden erreichen, aber der erste wird es relativ schnell erreichen, der zweite wird ungeheuer viel mehr an Zeit und Übung aufwenden müssen, und, wenn die angeborene musikalische Begabung nur eine äußerst schwache ist, wird einfach schon die Zeit und die physische Ausdauer diesem Ziel eine Grenze setzen. Nehmen wir aber einmal an, es stände diesem Menschen unbegrenzt viel Zeit und Ausdauer zur Verfügung, so würde er – soweit es auf die Übung allein ankommt – sicher zu seinem Ziel gelangen, trotz der Schwäche seiner Anlage" (S. 43). Diese Erwägungen führen Meumann zu einem allgemeinen psychologischen Gesetz, das er folgendermaßen formuliert: "Die Möglichkeit der Steigerung unserer Fertigkeiten durch Übung ist, abgesehen von den oben angedeuteten Einschränkungen, eine unbegrenzte, das heißt, wir können durch Übung alles erreichen" (S. 42).
    Daß die Ableitung dieses merkwürdigen Gesetzes auf zwei unerlaubten Verallgemeinerungen einer beschränkten Erfahrung beruht, läßt sich wohl kaum bestreiten. Erstens wird der Begriff der geistigen Arbeit hier von einem Gebiet einfachster Gedächtnisübung an, das man fast Bedenken tragen muß, ihr überhaupt noch zuzurechnen, bis zu den höchsten, nur unter den verwickeltsten Bedingungen möglichen Leistungen unterschiedslos zu einem Ganzen zusammengefaßt; und zweitens wird das in jenem einfachsten Grenzfall gewonnene Ergebnis auf alle anderen möglichen Formen geistiger Arbeit übertragen. Um das zu erreichen, bedient sich zudem der Verfasser einer Fiktion, die niemals in der wirklichen Erfahrung denkbar ist, der Fiktion nämlich, daß der Übung eventuell eine unendliche Zeit zur Verfügung stehe. Ich bekenne, daß ich gerade im Hinblick auf Beobachtungen an Klavierspielern einigen Zweifel hege, ob sich die Meumannsche Behauptung bestätigen würde, auch wenn es möglich wäre, seine Fiktion zu verwirklichen. In der Tat scheint er selbst in dieser Beziehung etwas zweifelhaft zu sein, wie dies wohl die limitierende Bemerkung andeutet "soweit es auf die Übung allein ankommt". Da ich jedoch beobachtet zu haben glaube, daß es, um ein musikalisches Stück mit vollendetem Ausdruck wiederzugeben, auf die Übung überhaupt nicht ankommt, so kann ich seiner Behauptung auch mit jener Einschränkung nicht beipflichten. Auf alle Fälle würde er aber nicht berechtigt gewesen sein, auf Grund solcher ins Unendliche gehenden Fiktionen das allgemeine Gesetz aufzustellen, der Mensch könne durch Übung alles erreichen.
    Ist dieses Verfahren einer unbegrenzten Verallgemeinerung höchst beschränkter Erfahrungen vom Standpunkt psychologischer Methodik aus verwerflich, so kann ich mir aber auch nicht vorstellen, daß der Hinweis auf eine solche Möglichkeit, durch fortgesetzte Übung jedes Ziel, auch das der Begabung heterogenste, zu verwirklichen, für die Pädagogik besonders nützlich sei. Was sollte daraus werden, wenn der Lehrer im Vertrauen auf die Exaktheit experimenteller Untersuchungen solche angebliche Gesetze in die Praxis umsetzen wollte? Abgesehen von diesen immerhin möglichen praktischen Folgen ist aber zu bemerken, daß die reine Psychologie bei jener Verwertung einer an sich sehr interessanten experimentellen Tatsache eigentlich leer ausgeht. Indem der Verfasser ausschließlich der pädagogischen Anwendung solcher Maßbestimmungen des Gedächtnisumfanges bei einfacher und mehrfacher Wiederholung der Eindrücke nachgeht, verliert er die zum Verständnis der psychologischen Bedingungen der so gewonnenen Ergebnisse erforderlichen Beziehungen zu anderen Erscheinungen aus dem Auge. Er biegt nämlich die zum Ausgangspunkt dienende empirische Tatsache, daß im allgemeinen nach zureichender Übung zwölf zusammenhanglose Eindrücke den Umfang des Gedächtnisses bei einmaliger Einwirkung bezeichnen, sofort in das Übungsproblem um, ohne der Frage näher zu treten, wie etwa in der allgemeinen Konstitution des menschlichen Bewußtseins diese Beschränkung begründet sein möchte. Weist doch hierauf schon die weitere Tatsache hin, daß die verschiedenen Beobachter immer wieder annähernd die gleiche Anzahl einfacher Eindrücke, die nach langer Gedächtnisübung bei bloß einmaliger Einwirkung fehlerlos reproduziert werden können, als Grenze gefunden haben. So gibt Ebbinghaus als Resultat seiner sehr sorgfältigen Versuche sieben sinnlose Laute als solche Grenze an, was in Anbetracht der mannigfachen individuellen Abweichungen des Gedächtnisses immerhin von der von Meumann angegebenen Zahl 12 nicht allzuweit abweicht2). Diese nahe Übereinstimmung der erreichbaren Grenzen macht es doch wohl schon sehr wahrscheinlich, daß es sich hier nicht um einen von der zufälligen Übungsstufe abhängigen Befund handelt, über den durch fortgesetzte Übung beliebig weiter, bis auf 100 und mehr fortgeschritten werden könnte, sondern um eine Größe, die mit dem Umfang des Bewußtseins und der Aufmerksamkeit zusammenhängt, Eigenschaften, die im Grunde ebensowenig durch Übung in erheblichem Grade verändert werden können, wie etwa der Umfang der hörbaren Töne oder der im Sonnenspektrum gesehenen Farben. In der Tat stimmen die Resultate der Memorierversuche in jenem Grenzfall wie unter sich, so wiederum mit den Messungen über den Umfang der Aufmerksamkeit, bzw. den Umfang einer in der Apperzeption zusammenzufassenden Gesamtvorstellung annähernd genug überein, um hier an mehr als eine bloß zufällige Beziehung denken zu lassen. So ergaben die tachistoskopischen Versuche 6 bis 10 zusammenhanglose Buchstaben oder sinnlose Silben als Grenze der unmittelbaren Auffassung eines optischen Gesamteindruckes, und J. Quandt fand bei der Aufeinanderfolge von Schalleindrücken bei günstiger Wahl der Zeitintervalle, aber unter Vermeidung jeder rhythmischen Gliederung, sechs als die Maximalzahl der unmittelbar als ein einheitliches Ganzes von der Aufmerksamkeit zu erfassenden Eindrücke3). Da bei den Lernversuchen schwerlich darauf geachtet wurde, ob und inwieweit eine rhythmische Gliederung der Reihe stattfand, so erklären sich daraus möglicherweise ebenso die Abweichungen der verschiedenen Beobachter bei diesen Versuchen voneinander wie von den Resultaten Quandts. Sollten z. B. bei den von Meumann verwerteten Beobachtungen die Silben, wozu eine vorwiegende Neigung besteht, nach dem Zweiachteltakt gruppiert worden sein, so würde die von ihm angegebene Zahl zwölf der von Quandt gefundenen sechs genau entsprechen, da in diesem Fall der einzelne Zweiachteltakt einem einfachen Eindruck der nicht rhythmisierten Reihe äquivalent ist.

2) Ebbinghaus, Über das Gedächtnis, S. 69. Vgl. auch W. G. Smith, Psychol. Review, vol. 3, p. 21 ff.
3) Vgl. meinen Grundriß der Psychologie8, S. 255f. Quandt, Bewußtseinsumfang für regelmäßig gegliederte Gesamtvorstellungen, Psychologische Stadien, Bd. l, S. 137ff., 171f.

IV.

