§ 24. Die allgemeinen psychischen Entwicklungsgesetze.

    l. Den drei Prinzipien der psychischen Kausalität stehen ebensoviele allgemeine Entwicklungsgesetze gegenüber, die sich als Anwendungen der ersteren auf umfassendere psychische Zusammenhänge betrachten lassen. Wir bezeichnen dieselben als die Gesetze des geistigen Wachstums, der Heterogonie der Zwecke und der Entwicklung in Gegensätzen.

    2. Das Gesetz des geistigen Wachstums ist ebensowenig wie irgendein anderes der psychischen Entwicklungsgesetze ein überall und auf alle psychischen Erfahrungsinhalte anwendbares Prinzip. Vielmehr gilt es unter der beschränkenden Bedingung, unter der auch das Resultantenprinzip, dem es zunächst zugeordnet ist, allein zur Anwendung kommen kann: unter der Voraussetzung der Kontinuität der Vorgänge. (Siehe oben Pkt. 4/5.) Da aber Umstände, die dieser Bedingung entgegenwirken, bei den eine große Anzahl psychischer Synthesen umfassenden geistigen Entwicklungen selbstverständlich viel häufiger vorkommen als bei den einzelnen Synthesen selbst, so läßt sich das Gesetz des geistigen Wachstums nur an bestimmten, unter normalen Bedingungen erfolgenden Entwicklungen, und auch hier nur zwischen gewissen Grenzen nachweisen. Innerhalb dieser Grenzen haben jedoch gerade die umfassenderen Entwicklungen, z. B. die geistige Entwicklung des normalen einzelnen Menschen, die Entwicklung geistiger Gemeinschaften, offenbar die frühesten Bewährungen des diesen Entwicklungen zugrunde liegenden fundamentalen Prinzips der Resultanten gebildet.

    3. Das Gesetz der Heterogonie der Zwecke steht in nächster Verbindung mit dem Prinzip der Relationen, gründet sich aber zugleich auf das in einem größeren Zusammenhang psychischer Entwicklung stets mit in Rücksicht zu ziehende der Resultanten. In der Tat läßt es sich als ein Gesetz betrachten, welches die infolge der sukzessiven schöpferischen Synthesen entstehenden Veränderungen in den Relationen der einzelnen Teilinhalte psychischer Gebilde beherrscht. Indem die Resultanten zusammengehöriger psychischer Vorgänge Inhalte umfassen, die in den Komponenten nicht vorhanden waren, treten diese Inhalte gleichwohl in Beziehung zu den bisherigen Komponenten, so daß damit die Relationen derselben und infolgedessen die aus ihnen neu entstehenden Resultanten abermals verändert werden. Diese fortschreitende Veränderlichkeit der Relationen springt am deutlichsten in die Augen, wenn sich auf Grund gegebener Relationen eine Zweckvorstellung bildet. Denn nun wird die Beziehung der einzelnen Faktoren zueinander als ein Zusammenhang von Mitteln betrachtet, zu dem das sich ergebende Produkt als der erstrebte Zweck gehört. Hier stellt sich daher das Verhältnis der Wirkungen zu den vorgestellten Zwecken so dar, daß in den ersteren stets noch Nebeneffekte gegeben sind, die in den vorausgehenden Zweckvorstellungen nicht mitgedacht waren, die aber gleichwohl in neue Motivreihen eingehen und auf diese Weise entweder die bisherigen Zwecke umändern oder neue zu ihnen hinzufügen.

    Das Gesetz der Heterogonie der Zwecke in dieser allgemeinsten Bedeutung beherrscht alle psychischen Vorgänge; in der besonderen teleologischen Färbung, die ihm den Namen gegeben hat, ist es aber zunächst im Gebiet der Willensvorgänge zu finden, weil in diesen die von Gefühlsmotiven begleiteten Zweckvorstellungen hauptsächlich von Bedeutung sind. Unter den angewandten Gebieten der Psychologie ist es daher besonders die Ethik, für welche dasselbe eine hervorragende Bedeutung hat.

    4. Das Gesetz der Entwicklung in Gegensätzen ist eine Anwendung des Prinzips der Kontrastverstärkung auf umfassendere, in Entwicklungsreihen sich ordnende Zusammenhänge. Diese besitzen nämlich infolge jenes fundamentalen Prinzips die Eigenschaft, daß Gefühle und Triebe, die zunächst von geringer Intensität sind, durch den Kontrast zu den während einer gewissen Zeit überwiegenden Gefühlen von entgegengesetzter Qualität allmählich stärker werden, um endlich die bisher vorherrschenden Motive zu überwältigen und nun selbst während einer kürzeren oder längeren Zeit die Herrschaft zu gewinnen. Hierauf kann sich dann der nämliche Wechsel noch einmal oder sogar mehrmals wiederholen. Doch pflegen bei solchen Oszillationen in der Regel zugleich das Gesetz des geistigen Wachstums und das der Heterogonie der Zwecke wirksam zu werden, so daß die nachfolgenden Phasen zwar in der allgemeinen Gefühlsrichtung den vorangegangenen gleichartigen Phasen ähnlich, in ihren einzelnen Bestandteilen aber wesentlich verschieden erscheinen.

    Das Gesetz der Entwicklung in Gegensätzen macht sich schon in der individuellen geistigen Entwicklung teils in individuell wechselnder Weise innerhalb kürzerer Zeiträume, teils mit einer gewissen allgemeingültigen Regelmäßigkeit in dem Verhältnis einzelner Lebensperioden zueinander geltend. In diesem Sinne hat man längst beobachtet, daß die vorwiegenden Temperamente der verschiedenen Lebensalter gewisse Kontraste darbieten. So geht die leichte, aber selten tiefgehende sanguinische Erregbarkeit des Kindesalters in die die Eindrücke langsamer verarbeitende, aber energischer festhaltende und häufig melancholisch angehauchte Gemütsrichtung des Jünglingsalters, dieses wieder in das bei ausgereiftem Charakter im allgemeinen am meisten zu raschen, tatkräftigen Entschlüssen und Handlungen angelegte Mannesalter, und letzteres endlich allmählich in die zu beschaulicher Ruhe sich neigende Stimmung des Greisenalters über. Mehr als im individuellen tritt jedoch die Entwicklung in Gegensätzen im sozialen und geschichtlichen Leben, in dem Wechsel der geistigen Strömungen und ihren Rückwirkungen auf Kultur und Sitte, auf soziale und politische Entwicklungen hervor. Wie das Gesetz der Heterogonie der Zwecke für das sittliche, so hat daher das der Entwicklung in Gegensätzen seine Bedeutung vorzugsweise für das allgemeinere Gebiet des geschichtlichen Lebens.

Literatur. Vgl. § 23 (Literarturangabe)