Schlußbetrachtungen.
Überall führt die psychologische Untersuchung
auf metaphysische Probleme hinaus. Aber zu deren Lösung bildet der
Zusammenhang empirischer Tatsachen und Gesetze, zu denen sie gelangt, nur
einen Teil der Vorbedingungen. Das übrige müssen Naturphilosophie
und Kritik der Erkenntnis hinzutun. Denn die Begriffe der innern Erfahrung
sind durch die der äußeren mitbestimmt und verlangen mit diesen
zusammen die Prüfung ihres Ursprungs und ihrer Berechtigung. Am Schlusse
unserer Aufgabe angelangt, wollen wir daher nur auf einige Gesichtspunkte
hinweisen, welche die Ergebnisse der physiologischen Psychologie jenem
allgemeineren Unternehmen entgegenbringen.
Mit zureichender Sicherheit läßt sich
wohl der Satz als begründet ansehen, daß sich nichts in unserm
Bewußtsein ereignet was nicht in bestimmten physiologischen Vorgängen
seine körperliche Grundlage fände. Die einfache Empfindung, die
Synthese der Empfindungen zu Vorstellungen, die Assoziation und Wiedererweckung
der Vorstellungen, endlich die Vorgänge der Apperzeption und der Willenserregung
sind begleitet von physiologischen Nervenprozessen. Andere körperliche
Vorgänge, wie insbesondere die einfachen und komplizierten Reflexe,
gehen an und für sich nicht ein in das Bewußtsein, bilden aber
wesentliche Vorbedingungen der bewußten oder im engeren Sinne psychologischen
Tatsachen.
Dieses Prinzip der durchgängigen Wechselwirkung
zwischen Seele und Leib, das, so oft man es auch zu beschränken
suchte, mit unwiderstehlicher Gewalt über das ganze Gebiet der innern
Erfahrung sich ausdehnte, ist seit alter Zeit in verschiedener Weise metaphysisch
gedeutet worden. Der aus der vulgären Anschauung in die Philosophie
verpflanzte Dualismus, der Leib und Seele als zwei verschiedene Wesen nimmt,
hat nicht weniger als drei Ansichten entwickelt, nach denen die Wechselwirkung
gedacht werden kann. Nach der naheliegendsten soll die Seele, ähnlich
einem gestoßenen Körper, Eindrücke von den leiblichen Organen
empfangen und in ähnlicher Weise bei den Bewegungen wieder auf diese
zurückwirken. Aber dieses System des "physischen Einflusses" kann
nicht mehr festgehalten werden, sobald man sich der durchgreifenden Verschiedenheiten
des körperlichen und geistigen Geschehens bewußt wird. Die Seele
müßte ja selbst eine körperliche Beschaffenheit haben,
wenn sie von dem Leibe Stöße empfangen und wieder solche an
ihn zurückgeben könnte. In Erwägung dieser Schwierigkeiten,
die ihm freilich auch bei den Wechselwirkungen körperlicher Substanzen
zu bestehen schienen, kam DESCARTES zu der Vorstellung,
daß der Einfluß von Seele und Leib auf einander in jedem einzelnen
Fall durch eine besondere göttliche Fügung, eine "übernatürliche
Assistenz", bewerkstelligt werde. Von einem System, das so jede psychologische
Tatsache auf ein unmittelbares Wunder zurückführte, war LEIBNIZ
nicht befriedigt, obzwar er anerkannte, daß der erste Grund des Zusammenhangs
zwischen Leib und Seele sich der Erklärung entziehe. Ihm ist daher
dieser Zusammenhang durch eine ursprüngliche göttliche Ordnung
für immer vorausbestimmt. Körperliche Vorgänge und Vorstellungen
stehen durch eine "prästabilierte Harmonie" in Verbindung. Damit war
das wiederholte Wunder der übernatürlichen Assistenz auf eine
einmalige Fügung zurückgeführt, aber in dieser blieb das
Wunder bestehen. Indem der Dualismus auf solche Weise alle ihm möglichen
Versuche der Erklärung erschöpfte, ohne eine genügende finden
zu können, lieferte er den Beweis seiner eigenen Unhaltbarkeit und
führte mit Notwendigkeit zur Ausbildung monistischer Ansichten.