    Indem sich Meumann die Aufgabe stellt, die unter dem Namen der "Intelligenz" vereinigten psychischen Funktionen in ihre Bestandteile zu sondern, geht er zunächst von dem bereits im populären Sprachgebrauch ausgeprägten Allgemeinbegriff der Intelligenz aus, um dann alles das, was in unserem geistigen Leben teils direkt an jenen Funktionen beteiligt ist, teils hilfreich oder hemmend in dieselben eingreift, in ihrer Beziehung zu ihnen zu erörtern. Danach bestimmt er die Intelligenz im allgemeinen als die Fähigkeit, zu denken und zu urteilen, wobei sich dann die Grade der Intelligenz nach der Selbständigkeit des Urteils und nach der Originalität und Produktivität des Denkens bemessen (S. 8 f.). Indem sich nun aber alles Denken und Urteilen in der Feststellung von Beziehungen zwischen Vorstellungen und Begriffen betätigt, die in Urteilen ihren Ausdruck finden, ergibt sich schließlich die Urteilsfähigkeit oder die "beziehende Tätigkeit" als das eigentliche Wesen der Intelligenz (S. 151). Die Hauptaufgabe der Untersuchung, ihrer psychologischen Eigenschaften, ihrer verschiedenen Äußerungen und Formen besteht hiernach in der Feststellung der Wechselbeziehungen der auf solche Weise wesentlich auf die formalen logischen Funktionen zurückgeführten eigentlichen Intelligenz mit den niederen psychischen Tätigkeiten. Einerseits handelt es sich dabei um die Beeinflussung des Denkens durch diese niederen Tätigkeiten, anderseits um das Eingreifen des Denkens in jene. Die so als Voraussetzungen und Vorbedingungen der Intelligenz zu betrachtenden geistigen Fähigkeiten scheidet Meumann in zwei Gruppen: eine formale, nämlich Aufmerksamkeit, Übung, Gewöhnung und Ermüdung, und eine materiale, nämlich Anschauung, Beobachtung, Gedächtnis und Phantasie (14).
    Es kann nicht meine Aufgabe sein, dieses hier in seinen allgemeinen Umrissen angedeutete Schema in seine einzelnen Züge zu verfolgen. Der wichtigsten unter den "formalen" Voraussetzungen ist ohnehin schon oben gedacht worden. Als eine für den allgemeineren Standpunkt des Verfassers beachtenswerte Bemerkung mag hier nur noch beigefügt werden, daß sich auf jede Art geistiger Leistungen der Übungsfortschritt eben so sehr erstrecke, wie auf die körperlichen: dies sei "übrigens vom Standpunkt physiologischer Psychologie aus ganz selbstverständlich, da nach deren Annahme alle geistige Arbeit zugleich körperliche und alle körperliche Arbeit zugleich geistige" sei (S. 46). Daß diese Behauptung eine selbstverständliche Annahme der physiologischen Psychologie sei, erlaube ich mir zu bestreiten. Ich glaube nicht, daß jemand, er sei denn ein alle Erfahrung in den Wind schlagender Metaphysiker, die Arbeit der Atem- oder der Herzbewegungen für eine "geistige Arbeit" erklären wird. Aber auch der umgekehrten Behauptung, jede geistige sei zugleich körperliche Arbeit, wird der besonnene Psychologe nur unter der Voraussetzung zustimmen, daß mit dem "zugleich" lediglich ein innerhalb der begleitenden Stoffwechselvorgänge stattfindender Verbrauch latenter Arbeitskräfte gemeint sei, daß aber davon alles das, was den spezifischen Inhalt und damit den Wert der geistigen Arbeit ausmache, nicht getroffen werde. Kaum kann man daher annehmen, daß dies des Verfassers eigene Meinung sei. Dennoch läßt sich nicht verkennen, daß in dem allumfassenden Gebrauch, den er von dem Begriff der "geistigen Arbeit" macht, solche extreme metaphysische Hypothesen anklingen. Auf alle Fälle gibt sich in jenen Behauptungen eine bei einem empirischen Psychologen befremdliche Neigung kund, aus allgemeinen Begriffen Folgerungen zu ziehen, ohne erhebliche Rücksicht darauf, ob sie sich in der Erfahrung bewähren oder nicht. Dies zeigt sich auch bei der Betrachtung der den Gegensatz zur Übung bildenden "formalen Bedingung" der Intelligenz, bei der "Ermüdung". Die Wissenschaft, sagt Meumann, macht uns eine körperliche, aber keine geistige Ermüdung verständlich. "Warum sollte auch das Bewußtsein oder die Seele ermüden?" Auf geistiger Seite fehle es uns ganz an Parallelvorgängen zu den das Wesen der physiologischen Ermüdung verständlich machenden Vorgängen, des Stoffverbrauches, der Ansammlung von Ermüdungsstoffen usw. Dagegen haben wir "auf geistiger Seite immer nur die Veränderungen der psychischen Prozesse selbst vor uns. ..... Auf körperlichem Gebiete haben daher alle solche Veränderungen, wie Ubungswirkungen, Ermüdung und Erholung, sowohl eine substantielle wie eine funktionelle Bedeutung, auf geistigem Gebiete sind sie nur als funktionelle Veränderungen vorhanden" (S. 64 f.). Es ist klar, daß sich diese Deduktion und die obige von den Grundlagen der Übung auf metaphysische Voraussetzungen stützen, die nicht bloß außerhalb einer rein empirischen Betrachtung des Seelenlebens liegen, sondern die sich auch wechselseitig widersprechen. Im einen Fall wird das Parallelismusprinzip im Sinne einer realen Identität des Körperlichen und Geistigen angewandt; im anderen wird dem Geistigen eine bloß funktionelle Bedeutung zugeschrieben, daher es sich ausschließlich aus den Veränderungen seiner substantiellen physiologischen Grundlagen erklären lasse.
    Von größerer Bedeutung als solche mehr metaphysische denn empirische Betrachtungen sind jedoch für das Problem der Intelligenz die "materialen Voraussetzungen" der letzteren. Jeden der hier aneinandergereihten Begriffe, Beobachtung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Phantasie, sucht der Verfasser zunächst durch eine möglichst ihn von den anderen scheidende Definition zu fixieren, um ihn dann im Verhältnis zu den anderen und in seinen Wechselwirkungen mit der Intelligenz zu untersuchen. Ich will hier nicht auf die ganze Reihe dieser Begriffe eingehen, sondern beschränke mich auf die beiden der Intelligenz nächstliegenden: Gedächtnis und Phantasie. Das Gedächtnis definiert Meumann in der althergebrachten Weise: "es besteht ihm in der Wiederholung früherer Eindrücke, früherer Erlebnisse oder früher von uns gebildeter Vorstellungen"; die Phantasie dagegen "arbeitet mit solchen Vorstellungen, die als Ganzes den Charakter von etwas Neuem durch uns selbst gebildeten besitzen, bei welchen aber natürlich Bestandteile früherer Erinnerungen verwendet werden" (S. 124). Das sind mit einigen Umschreibungen die bekannten Distinktionen der Vermögenspsychologie: Gedächtnis ist das Vermögen, frühere Empfindungen unverändert zu erneuern, die Phantasie besteht in der Fähigkeit, ihre Anordnung zu verändern. Nun kann sich freilich auch der Verfasser nicht ganz der Erkenntnis entziehen, daß das Gedächtnis "nicht einfach eine getreue Abbildung früherer Eindrücke bringt, sondern eine gewisse Umbildung und Veränderung mit ihnen vornimmt". Aber "es tut das gewissermaßen unerlaubter Weise". Überdies ist eine Beihilfe der Phantasietätigkeit schon dadurch veranlaßt, "daß unsere Erinnerung lückenhaft ist, und daß wir diese Lücken durch Zutaten von Phantasievorstellungen ausfüllen" (S. 125). In der Tat, fast könnte man glauben, hier einen Paragraphen aus Christian Wolffs Psychologie zu lesen, nur daß zuweilen da und dort die alten Schubfächer mit etwas moderneren Aufschriften versehen sind. Streng geschieden stehen sich wiederum die alten Vermögensbegriffe gegenüber. Gelegentlich will sich zwar einmal einer in das Gebiet eines anderen einschleichen. Aber unerbittlich wird er zurückgewiesen, und wenn er sich der Definiton seines Gebietes nicht fügen will, so wird der Widerspruch durch die Annahme einer Kooperation beider Vermögen beseitigt. Da aber über all diesem Streit der Vermögen die allbeherrschende Intelligenz steht, so wird schließlich die allzugroße Dissonanz durch die Reflexion ausgeglichen. Wo der Widerspruch zwischen Gedächtnis und früherer Wahrnehmung zu groß ist, da kommt eine "Vermutung" zu Hilfe, um zu rechter Zeit die Phantasie herbeizurufen, damit sie ihre Schuldigkeit tue. Es ist vollständig jenes "Bellum omnium contra omnes", das schon Herbart mit so bitterem Spott verfolgt hatte, daß man längst geglaubt seiner ledig zu sein. Hier wiederholt sich bis ins Kleinste das alte Bild. Neben dem Krieg fehlt auch die friedliche Zusammenarbeit nicht, und wiederum wird diese durch den souveränen reflektierenden Verstand ermöglicht, dessen Diener ja schließlich alle anderen Vermögen sind4). Der Verstand gebietet, wo das Gedächtnis seine Pflicht verabsäumt, der Phantasie, um unter seinem Beistand eine passende Vermutung zustande zu bringen. Zu Christian Wolffs Zeiten mochte diese Zuflucht zur Reflexion immerhin noch erlaubt erscheinen. Heute ist sie es angesichts alles dessen, was wir experimentell über den Einfluß reproduktiver Assimilationen auf Wahrnehmungs- wie Erinnerungsvorgänge erfahren haben, nicht mehr. Man denke nur, um aus den massenhaft hier vorliegenden Versuchen bloß einige herauszugreifen, an die tachistoskopischen Jul. Zeitlers und anderer über die Auffassung von Worten mit willkürlich variierter Einschaltung falscher Buchstaben, bei denen gelegentlich die abweichenden Wortelemente so zahlreich sein können, daß verschiedene Auffassungen des gleichen Buchstabenkomplexes möglich werden5). In diesen Versuchen erscheinen die Elemente, die in dem Worte fehlen oder durch andere ersetzt sind, die also infolge einer Assimilation von den gegebenen Wortelementen aus an die Stelle der fehlenden treten, genau so deutlich wie die wirklich gesehenen. Der ganze Prozeß gleicht vollständig einer objektiven Wahrnehmung, und zwischen den optisch vorhandenen und den optisch nicht vorhandenen Teilen des Bildes ist absolut gar kein Unterschied zu bemerken. Vor allem fehlt also ganz ein Vorgang, der irgendwie als ein solcher der "Vermutung" mit irgendeinem Schein von Recht bezeichnet werden könnte, es sei denn, daß man es für erlaubt hält, den wirklichen Tatsachen seine eigenen Reflexionen über dieselben zu substituieren. Das ist im vorliegenden Beispiel um so augenfälliger, als in der Tat gelegentlich Fälle vorkommen können, wo der Beobachter nur einzelne Teile des gebotenen Objektes aufzufassen vermag, und wo er dann auf Grund irgendwelcher Überlegungen eine "Vermutung" über die Beschaffenheit des Bildes äußert. Dieser Fall scheidet sich von dem ersten des unmittelbaren Eindruckes der ganzen Wortvorstellung schon durch die Dauer der zur Bildung einer Vermutung erforderlichen Zeit, dann aber auch durch den Inhalt des Prozesses so gewaltig, daß man entweder solche Versuche niemals ausgeführt haben oder unter den Einfluß einer die wirkliche Beobachtung gänzlich trübenden Reflexionspsychologie geraten sein muß, wenn man bei jenen unmittelbar und mit vollkommenster Anschaulichkeit erfolgenden assimilativen Täuschungen eine Vermutung interpoliert. Da das erstere im vorliegenden Fall nicht wohl angenommen werden kann, so ist nur das zweite möglich: der mit der oben gekennzeichneten praktischen Richtung des psychologischen Denkens zusammenhängende Drang nach absoluter Begriffsscheidung bewirkt zunächst unwillkürlich einen Rückfall in die Vermögenspsychologie; und da die Tatsachen der Beobachtung heute noch weniger als ehedem der Einfügung in die Vermögensschablone gehorchen wollen, so muß wohl oder übel, ganz so wie ehedem, zu Ergänzungen durch die Reflexion gegriffen werden. So wiederholt sich auch hier die in die frühere Aera der Vermögenspsychologie zurückfallende Herrschaft des Intellekts über die anderen Vermögen.

4) Vgl. hierzu meine Bemerkungen über die Seelenvermögen der alten Psychologie, Grundzüge der physiol. Psychologie6, Bd. l, S. 16ff.
5) Jul. Zeitler, Tachistoskopische Untersuchungen über das Lesen. Phil. Studien, Bd. 16, S. 380 ff.

    Womöglich noch schlagender als die tachistoskopischen Versuche zeigen übrigens die Unmöglichkeit, mittels solcher intellektueller Hilfsoperationen die Erscheinungen zu interpretieren, unter den sonstigen Formen sogenannter Sinnestäuschungen die "umkehrbaren perspektivischen Vorstellungen". Bekanntlich hat man diese, z. B. die Umkehrung der Konturenzeichnung eines Prismas aus einer Körperin eine Hohlform u. a., früher auf Wirkungen der Phantasie zurückgeführt. Die neuere experimentelle Analyse der Erscheinungen hat aber gezeigt, daß sie in streng gesetzmäßiger Weise aus der primären Fixation eines Punktes der Figur und der sich anschließenden Augenbewegung über die von diesem Punkte ausgehenden Fixierlinien hervorgehen, eine Tatsache, die kaum anders als aus der Assoziation mit der bei der normalen Sinneswahrnehmung stattfindenden regulären Aufeinanderfolge von Blickbewegungen und Partialauffassungen erklärt werden kann. Besonders die Skioptikonversuche sind in dieser Beziehung vollkommen entscheidend6). Was zuvor der Phantasie zugerechnet wurde, verwandelt sich also hier zu einem wesentlichen Teile in einen sogenannten Gedächtnisvorgang. Wiederum aber steht in allen Fällen das Relief so unmittelbar und so vollkommen äquivalent einer direkten plastischen Wahrnehmung vor dem Bewußtsein, daß von einer intellektuellen Hilfsoperation, die etwa zwischen Gedächtnis und Phantasie vermitteln sollte, nicht die Rede sein kann. So zeigen alle diese Beispiele deutlich, daß jener Rückfall in eine aus Vermögens- und Reflexionspsychologie gemischte Interpretation überhaupt keine Interpretation, sondern die Beseitigung dieser durch komplexe Begriffe ist, die selbst erst der psychologischen Analyse bedürfen.

6) Physiol. Psychologie5, II, S. 543 ff., III, S. 530 f.

    Die schlimmen Folgen, die ein derartiges Operieren mit allgemeinen Vermögensbegriffen mit sich führt, zeigen sich nun nicht minder bei dem Versuch, aus solchen starren Begriffsgebilden die in die praktische Psychologie herüberreichenden Erscheinungen verständlich zu machen. Hier treibt vollends jener wechselnde Streit der verschiedenen Vermögen sein verwegenstes Spiel. Er bewegt sich fortwährend in dem gleichen Zirkel, in welchem die einzelnen Fähigkeiten bald sich bekämpfen, bald einander zu Hilfe kommen. Den Mittelpunkt dieses Spieles bildet insbesondere die Intelligenz. Ein gutes Gedächtnis kann selbstverständlich eine mächtige Hilfe der Intelligenz sein, der es den nötigen Vorrat an Vorstellungen zur Verfügung stellt. Es kann aber auch derselben gefährlich werden, indem es die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Funktionen des Denkens auf die rein mechanischen Assoziationen ablenkt (S. 115). Ebenso steht die Phantasie bald in einem positiven, bald in einem negativen Verhältnis zur Intelligenz: sie hilft dieser bei der kombinatorischen Richtung ihrer Wirksamkeit; anderseits ist sie ihr hinderlich, indem sie die Arbeit des Denkens durch phantasievolle Einfälle und Kombinationen stört (S. 136). Doch können auch Gedächtnis und Phantasie, obgleich sie zu den niederen Seelenkräften und bloßen Vorbedingungen der Intelligenz gerechnet werden, durch ihr Zusammenspiel, wenn nur mäßige intellektuelle Anlagen hinzukommen, eine höhere Intelligenz vortäuschen oder sogar ersetzen. Beide werden so zu "niederen Äquivalenten der Intelligenz". Auch diese niederen Äquivalente können aber endlich, indem sich dasselbe Widerspiel der Kräfte wiederholt, die eigentliche, denkende Intelligenz schädigen oder gar verdrängen (S. 77). Man glaubt sich in eine, wie man meinte, längst hinter uns liegende Welt versetzt, wenn man diese Ausführungen liest. Wohl ist das Wort "Vermögen", das einen dem Ohr des modernen Psychologen widerstrebenden Klang besitzt, durchweg vermieden. Es ist durch "Fähigkeiten" oder "Anlagen" oder durch die Einzelbegriffe selbst vertreten. Aber in der Sache ist kein Unterschied. Dieses gleichförmig sich wiederholende Schema des wechselnden Spiels seelischer Kräfte mit ihrer Scheidung in niedere und höhere könnte ebensogut ihrem allgemeinen Inhalte nach in Moritz "Magazin für Erfahrungsseelenkunde" stehen, wie in der Arbeit eines experimentellen Psychologen der Gegenwart; und weder das Experiment selbst, noch die durch experimentelle Resultate nahe gelegte Analyse der Erscheinungen kommt zum Wort. Statt dessen wird gesucht, an Beispielen aus dem praktischen Leben oder aus der Charakteristik hervorragender Persönlichkeiten Belege für das Vorgetragene zu gewinnen. Doch auch hier gewinnt man durchaus den Eindruck, jener Wechsel von Kampf und Hilfeleistung sei nicht aus solchen Beispielen durch Induktion gewonnen, sondern aus dem zugrunde gelegten Schema zunächst als allgemeine Möglichkeit auf das Wechselverhältnis der einzelnen Vermögen angewandt, um dann nachträglich erst Beispiele zu den einzelnen möglichen Kombinationen zu suchen. Hier ist der Rückfall in die alte Vermögenspsychologie ein so vollständiger, daß selbst das alte Schema der Wechselwirkungen der Vermögen fast unverändert wiederholt wird. Natürlich geschieht das nicht absichtlich, sondern der Verfasser unterliegt unwillkürlich und offenbar unbewußt dem Zwang des Begriffsschematismus, dem er sich nun einmal anvertraut hat, und dieser Schematismus ist wiederum das unwillkürliche Produkt überhasteter Verallgemeinerung und mangelhafter psychologischer Analyse, wie sie das Streben nach möglichst rascher praktischer Anwendung in einem noch so sehr eines soliden theoretischen Unterbaues bedürfenden Gebiet wie der Psychologie in dem gegenwärtigen Stadium ihrer Entwicklung hervorbringen muß. Daß dabei dem Verfasser die Klarheit der Darstellung und bei manchen seiner Beispiele, wie bei der Charakteristik Lichtenbergs, Ruskins u. a., eine gewisse praktisch-psychologische Beobachtungsgabe zustatten kommen, versteht sich von selbst. Nur wirkt doch auch hier die Neigung nach schematisierender Anwendung der Vermögensbegriffe da und dort auf eine einseitige Beleuchtung der Charaktere hin.