Unter ihnen sucht der Materialismus, der
in seinem Ursprung älter als die dualistischen Systeme ist, das Geistige
als eine Form oder als ein Erzeugnis körperlicher Vorgänge zu
begreifen. Er ist im Vorteil, so lange er, auf die Abhängigkeit des
Vorstellens und Denkens von physiologischen Bedingungen hinweisend, gegen
den gewöhnlichen Dualismus zu Felde zieht. Aber er selbst hat nie
eine Erklärung der psychologischen Erfahrungen zu Stande gebracht,
und die Hoffnung, daß ihm dies einst noch gelingen mochte, scheitert
an dem Widerstreit, in den er mit den sichersten Fundamenten der Erkenntniskritik
gerät. Die Tatsachen des Bewußtseins sind die Grundlagen all'
unseres Wissens. Die äußere Erfahrung ist daher nur eine besondere
Domäne der innern, und führt dieselbe auch zur notwendigen Voraussetzung
eines objektiven Seins, so ist doch die Form, in welcher wir dieses auffassen,
durch die Eigenschaften des Bewußtseins wesentlich mitbedingt. Die
Empfindung ist die subjektive Form, in der wir auf den äußeren
Eindruck reagieren; Raum und Zeit beruhen auf subjektiven Gesetzen der
Synthese der Vorstellungen; die Begriffe der Kausalität und der Substanz
endlich, deren wir überall zur Naturerklärung bedürfen,
sind psychologischen Ursprungs.
Dieser Resultate der Erkenntniskritik bemächtigt
sich der Idealismus. Da die äußere Erfahrung einen Bestandteil
der innern bildet, so ist ihm die Welt ein Reflex des Bewußtseins.
Der Idealismus bleibt siegreich, so lange er die Ansprüche des Materialisten
zurückweist. Sobald er aber selbst zu dem Versuch einer Naturerklärung
übergeht, scheitert er an der spröden Wirklichkeit, die zwar
überall die Spuren der subjektiven Einflüsse auf ihre Auffassung
erkennen läßt, aber nicht minder klar auf ein objektives Sein
hindeutet, ohne das die Anschauungen und Begriffe in uns niemals sich bilden
würden. So wird uns das Geständnis abgenötigt, daß
wir nicht nur zur Erkenntnis der Natur der äußern Bestimmungsgründe
bedürfen, sondern daß auch diese hinwiederum unsere Auffassungsformen
mitbedingen. Raum und Zeit, Kausalität und Substanz wurden nie in
uns entstehen, wenn nicht die objektive Welt zur Bildung dieser Anschauungen
und Begriffe die Anregung böte. Diesen verschiedenen Quellen der Erkenntnis
sucht der Realismus gleichmäßig gerecht zu werden. Will
sich derselbe vollständig mit den Resultaten der Erkenntniskritik
in Einklang setzen, so muß er aber die Priorität der innern
Erfahrung zugestehen. So führt die Psychologie insbesondere notwendig
über den reinen Realismus hinaus zum Idealrealismus.
Indem der Realismus einen Begriff der Substanz zu
entwickeln suchte, welcher für die innere und äußere Erfahrung
gleicher Weise brauchbar sein sollte, kam er zu der Aufstellung einfacher
Wesen, welche in ihrer äußeren Wechselwirkung das Nebeneinander
einer atomistisch gedachten Materie darstellen, in ihrem inneren Sein aber
zur Grundlage des einheitlichen Bewußtseins sich eignen sollten.