V.

    Den Begriff des Willens definiert Meumann an verschiedenen Stellen zum Teil in abweichender Weise. Ich begnüge mich, zwei dieser Definitionen hervorzuheben: 1. Der Wille ist einerseits "die innere Aktivität, das Tun und Wirken unserer Persönlichkeit, auf Grund deren unser ganzes inneres Leben etwas mehr ist als eine bloße Summe von Vorgängen oder Naturprozessen. ..... Durch den Willen nimmt das ganze psychische Geschehen einen eigenartigen Charakter an, den wir nur mit dem Begriff Tätigkeitscharakter bezeichnen können, es wird zu dem Wirken und Handeln einer Persönlichkeit. ..... Anderseits liegt die Bedeutung der Willenshandlungen darin, daß sie Vorgänge sind, durch welche wir auf die Außenwelt einwirken, ebenso wie die Persönlichkeit durch innere Handlungen auf sich selbst einwirkt" (S. 176). 2. "Ich sehe den Kern der Willensvorgänge in aktiven Selektionsursachen unseres psychischen Geschehens, wobei in der Aktivität durchaus nichts rätselhaftes liegt, sie läßt sich vielmehr in einzelne Bedingungen unseres intellektuellen Geschehens auflösen, die eine besonders innige Beziehung zum Ichbewußtsein haben" (S. 198). Diese Bedingungen bestehen: a) "in dem Einleiten des ganzen Prozesses durch die Fixation einer Zielvorstellung im Bewußtsein", b) "in Prozessen, die eine besonders innige Beziehung zu unserm Ichbewußtsein haben"; diese sind hauptsächlich: "Aufmerksamkeit, unser zustimmendes Urteil, und in sekundärer Mitwirkung Gefühle und Organempfindungen", endlich c) vor allem darin, daß wir "faktisch durch die Fixation einer einzelnen Vorstellung oder Vorstellungsgruppe eine Auswahl unter den folgenden Bewußtseinsvorgängen selbst herbeiführen, indem die Fixation der Zielvorstellungen die nachfolgenden Prozesse beherrscht, d. h. determiniert" (S. 190). In der weiteren Erläuterung wird dann noch auf die "Zustimmung" zu der Zielvorstellung, die der Ausführung der Handlung vorausgehende Entschließung oder Entscheidung oder (was damit identisch sei) auf die bewußte Wahl zwischen verschiedenen Motiven besonderer Wert gelegt (S. 213).
    Meumann betrachtet die erste dieser Definitionen als eine provisorische, die zunächst nur zusammenfassen soll, was sich der populäre Sprachgebrauch unter dem Willen denke. Die zweite ist ihm die definitive, die auf Grund der wissenschaftlichen Analyse der Willenserscheinungen gewonnen werde. Ich bekenne, daß ich in diesem Fall die provisorische Definition zwar keineswegs für tadellos, aber doch gegenüber der definitiven unbedingt für die bessere halte. Man könnte aus ihr vielleicht eine brauchbare Begriffsbestimmung gewinnen. Die definitive dagegen leidet an den zwei schlimmsten Fehlern, die dem Versuch einer Begriffsbestimmung begegnen können: sie enthält Verschiedenes, von dem bezweifelt werden muß, ob es wirklich in einer Willenshandlung vorkommt; und sie enthält gerade das nicht, was nach der psychologischen Beobachtung für jede Willenshandlung erforderlich ist, und was in jener provisorischen Definition immerhin angedeutet wird: so das Bewußtsein der "eigenen Aktivität", das "Wirken und Handeln einer Persönlichkeit"; u. a. Von der endgültigen Begriffsbestimmung läßt sich geradezu sagen, sie sei bemüht, ebendiese Bestandteile derart zu interpretieren, daß sie zu etwas anderem werden als was sie nach dem Zeugnis unserer unmittelbaren inneren Wahrnehmung wirklich sind. So ist die "Zielvorstellung" offenbar keine bloße Vorstellung, sondern sie setzt den Willen, ein Ziel zu erreichen, bereits voraus. Dagegen ist die "Zustimmung" oder "Billigung" nichts, was an und für sich dem Wollen spezifisch eigen wäre: ich kann der Meinung eines andern oder seiner Handlung zustimmen, ohne selbst etwas zu wollen. Sollte aber jemand noch glauben, in dem Bewußtsein der "Aktivität des Ich" einen Schatten der provisorischen Definition zu entdecken, so würde er sich auch darin enttäuscht finden. Die Beziehungen zum Ich gehen, wie uns die endgültige Definition weiterhin lehrt, völlig auf in der Aufmerksamkeit, dem zustimmenden Urteil und vor allem in der Fixation der Zielvorstellungen und in der durch sie bewirkten Determination der nachfolgenden Prozesse, d. h. der den Entschluß ausführenden Handlung selbst. Nun besteht die Aufmerksamkeit, wie wir anderwärts erfahren, lediglich in einem höheren Grad von Bewußtheit gegenüber anderen Vorstellungen (S. 16). Auch die Aufmerksamkeit ist also eine in das Gebiet des intellektuellen Seelenlebens gehörige Tatsache. Wer nach allem dem noch auf die Gefühle eine schwache Hoffnung gesetzt haben sollte, der erfährt schließlich, daß es erstens Willenshandlungen gibt, bei denen sie fehlen: die reinen Intelligenzformen des Willens; daß die Gefühle zweitens, wo sie vorkommen, sekundäre, dem eigentlichen Willensprozeß erst nachfolgende Elemente, und daß sie endlich selbst schon intellektuelle Elemente sind, da sie nichts anderes als "Verschmelzungen von Gemeinempfindungen"; darstellen. Damit ist dann glücklich aus dem Begriff des Willens alles beseitigt, was der reinen Intelligenz in ihrem unbeschränkten Walten im Wege stehen könnte. Größerer oder geringerer Grad von Bewußtheit, begleitende Organempfindungen, Vorstellungen von Handlungen, namentlich Zielvorstellungen, endlich und hauptsächlich Urteile, die den Handlungen vorausgehen, oder sie begleiten, bilden nunmehr den gesamten Inhalt eines Willensvorgangs. Damit ist dieser in lauter Elemente der Intelligenz aufgelöst, und die ganze weitere Beleuchtung des Willensproblems geht jetzt darauf aus, diesen schon in der Definition vorausgenommenen Standpunkt eines radikalen Intellektualismus, der wohl in dem bekannten "Syllogismus practicus" der Scholastiker seinen nächsten Verwandten sehen darf, weiter im einzelnen zu begründen.
    Es kann hier nicht unternommen werden, dem Verf. auf allen seinen Kreuz- und Querzügen, die zugleich Kreuzzüge gegen den sogenannten "Voluntarismus" sind, zu folgen. Es muß genügen, einzelnes hervorzuheben. Da ist zunächst die gänzliche Elimination der Gefühle aus den Willensvorgängen von besonderem Interesse. Sie stützt sich im ganzen auf drei Behauptungen. Erstens: es gibt vollkommen gefühlsfreie, also rein intellektuell motivierte Willenshandlungen. Zweitens: die einzigen Formen der Gefühle, die eventuell in ein Wollen eingehen können, sind Lust oder Unlust; denn andere Gefühlsformen gibt es überhaupt nicht. Drittens: auch diese gibt es eigentlich nicht; denn auch die Gefühle der Lust und Unlust sind ihrem Wesen nach "Verschmelzungen von Gemeinempfindungen".
    Die erste dieser Behauptungen hängt unmittelbar mit der oben gegebenen endgültigen Definition des Willens zusammen. Nach ihr lassen sich die wesentlichen Bestandteile des Willens als Formen der Intelligenz bezeichnen, welche sich in Handlungen umsetzen (S. 255), oder der Wille selbst als ein "Übergehen von beurteilten Zielvorstellungen und ihrer Zustimmung in Handlungen". "Ein Wille ohne vorhergehenden Intellekt in irgend einem Sinne ist daher eine psychologische Unmöglichkeit. Ein solcher Wille wäre keine Willenshandlung mehr, sondern ein ohne Bewußtsein ablaufender Reflex" (S. 274). Dem entspricht, daß sich die reinen intellektuellen Willensformen aus den komplexen Intelligenzformen ableiten lassen, sobald man zu ihnen eine entsprechende Form des Handelns hinzunimmt (S. 257). Dagegen gibt es reine Gefühlsformen des Willens überhaupt nicht, und wo Gefühle bei den Willenshandlungen mitwirken, da kommen sie überall nur als "Diener des Handelns" in Betracht, d. h. im Sinne einer "sekundären Verstärkung und Steigerung und Verminderung der Intelligenzformen" (S. 259). Insbesondere erleichtern auf diese Weise die Gefühle die Bildung einer Assoziation von Motiv und Handlung. Da aber die gleiche Assoziation ohne jede Gefühlserregung stattfinden kann, so erweisen sich auch in diesen Fällen die Gefühle als bloß sekundäre Bestandteile, umsomehr, da schon in der Entwicklung des Kindes eine angeborene Assoziation zwischen Motiven und Handlungen besteht, an die sich erst nachträglich bei der Erreichung eines Ziels ein Lustgefühl anschließt (S. 199, 223).
    Daß diese hier nur in ihren Grundzügen wiedergegebene Deduktion der relativen Bedeutungslosigkeit der Gefühle für die Willenshandlungen im wesentlichen nur eine Erfüllung der bereits in der vorangestellten Definition liegenden Forderung einer Elimination der Gefühle ist, fällt in die Augen. Zudem zieht der Verf., um seinen Beweis zu führen, teils Erscheinungen in das Gebiet der Willenshandlungen, die er anderwärts ausschließt, teils stützt er sich auf die Voraussetzung, alle Gefühle seien entweder Lust- oder Unlustgefühle, andere aber existierten nicht. So beruft er sich auf die Entwicklung der Willenshandlungen beim Kinde, bei dem er die angeborenen, nach seiner Vermutung gefühlsfreien Reflexe den eigentlichen Willenshandlungen vorangehen läßt. Ich lasse diese Annahme, über deren Wahrscheinlichkeit man vielleicht angesichts der Schmerzenslaute des Neugeborenen streiten kann, hier dahingestellt. Merkwürdiger ist es, daß der Verf. selbst anderwärts diesem Argument in doppelter Weise widerspricht. Erstens schließt er die ursprünglichen, unter sichtlicher Beteiligung von Gefühlen und Affekten vor sich gehenden Handlungen überhaupt von den Willensvorgängen aus, um sie einer besonderen Klasse "ideomotorischer Handlungen" zuzuweisen; und zweitens läßt er aus der Erfolgsvorstellung, die zunächst nur die Vorstellung einer Handlung und ihres Erfolgs sei, "zusammen mit einem Lustgefühl", das nachträglich mit ihr verknüpft werde, eine feste Assoziation der entsprechenden Bewegung entstehen (S. 180). Wenn diese Konstruktion überhaupt für die Entwicklung des Willens eine Bedeutung haben soll, so besteht diese aber offenbar darin, daß nach ihr Lustgefühle für die Entstehung der Willenshandlungen entscheidend sind. Dennoch wird dies abgelehnt, da hier nach dem Verf. nicht Willenssondern nur ideomotorische Handlungen anzunehmen seien. Dann ist es um so auffallender, daß er zwanzig Seiten weiter diese Scheidung der sogenannten "ideomotorischen" und der eigentlichen Willenshandlungen ignoriert und schon die jenen Lustgefühlen vorangehenden, nach ihm gefühlsfreien Reflexe als die Ausgangspunkte wirklicher Willenshandlungen verwendet (S. 199). Sollte man doch denken, daß nach der vorangegangenen Entwicklung das Eingreifen jenes Lustgefühls, das die spontane Reproduktion zustande bringen soll, vielmehr als der eigentliche Ausgangspunkt der Willenshandlungen anzusehen sei. Trotzdem verlegt der Verf. das eine Mal den Anfang des Willens in bekannter Weise schon in die Reflexbewegung, das andere Mal scheidet er nicht nur diese, sondern auch alle einfacheren von psychischen Vorgängen begleiteten Handlungen als eine besondere Klasse "ideomotorischer Bewegungen" aus, um nun den eigentlichen Willen erst da beginnen zu lassen, wo das Gebiet der reinen gefühlsfreien Entschlüsse erreicht ist. Die Frage, ob in die Erfolgs- und Zielvorstellungen, in die Billigung des Ziels, endlich in den etwa vorausgehenden Zweifel Gefühle oder gar Affekte mit eingehen, bleibt dabei im wesentlichen außer Frage, da alle diese nicht ohne weiteres der Vorstellung selbst zuzurechnenden Modifikationen ohne Lust oder Unlust vorkommen können, der Satz aber, daß Lust und Unlust die einzigen Gefühle seien, als ein Axiom vorausgesetzt wird.
    Nun ereignet es sich freilich auch hier, daß dieses Axiom zwar durchgehends als ein selbstverständlicher und von niemandem zu bestreitender Satz hingestellt ist, daß aber die eigenen Ausführungen des Verf., wo sie sich im Gebiet des Tatsächlichen bewegen, in Konflikt mit der Exklusivität jener beiden Gefühle geraten, auch wenn man von den hinter der Aktivität, dem Ichbewußtsein, der Zielvorstellung, Zustimmung usw. versteckten Gefühlen absieht. Denn wo von Gefühlen im allgemeinen die Rede ist, da werden offenbar nicht bloß Zustände, wie das Erstaunen, die Aufregung, der Ernst u. dgl. darunter begriffen, sondern es werden auch ausdrücklich erregende und hemmende oder depressive Gefühle unterschieden. Und wenn Meumann versichert, daß es sich dabei lediglich um aktive und passive Formen der Lust und der Unlust handle, so ist es augenfällig, wie hier der Umstand, daß verschiedene Gefühlsformen sich gelegentlich verbinden können, benutzt wird, um auch solche Fälle unter Lust und Unlust unterzubringen, in denen eine unbefangene Beobachtung eine solche Verbindung nicht auffinden kann. Nebenbei hilft hier wohl die vom Verf. bei der Charakterisierung der Temperamente benutzte Annahme aus, jedes Gefühl könne in sehr verschiedenen Gradabstufungen vorkommen, so daß man also eventuell auch den Lust- und den Unlustwert des Gefühls nicht bemerken kann. Oder es bleibt auch die andere Annahme, Lust und Unlust wirkten auf das zentrale Nervensystem zurück, wodurch dann die Lebhaftigkeit und Energie der geistigen Tätigkeiten vermehrt oder vermindert werde (S. 249ff.). Nun sind nach der Auffassung Meumanns Lust und Unlust selbst schon Formen gesteigerter oder gehemmter zentraler Erregung. Man gelangt also zu dem merkwürdigen Ergebnis, daß diese gegensätzlichen Formen zentraler Erregung und Hemmung selbst wieder erregend oder hemmend auf die zentrale Substanz