Hieraus entwickelten sich jene monadologischen Systeme, denen die
menschliche Seele als ein einfaches Wesen erscheint unter vielen andern,
die den Leib und die Außenwelt bilden, ausgezeichnet nur durch seinen
höheren Wert oder durch die günstige Lage, in die es mittelst
seiner besonderen Verbindungen gesetzt ist. Aber schon an LEIBNIZ,
dem Erfinder der Monaden, zeigte sich, wie leicht solche Anschauungen wieder
dem vulgären Dualismus mit allen seinen Widersprüchen anheimfallen,
sobald der Versuch gemacht wird, für das Problem der Wechselwirkung
eine Erklärung zu finden. Bei leibniz ist die
Seele als herrschende Monade so unendlich erhaben über den dienenden
Monaden des Leibes, daß es für WOLFF nur
eines kleinen Schrittes bedurfte, der ihn vollständig zum Dualismus
zurückführte, um so mehr, als er die echt dualistische Hypothese
der prästabilierten Harmonie bei LEIBNIZ schon
vorfand. HERBART machte mehr Ernst mit dem Problem
der Wechselwirkung. Naturphilosophie und Psychologie sollen bei ihm aus
den nämlichen wechselseitigen Störungen und Selbsterhaltungen
einfacher Wesen abgeleitet werden. Aber auch er bleibt bei der Anschauung,
die Seele sei ein einziges einfaches Wesen unter vielen ihr untergeordneten.
In der Selbsterhaltung gegen die Störungen, die sie von andern Monaden
empfängt, besteht die Vorstellung; aus Verhältnissen der Vorstellungen
geht der ganze Tatbestand der innern Erfahrung hervor. Diese Ansicht würde
am leichtesten mit einer Hypothese über den Zusammenhang des Nervensystems
vereinbar sein, wie sie descartes schon aufstellte.
In irgend einem Funkt des Gehirns, z. B. in der Zirbeldrüse, müßte
die Seele sitzen, und in dem gleichen Punkte müßten von allen
Seiten Fasern zusammenlaufen, durch deren Erregungen ihr die Zustände
aller andern Hirnteile mitgeteilt wurden. Diese Vorstellung widerstreitet
aber so sehr den physiologischen Erfahrungen, daß in neuerer Zeit
Niemand mehr daran gedacht hat, von ihr Gebrauch zu machen. Man hilft sich
also damit, daß man der Seele einen beweglichen Sitz im Gehirn anweist.
Sie soll hierhin und dorthin wandern, damit die Veränderungen der
verschiedenen Hirnprovinzen auf sie einwirken können. Die Ergebnisse
der physiologischen Psychologie würden nun nicht nur ein viel umfangreicheres
Wandern der Seele erforderlich machen, als die Urheber dieser Theorie wohl
vermutet haben, sondern man würde auch kaum der Annahme entgehen,
daß sich eine und dieselbe Seele gleichzeitig an verschiedenen Punkten
befinde. Denn bei jeder einzelnen Vorstellung wirken zahllose elementare
Empfindungen zusammen, die unmöglich an einem und demselben Punkte
des Zentralorgans lokalisiert sein können. Fragt man aber nach dem
Grunde, welcher die Seelenmonade in jedem Moment gerade an die Orte verpflanzt,
wo sie nötig ist, um die Einwirkungen des Leibes in sich aufzunehmen,
so bleibt man ohne Antwort. Das Wunder der übernatürlichen Assistenz
oder der prästabilierten Harmonie ist auch hier stillschweigend hinzugedacht.
Solchen Schwierigkeiten gegenüber entsteht
denn doch die Frage, ob auch die Grundlage, auf welcher sich alle diese
Gedanken entwickelt haben, hinreichend sicher steht. Woher schöpft
man die Überzeugung, daß die Seele ein einfaches Wesen
sei? Augenscheinlich aus dem einheitlichen Zusammenhang der Zustände
und Vorgänge unseres Bewußtseins. Für den Begriff der Einheit
setzt man also den der Einfachheit. Aber ein einheitliches Wesen ist darum
noch durchaus kein einfaches. Auch der leibliche Organismus ist eine Einheit,
und doch besteht er aus einer Vielheit von Organen. Hier ist es der Zusammenhang
der Teile, welcher die Einheit ausmacht. So treffen wir auch in dem Bewußtsein
sowohl sukzessiv wie gleichzeitig eine Mannigfaltigkeit an, die auf eine
Vielheit seiner Grundlage hinweist.