wirken können, daß aber diese sekundären Erregungen und Hemmungen auf der Seite der psychischen Parallelvorgänge nicht mehr als Lust und Unlust, sondern je nach Umständen in der Form exzitierender oder deprimierender Unterarten dieser Grundformen erscheinen. D. h. je nach Bedürfnis läßt man einem und demselben physischen Vorgang auf der psychischen Seite verschiedene Vorgänge parallel gehen. Hinsichtlich der mimischen, vasomotorischen und anderer körperlicher Symptome der Gefühle, von denen wir doch immerhin etwas mehr wissen als von den zentralen Erregungs- und Hemmungsvorgängen, äußert sich der Verf. skeptisch. Aber seine Äußerungen lassen leider annehmen, daß seiner Erinnerung die Ergebnisse dieser Untersuchungen nicht gegenwärtig gewesen sind. Wenn er z. B. gegen ihre Verwendbarkeit anführt, daß jemand im Zorn erblassen, aber auch erröten könne, so hätte er aus den neueren Versuchen ersehen müssen, daß auch diesen Unterschieden, wie übrigens nach seinen eigenen Voraussetzungen von vornherein erwartet werden mußte, Unterschiede der psychischen Vorgänge parallel gehen. In der Tat ist das Erblassen jedesmal subjektiv von einem deprimierenden, das Erröten von einem stark erregenden Gefühl begleitet. Der Wechsel zwischen diesen Formen ist aber weniger ein Ausdruck individueller Unterschiede, als ein Wechsel zwischen verschiedenen Phasen des Affektverlaufs. Namentlich bei dem plötzlich hereinbrechenden Affekt pflegt einem ersten Erblassen das Erröten zu folgen. Läßt man die erregenden und hemmenden Gefühle als selbständige Gefühlsformen gelten, so ist dieser Wechsel der Stadien eines und desselben Affektverlaufes nicht allzu schwer zu erklären: subjektiv zeigt der Affekt des Zorns, vor allem wenn er von etwas längerer Dauer ist, sehr ausgeprägt eine gewisse Periodizität, indem Depressions- und Erregungszustände einander folgen, und diesem Wechsel entspricht deutlich bei den plethysmographischen Versuchen der Wechsel zwischen Kontraktion und Erweiterung der kleinsten Arterien7). In der Lust- Unlusthypothese lassen sich freilich diese Tatsachen schwer unterbringen. Wenn aber auf der vorangegangenen Seite erklärt ist, "daß allen Gefühlen organische Reaktionen parallel gehen, die die ganze Summe sogenannter Ausdrucksvorgänge ausmachen" (S. 248 f.), so würde doch daraus, wie man erwarten sollte, folgen, daß, wo diese Summe von Ausdrucksbewegungen, wie z. B. beim Zorn, dem vorausgesetzten Parallelismus zwischen Lust-Unlust und Ausdrucksbewegung widerspricht, damit auch die Lust-Unlusthypothese sich als unzulänglich erweise. Der Verfasser folgert umgekehrt: weil dieser Widerspruch besteht, so verdienen die betreffenden Symptome keine Beachtung. Anders, wo sich die Erscheinungen ohne weiteres dem Schema fügen. Da wird z. B. die "Stauung des Blutes in Händen und Füßen, die ihren Umfang vergrößert" für eine regelmäßige Begleiterscheinung der Unlust erklärt (S. 248). Freilich ist hier dem Verfasser eine Umkehrung der Symptome begegnet. Die starke vasomotrische Volumabnahme der Arme und Hände ist neben der Beschleunigung des Arterienpulses ein so konstantes Symptom der Unlust, daß über diese Tatsache bei allen Beobachtern, die sich mit dem Gegenstand beschäftigt haben, vollkommene Einhelligkeit besteht8).

7) Vgl. Physiol. Psychologie 5, III, S. 229, Fig. 230.
8) Vgl. z. B. Physiol. Psych.5, II, S. 297, Fig. 229.

    Nachdem auf solche Weise erwiesen sein soll, daß die Beteiligung von Gefühlen an den Willenshandlungen eine verhältnismäßig zufällige, bei den wichtigsten typischen Formen der letzteren fehlende Erscheinung sei, stellt sich übrigens heraus, daß dieses in der Unterscheidung von Gefühls- und von reinen Intelligenzformen des Willens gipfelnde Bemühen eigentlich überflüssig gewesen ist, weil es Gefühle im Grunde überhaupt nicht gibt. Auf S. 217 heißt es: "die Gefühle fasse ich als Verschmelzungen von Organempfindungen auf", und S. 276 lesen wir: "die Gefühlsbetonungen der intellektuellen Elemente, der Empfindungen, sind ebenfalls intellektuelle Elemente", sie sind "nach ganz entscheidenden neueren pathologischen Beobachtungen und psychologischen Versuchen nur Organempfindungen, d. h. Empfindungen von organischen Reaktionen, welche die physischen Parallelvorgänge der Vorstellungen begleiten, und Verschmelzungen solcher Organempfindungen". Was zuerst noch eine verhältnismäßig bescheiden vorgetragene Hypothese war, hat sich fünfzig Seiten später in ein "ganz entscheidendes" Ergebnis moderner Wissenschaft verwandelt, und der gläubige Leser, dem ja in solchen populären Schriften Belege für die aufgestellten Behauptungen nicht vorgelegt zu werden brauchen, fühlt sich jetzt unter den schützenden Flügeln jener entscheidenden Ergebnisse gegen jeden Zweifel geborgen. Nun ist mir wohl bekannt, daß einige Psychologen und Pathologen der Hypothese zuneigen, die Gefühle seien "Verschmelzungen von Organempfindungen". Auch sind bekanntlich gewisse Organempfindungen, wie z. B. Schmerz, Hunger, Durst usw., mit Unlustgefühlen, andere, wie mäßige Muskelarbeit, Wärmeempfindung usw. in der Regel mit Lustgefühlen verbunden. Aber ehe man die Gefühle samt und sonders auf Verschmelzungen von Organempfindungen zurückführt, sollte man sich doch erinnern, was der Begriff der Verschmelzung in den Fällen, für die er zunächst eingeführt worden ist, und in denen er einen wohl definierbaren Sinn hat, überhaupt bedeutet. Das typische Vorbild ist hier die "Tonverschmelzung". Wir nennen den Einzelklang eine Verschmelzung von Tönen, insofern sich in ihm eine große Zahl einzelner Töne nachweisen läßt, die, obgleich sie in der Empfindung vorhanden sind, doch nicht als gesonderte Klangelemente, sondern nur in der dem Grundton mitgeteilten Klangqualität, der sogenannten Klangfärbung, wahrgenommen werden, so daß jede Variation jener Elemente eine charakteristische Veränderung der Klangfärbung hervorbringt. Demnach ist für jede Anwendung des Begriffs der Verschmelzung zweierlei erforderlich: erstens müssen Elemente vorhanden sein, die in der ihnen in ihrem isolierten Zustand zukommenden Empfindungsqualität nicht unmittelbar wahrgenommen werden; zweitens muß die Variation eines jeden dieser Elemente den Gesamtcharakter des Ganzen verändern. Legt man diesen Begriff zugrunde, so ist es nun aber völlig unerlaubt, ihn auch da anzuwenden, wo das zweite Merkmal gar nicht, das erste nur in dem Sinne allenfalls zutrifft, daß in dem Produkt das nicht empfunden wird, was nach der über seine Konstitution gemachten Voraussetzung empfunden werden sollte. Es ist ferner klar, daß infolge dieser willkürlichen Erweiterung des Begriffes über seine Grenzen hinaus schließlich jeder beliebige Bewußtseinsinhalt als Verschmelzungsprodukt irgend welcher anderer, disparater Inhalte definiert werden könnte. In der Tat ist ja, selbst wenn man sich auf den Standpunkt der Lust- Unlusthypothese stellt, nach der neben beiden doch auch Gefallen und Mißfallen, Liebe und Haß, Furcht und Hoffnung usw. als Modifikationen jener beiden Stammgefühle betrachtet werden, absolut nicht einzusehen, was diese Gefühle unmittelbar mit den Organempfindungen zu tun haben. Diese Interpretation steht genau auf gleichem Boden wie die einstige des "Systeme de la Nature", die solche seelische Zustände auf verborgene und vorläufig unbekannte Modifikationen in den Bewegungen der Hirnmoleküle bezog. Die Verschmelzung ist hier zu einem Behälter geworden, in dem man alles verschwinden läßt, was sich einer Behauptung nicht fügen will.
    Obgleich nun, nachdem durch dieses Versteckenspiel mit den verschmolzenen Organempfindungen die Frage des Primats der Intelligenz über den Willen eigentlich von vornherein zu Gunsten der ersteren entschieden ist, so läßt Meumann doch diesem theoretischen noch einige der Entwicklungsgeschichte der Willenshandlungen entnommene praktische Argumente folgen, die zwar von geringerem Belang, gleichwohl aber bemerkenswert sind. Zunächst zeige die Erfahrung, daß der niedriger stehende Mensch immer weit mehr von dem Willen als von der Intelligenz beherrscht werde (S. 277). Das tritt nach ihm auch in den metaphysischen Richtungen der Philosophie hervor, wo die früheren Richtungen, vertreten durch Leibniz und Spinoza, dem reinen Intellekt, die späteren, vertreten durch Kant, Fichte, Schopenhauer, umgekehrt dem Willen die Führung einräumten. Es sei aber augenfällig, wie die Philosophen der zweiten Reihe mehr durch ihre Wünsche und gelegentlich durch sprunghafte Einfälle, als durch strenges Denken sich leiten ließen (S. 279 ff.). Die Richtigkeit dieser Wertbeurteilung lasse ich ganz dahingestellt. Merkwürdig bleibt es dann immerhin, daß, während im einzelnen der Willens- dem Intelligenzmenschen vorausgehen soll, in dieser philosophischen Entwicklung im ganzen der Voluntarismus offenbar als eine Art Degenerationserscheinung gegenüber dem vorangegangenen Intellektualismus betrachtet wird. Merkwürdiger noch ist aber doch eine andere Antinomie. Nachdem wir eben gehört, daß der niedrigere Mensch der Willens-, der höhere der Intelligenzmensch sei, werden die führenden Geister als solche Intelligenzmenschen gepriesen, die einem ganzen Zeitalter den Stempel ihres Geistes aufdrücken, indes die große Masse, bei denen der Wille die Intelligenz beherrscht, ihnen blind folge. Bis dahin hatte man im allgemeinen umgekehrt angenommen, die großen Charaktere seien vor allem auch willensstarke Menschen, wogegen der ihrem Führer willenlos folgenden Masse eben der Wille fehle, obgleich unter ihnen viele sein können, die über eine große Intelligenz verfügen. Demgegenüber soll nach Meumann weit eher die Intelligenz den fehlenden Willen ersetzen, als der Wille die Intelligenz. Ich würde mich, wenn ich mir überhaupt in dieser schwierigen Frage ein Urteil erlauben darf, weit mehr der Umkehrung dieses Satzes zuneigen. Wer kennt nicht die Charaktere von hoher Intelligenz, die zu keinem Entschluß gelangen können, weil sie unaufhörlich schwanken und zweifeln? Und wer nicht die anderen, die mit relativ bescheidenen Gaben von der Natur ausgestattet sind, aber durch eisernen, von einem festen Willen geleiteten Fleiß, vielleicht nicht das Höchste, aber doch Bedeutendes leisten? Doch was soll dieser Streit, – hören wir doch unmittelbar darauf: "Der Wille ist nichts anderes als Intelligenz (oder auf der niederen Stufe intellektuelle Elemente), die sich in Handlungen umsetzt" (S. 281). Also müßten wir billigerweise folgern, eine starke Intelligenz sei auch ein starker Wille, und ein starker Wille sei hinwiederum eine starke Intelligenz. So ist es denn überhaupt augenfällig, daß Meumann nicht am wenigsten in Widerspruch mit sich selber da gerät, wo er das Problem von Intelligenz und Wille entwicklungsgeschichtlich zu beleuchten sucht.
    Dennoch erklärt sich diese bei einem Psychologen, der sich so eingehend mit der Psychologie des Kindes befaßt hat, auffallende Tatsache leicht daraus, daß er für seine Definition des Willensbegriffes ein Stadium vollendeter Entwicklung voraussetzt, von dem an erst von einem eigentlichen Willen die Rede sein solle. Damit wird das Wollen von vornherein zu einem höchst komplizierten, aus Zielvorstellungen, Überlegungen, Zustimmungen usw. zusammengesetzten intellektuellen Prozeß gestempelt, bei dem es eigentlich nur eine rückläufige, durch Einübung die Willenshandlungen schließlich in automatische Bewegungen überführende Entwicklung gibt. Was jenem intellektuellen Höhepunkt des Willens vorangeht, wird unter dem Namen der "ideomotorischen Handlungen" zu einer besonderen Gattung von Bewegungen umgeprägt. Dadurch gerät Meumann hier in einen auffallenden Widerspruch mit sich selber. Denn bei jener regressiven Phase der Entwicklung ereignet es sich, daß er genau das, was er bei der progressiven vom Willen ausschloß, in diesen einschließt. Da werden geradezu jene ideomotorischen Bewegungen als unvollständige Willenshandlungen bezeichnet, und es wird hervorgehoben, daß die Gewohnheitshandlungen durchweg in diese Klasse reduzierter Willenshandlungen gehören. Außerdem zählt Meumann hierher noch als eine besondere Unterform die instinktiven Handlungen, bei denen der klare Einblick in die Beweggründe des Handelns ganz fehle, und die daher entweder auf angeborenen oder durch Gewöhnung erworbenen Willensdispositionen beruhten (S. 205 ff.). Nun ist es klar, daß nicht der geringste Grund vorliegt, jene vor der Erreichung vollkommener Willenshandlungen liegenden Stadien und die der regressiven Entwicklung angehörenden einer absolut abweichenden Beurteilung zu unterziehen. Jenem vorbereitenden Stadium, wo die angeborenen Reflexbewegungen des Kindes sich zum ersten Mal mit sogenannten Zielvorstellungen verbinden, wird man also genau mit demselben Recht einfache Willenshandlungen zuerkennen müssen, wie Meumann selbst auf die regressiven Gewohnheitshandlungen, bei denen eben noch eine determinierende Zielvorstellung vorhanden ist, diesen Begriff anwendet. Demgegenüber ist es dann freilich auffallend, daß er die Unterscheidung einfacher und komplexer oder eindeutig und mehrdeutig bestimmter Willenshandlungen unbedingt ablehnt, indem er kategorisch versichert, eindeutig bestimmte Willenshandlungen gebe es beim erwachsenen Menschen überhaupt nicht, außer in seltenen Grenzfällen (S. 182). Erstens gehören doch die Willenshandlungen des Kindes und wahrscheinlich auch viele Handlungen der Tiere zu den Willenshandlungen. Zweitens aber scheint Meumann bei seiner Schilderung der einzelnen Stadien regressiver Entwicklung, die er z. B. bei der Unterscheidung der Bedingungen aufzählt, unter denen jemand ein Glas Zuckerwasser ergreifen kann, jenen kategorischen Satz völlig vergessen zu haben. Denn hier zeigt es sich, daß die ungeheuere Mehrzahl der Willenshandlungen selbst des erwachsenen Menschen zu den eindeutig, nicht zu den mehrdeutig bestimmten gehört, und daß vielmehr diejenige Form, die als der normale Typus einer menschlichen Willenshandlung hingestellt wird, einen seltenen Grenzfall bildet.
    So enthält denn überhaupt die Darstellung eigentlich nicht bloß eine, sondern zwei Entwicklungsgeschichten des Willens. Die eine ergibt sich, wenn man der von Meumann gegebenen Begriffskonstruktion folgt; die andere gewinnt man, wenn man die berichteten Tatsachen selbst reden läßt und solche Begriffs- oder vielmehr Namenunterscheidungen beseitigt, die nach dem eigenen Zugeständnis des Verfassers willkürliche sind, wie z. B. die der "ideomotorischen" Handlungen in der aufsteigenden Reihe und der analogen ausdrücklich unter die Willenshandlungen gezählten in der absteigenden. Die eine, die mehr konstruktive oder, wie wir sie wohl kurz nennen dürfen, die Entwicklung von oben, beginnt mit jener typischen Willenshandlung, die sich aus Zielvorstellungen, Überlegungen, Zustimmungen, Handlungen usw. zusammensetzt, um unter dem Einfluß der Übung und Gewöhnung allmählich unter Elimination einzelner Glieder dieses komplexen Prozesses durch einfachere Willenshandlungen zu automatischen Bewegungen herabzusteigen. Die andere, wir wollen sie die mehr tatsächliche oder die auf- und absteigende nennen, beginnt mit den aus angeborenen Dispositionen entspringenden Reflexbewegungen des Kindes. Diese gehen dann, sobald gelegentlich die Handlung einen Effekt hat, der mit einem Lustgefühl verbunden ist, durch Wiederholung in einfache Willenshandlungen über. Indem das einfache Motiv der letzteren allmählich einer Mehrheit mit einander streitender Motive Platz macht, treten an Stelle jenes ursprünglichen Gefühlsmotives mehr und mehr intellektuelle Überlegungen, Wahlvorgänge usw. als vorbereitende Prozesse der Handlungen ein. Dann beginnt die regressive Bewegung infolge der sich befestigenden Vorherrschaft einzelner, durch Einübung gefestigter Motive und der hier einsetzenden Mechanisierung der Prozesse durch Gewöhnung. Nun wird die erste dieser Entwicklungstheorien, die konstruktive, unhaltbar, sobald man eine ausschließlich regressive Entwicklung auch auf geistigem Gebiet für objektiv unmöglich und eine willkürliche Begriffsunterscheidung, die sich schließlich als eine bloße Namenunterscheidung herausstellt, für logisch unerlaubt hält. Der zweiten, mehr tatsächlichen Entwicklungsgeschichte könnte man sich möglicherweise anschließen, wenn erst die auch hier nicht ganz unterlassenen willkürlichen Konstruktionen, insbesondere die des Höhepunktes der Entwicklung beseitigt würden. Denn hier gleicht in der Tat die Beschreibung mehr der Schilderung der Verhandlungen und Beschlußfassungen einer Ratsversammlung, als der eines tatsächlich beobachteten Willensvorganges. Auch dann würde aber diese Schilderung mehr nur den äußeren Verlauf der Verhandlungen wiedergeben, als die Gesamtheit der inneren Triebfedern, der Gefühle und Affekte, von denen die Mitglieder bestimmt werden. Diese letzteren Bestandteile sind jedoch, nachdem sie bei der ersten Entstehung einer Willens- oder "ideomotorischen"; Handlung beim Kinde ihre Schuldigkeit getan, unterwegs wieder liegen geblieben, um nur da und dort, wo man gar nicht ohne sie auskommen kann, als Folgen der Handlungen anerkannt zu werden, und schließlich auch hier im sicheren Gewahrsam der hypothetischen "Organempfindungen" zu verschwinden.