Die Seele ist also eine Einheit. Aber diese Einheit
beruht nicht auf der Einfachheit ihrer Substanz, sondern vermutlich auf
einem Zusammenhang vieler einfacher Wesen. In ihrem inneren Sein ist sie
eine ähnliche Einheit wie für die äußere Auffassung
der leibliche Organismus, und die durchgängige Wechselwirkung zwischen
Seele und Leib führt notwendig zu der Vorstellung, daß die
Seele das innere Sein der nämlichen Einheit ist, die wir äußerlich
als den zu ihr gehörigen Leib anschauen. An die herrschenden Organe
des Leibes, die Zentralorgane des Nervensystems, sind auch die Äußerungen
der Seele gebunden. Wie die körperlichen, so sind die psychischen
Funktionen auf verschiedene Zentralgebiete verteilt, und jeder äußern
Veränderung entspricht eine Veränderung des inneren Zustandes.
Eine Selbstauffassung dieses inneren Zustandes oder ein Bewußtsein
wird aber erst da möglich, wo jener Zusammenhang, der die Grundlage
des äußern und innern Organismus bildet, die Bedingungen zur
selbständigen Wiedererneuerung der Vorgänge und zur Verbindung
gegenwärtiger und früherer Zustände in sich enthält.
Es gibt daher Wesen, die nie ein Bewußtsein entwickeln, und nicht
alle Organe, die einem mit Bewußtein begabten Wesen zugehören,
nehmen an dem Bewußtsein Teil.
Diese Auffassung des Problems der Wechselwirkung
führt unvermeidlich zu der metaphysischen Voraussetzung, daß
die Welt aus einfachen Wesen besteht, die in mannigfache Verbindungen unter
einander gesetzt; und deren äußere Veränderungen stets
von Veränderungen ihrer inneren Zustände begleitet sind. Zur
Empfindung und Vorstellung werden diese aber erst, wo die Verbindungen
einfacher Wesen vollkommen genug sind, um den inneren Zuständen Dauer
und Zusammenhang zu sichern, eine Stufe, die, so viel wir wissen, in vorbereitender
Entwicklung im Bewußtsein der Tiere erreicht ist, doch im Bewußtsein
des Menschen erst sich vollendet. So bildet das menschliche Bewußtsein
einen Knotenpunkt im Naturlauf, in welchem die Welt sich auf sich selbst
besinnt.
Aber so unvermeidlich von dieser Seite die genetische
Auffassung des psychologischen Tatbestandes dahin führt, das menschliche
Bewußtsein als ein Entwicklungsprodukt des Naturlaufs anzusehen,
so sicher weckt auf der andern Seite die psychologische Untersuchung die
Überzeugung, daß die Selbstauffassung des Menschen das Fundament
ist, auf welchem alle Erkenntnis ruht. Das nächste Resultat dieser
Selbstauffassung, das fester steht als die Gewißheit der äußern
Welt, die wir nur durch das Medium unseres Bewußtseins anschauen,
ist dies, daß wir uns als ein einheitliches Wesen empfinden. Nur
ein unendlich kleiner Punkt der Welt ist es, den unser Bewußtsein
in seinem innern Sein erfaßt. Wir können nicht annehmen, daß
die Welt außer uns dieses inneren Seins ermangle. Wollen wir aber
dasselbe uns denken, so können wir unmöglich es anders denken
als in der Form unserer Selbstauffassung und der auf ihr sich erhebenden
Auffassung der Menschheit im Ganzen: als einen einheitlichen Zusammenhang,
sich gliedernd in selbständige Einheiten verschiedener Ordnung, die
sich nach inneren Zwecken entwickeln. So kann der psychologischen Erfahrung
nur eine monistische Weltanschauung gerecht werden, die das Individuelle
zur Geltung bringt, ohne daß sie dieses in die inhaltsleere Form
einer einfachen Monade auflöst, in die erst durch das Wunder übernatürlicher
Beihilfe die Mannigfaltigkeit der Dinge hineinkommt. Nicht als einfaches
Sein, sondern als geordnete Einheit vieler Elemente ist die menschliche
Seele was LEIBNIZ sie nannte: ein Spiegel der Welt.