    Selbst in dieser mehr tatsächlichen und dem entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt besser entsprechenden Schilderung wird nun aber unverkennbar der absteigenden Stufenfolge eingehender Rechnung getragen als der aufsteigenden. Über diese eilt der Verfasser rasch hinweg, um seinen definitiven Begriff einer vollkommenen Willenshandlung zu gewinnen. Dagegen wird die Rückverwandlung in automatische Bewegungen näher verfolgt, und zahlreiche Bemerkungen, denen man ohne weiteres zustimmen kann, zeigen hier wieder den trefflichen Beobachter im Einzelnen. Nur in einem Punkte macht sich noch einmal die praktische Tendenz, von der diese Gedächtnispsychologie beseelt ist, geltend. Das Schema des Lernprozesses und das Motiv der Erleichterung der geistigen Arbeit durch die assoziative Einübung wird so sehr in den Vordergrund geschoben, daß sie das gesamte geistige Leben zu mechanisieren droht. So wird die Herbeiführung einer Handlung zu einem überall durch Assoziation entstehenden Reproduktionsvorgang. Die Einübung der Assoziation in bestimmten vorgezeichneten Richtungen soll daher auch das wesentliche Mittel sein für die Erziehung des Charakters (S. 215). Ein großer Teil der Lernregeln läßt sich dann überhaupt auf die Bildung der Willenshandlungen anwenden. So z. B. können wir unseren Willen an irgendeinem Punkte ausbilden und daraus für das Wollen im allgemeinen profitieren, ähnlich wie man sein Gedächtnis an dem Erlernen bestimmter Stoffe auch für andere Stoffe üben kann usw. (S. 229). Wo die natürliche Assoziation nicht ausreicht, da soll man eine künstliche bilden, indem man von der "Perseverationstendenz" einzelner Vorstellungen Gebrauch macht, wie sie bei den Lernversuchen zur Beobachtung kommt. Diese zuerst von G. E.Müller beschriebene Erscheinung besteht nämlich darin, daß sich irgendeine beliebige Vorstellung, ohne nachweisbar mit anderen assoziativ verbunden zu sein, immer wieder ins Bewußtsein drängt. Diese Tatsache soll nun der Erzieher benutzen, um die Konsequenz des Handelns zu sichern, oder um allgemeine Entschließungen für einzelne Fälle wirksam zu machen (S. 228). Hier scheinen mir denn doch die näheren Bedingungen, unter denen jene Erscheinungen beobachtet zu werden pflegen, nicht zureichend berücksichtigt zu sein. Die sogenannte Perseverationstendenz macht sich durchweg als ein störendes Moment des Vorstellungsverlaufs geltend, indem die perseverierende Vorstellung immer und immer wieder ohne unser Wollen in die ablaufende Reihe sich eindrängt. Extreme Fälle solcher Perseveration beobachten wir aber, abgesehen von den künstlichen Gedächtnisversuchen, in besonders ausgeprägter Weise bei der sogenannten Ideenflucht Geisteskranker. Sie lassen sich hier deutlich in der Sprache und in den schriftlichen Aufzeichnungen solcher Geisteskranker verfolgen. Da kommt es z. B. vor, daß gewisse Worte zunächst nur vereinzelt, dann immer häufiger und endlich unablässig wiederholt werden. Es sind Prozesse der Dissolution des Bewußtseins, die offenbar einen spezifischen Fall der Ausbildung sogenannter "fixer Ideen" darstellen. Hier kann man sich dem Eindruck schwerlich verschließen, daß diese Anwendung einer in ihren prägnantesten Formen der Pathologie angehörenden Erscheinung auf die Erziehung des Willens eher auf einer äußeren Wortassoziation als auf wirklicher Beobachtung beruht. Die Perseverationstendenz einer Vorstellung erinnert an die "perseveratio animi", – eine Verwechselung von Begriffen, die psychologisch ungefähr das Gegenteil bedeuten, der eine das völlige Versagen der willkürlichen Regelung des Vorstellungsverlaufs, der andere die feste Richtung des Willens auf vorgesetzte Zwecke. Nebenbei ein deutliches Zeugnis für die schädliche Wirkung der Vermögensbegriffe auf die psychologische Analyse. Der einmal gebildete Allgemeinbegriff, unter Umständen das für ihn eingeführte Wort, deckt die entlegensten Erscheinungen, mögen diese an sich selbst von entgegengesetzter Natur sein. Die "Tendenz" ist ja in der Tat nichts anderes als eine Abart des Vermögensbegriffes, die man da anzuwenden pflegt, wo das Vermögen nicht als eine allgemeine Eigenschaft oder Fähigkeit der Seele, sondern als die eines einzelnen seelischen Inhaltes, z. B. einer einzelnen Vorstellung, bezeichnet werden soll.
    Damit kommen wir auf den Punkt zurück, von dem diese Betrachtung ausgegangen ist. Das verfrühte Streben nach praktischer Anwendung führt zu Begriffsbildungen, in denen sich der Standpunkt der Vermögenspsychologie wiederholt. Die schablonenhafte Verwendung der Vermögensbegriffe läßt dann die nächste Aufgabe der Psychologie, die Beschreibung und die experimentelle Analyse der psychischen Vorgänge in den Hintergrund treten. Die in jenem praktischen Streben begründete einseitige Richtung auf die Gedächtnispsychologie und die Technik der Lernmethoden endlich, mag sie auch der pädagogischen Praxis einzelne nützliche Winke geben, erinnert in bedenklicher Weise an den äußerlichen Gedächtnisdrill der alten Pädagogik, den man glücklich überwunden glaubte, und den vollends zu beseitigen eine der wichtigsten Aufgaben der Psychologie in ihrer Anwendung auf die Pädagogik sein sollte. Wo die moderne Psychologie aus allzu eifrigem Streben, der Praxis zu dienen, auf eine rückständige Memoriertechnik für Lernen und Lehren, für Geistes- und Charakterbildung hinauskommt, da kann man diese praktischen Folgen wohl schon als ein sicheres Zeichen dafür ansehen, daß sie sich auch in der Theorie auf Irrwegen befindet. Wenn ein Forscher, der, wie Meumann, in früheren Arbeiten glänzende Proben seiner Befähigung für die Analyse psychologischer Einzelprobleme abgelegt hat, durch eine längere, vielleicht allzu ausschließliche Beschäftigung mit Lernmethoden und ähnlichen praktischen Aufgaben, auf solche bedenkliche Wege geraten ist, was soll man aber dann erst von den experimentellen Pädagogen erwarten, die ohne diese Vorbereitung, der Führerschaft der von der Psychologie herübergekommener Pädagogen folgend, Erziehung und Unterricht reformieren wollen? Wiederum kann man ihnen nur raten, zunächst und vor allem allseitig gebildete, nicht einseitig orientierte Psychologen zu werden und dann an die Frage heranzutreten, wie von dem so gewonnenen Standpunkte aus auch der Pädagogik neue Aufgaben zu stellen seien. Doch von dem trefflichen Verfasser von "Intelligenz und Wille" dürfen wir wohl hoffen, daß er den Weg zur rein psychologischen Einzeluntersuchung wieder zurückfinden werde, der wir eine so mustergültige Leistung wie die "Untersuchungen über die Psychologie und Ästhetik des Rhythmus" verdanken.