§ 23. Die Prinzipien des psychischen Geschehens.

    1. Der allgemeinen Prinzipien des psychischen Geschehens lassen sich drei unterscheiden. Wir bezeichnen sie als die der psychischen Resultanten, Relationen und Kontraste.

    2. Das Prinzip der psychischen Resultanten findet seinen Ausdruck in der Tatsache, daß jedes psychische Gebilde Eigenschaften zeigt, die zwar, nachdem sie gegeben sind, aus den Eigenschaften seiner Elemente begriffen werden können, die aber gleichwohl keineswegs als die bloße Summe der Eigenschaften jener Elemente anzusehen sind. Ein Zusammenklang von Tönen ist nach seinen Vorstellungs- wie Gefühlseigenschaften mehr als eine bloße Summe von Einzeltönen. Bei den räumlichen und den zeitlichen Vorstellungen ist die räumliche und die zeitliche Ordnung zwar in durchaus gesetzmäßiger Weise in dem Zusammenwirken der Elemente begründet, die diese Vorstellungen bilden; dabei können aber doch jene Ordnungen keinesfalls als Eigenschaften angesehen werden, die den Empfindungselementen selbst bereits inhärieren. Die nativistischen Theorien, die dies voraussetzen, verwickeln sich vielmehr in unlösbare Widersprüche und müssen, indem sie nachträgliche Veränderungen der ursprünglichen Raum- und Zeitanschauungen infolge bestimmter Erfahrungseinflüsse zulassen, schließlich selbst in einem gewissen Umfang eine Neuentstehung von Eigenschaften annehmen. Bei den apperzeptiven Funktionen endlich, den Phantasie- und Verstandestätigkeiten, kommt das nämliche Prinzip in einer klarbewußten Form zum Ausdruck, da nicht nur die durch apperzeptive Synthese verbundenen Bestandteile neben der Bedeutung, die sie im isolierten Zustande besitzen, eine neue Bedeutung in der durch ihre Verbindung entstehenden Gesamtvorstellung gewinnen, sondern da namentlich auch die Gesamtvorstellung selbst ein neuer psychischer Inhalt ist, der zwar durch jene Bestandteile ermöglicht wird, darum aber doch in ihnen noch nicht enthalten ist. Dies zeigt sich wieder am augenfälligsten an den verwickelteren Erzeugnissen apperzeptiver Synthese, wie an dem Kunstwerk, an dem logischen Gedankenzusammenhang.

    3. In den psychischen Resultanten kommt auf diese Weise ein Prinzip zur Geltung, das wir im Hinblick auf die entstehenden Wirkungen auch als das Prinzip schöpferischer Synthese bezeichnen können. Für die höheren geistigen Schöpfungen längst anerkannt, ist es zumeist für die Gesamtheit der übrigen psychischen Vorgänge nicht zureichend gewürdigt, ja durch eine falsche Vermengung mit den Gesetzen der physischen Kausalität in sein Gegenteil verkehrt worden. Auf einer ähnlichen Vermengung beruht es, wenn man zuweilen zwischen dem Prinzip der schöpferischen Synthese auf geistigem Gebiet und den allgemeinsten Prinzipien der Naturkausalität, namentlich dem der Erhaltung der Energie, einen Widerspruch hat finden wollen. Ein solcher Widerspruch ist schon deshalb von vornherein ausgeschlossen, weil die Gesichtspunkte der Beurteilung und darum auch die Gesichtspunkte der Maßbestimmungen, wo solche anwendbar sind, beidemal andere sein müssen, da sich ja eben Naturwissenschaft und Psychologie nicht mit verschiedenen Erfahrungsinhalten, sondern mit einer und derselben Erfahrung von verschiedenen Standpunkten aus beschäftigen (§ l, S. 3). Die physischen Maßbestimmungen beziehen sich auf objektive Massen, Kräfte und Energien, Hilfsbegriffe, zu deren Abstraktion wir durch die Beurteilung der objektiven Erfahrung genötigt werden, und deren Gesetze sämtlich das Prinzip der Konstanz der Materie zu ihrer Voraussetzung haben. Die psychischen Maßbestimmungen dagegen, die bei der Vergleichung psychischer Komponenten mit ihren Resultanten in Frage kommen, beziehen sich auf subjektive Werte und Zwecke. Der subjektive Wert eines Ganzen kann zunehmen, der Zweck desselben kann gegenüber demjenigen seiner Bestandteile ein eigenartiger und vollkommenerer sein, ohne daß darum die Massen, Kräfte und Energien irgendwelche Veränderungen erfahren. Die Muskelbewegungen bei einer äußeren Willenshandlung, die physischen Vorgänge, welche die Sinneswahrnehmungen, die Assoziationen und die apperzeptiven Funktionen begleiten, folgen darum unwandelbar dem Prinzip der Erhaltung der Energie. Aber bei gleichbleibender Größe dieser Energie können die in ihr repräsentierten geistigen Werte und Zwecke von sehr verschiedener Größe sein.

    4. Die physische Messung hat es, wie diese Unterschiede zeigen, mit quantitativen Größenwerten zu tun, d. h. mit Größen, die eine Wertabstufung nur nach den quantitativen Verhältnissen der gemessenen Erscheinungen zulassen. Die psychische Messung dagegen bezieht sich in letzter Instanz immer auf qualitative Wertgrößen, d.h. auf Werte, die bloß mit Rücksicht auf ihre qualitative Beschaffenheit nach Graden abgestuft werden können. Der rein quantitativen Wirkungsfähigkeit, die wir als physische Energiegröße bezeichnen, läßt sich daher die qualitative Wirkungsfähigkeit in der Erzeugung von Wertgraden als psychische Energiegröße gegenüberstellen.

    Dies vorausgesetzt, ist nun eine Zunahme der psychischen Energie nicht nur mit der für die naturwissenschaftliche Betrachtung gültigen Konstanz der physischen Energie vereinbar, sondern beide bilden sogar die sich ergänzenden Maßstäbe der Beurteilung unserer Gesamterfahrung. Denn die Zunahme der psychischen Energie rückt dadurch erst in die richtige Beleuchtung, daß sie die geistige Kehrseite der physischen Konstanz bildet. Wie übrigens die erstere in ihrem Ausdruck unbestimmt ist, indem das Maß derselben unter verschiedenen Bedingungen ein außerordentlich verschiedenes sein kann, so gilt sie überhaupt nur unter der Voraussetzung der Kontinuität der psychischen Vorgänge. Als ihr in der Erfahrung unzweifelhaft sich aufdrängendes psychologisches Korrelat steht ihr darum die Tatsache des Verschwindens psychischer Werte gegenüber.

    6. Das Prinzip der psychischen Relationen bildet eine Ergänzung zu dem der Resultanten, indem es sich nicht auf das Verhältnis der Bestandteile eines psychischen Zusammenhangs zu dem in diesem zum Ausdruck kommenden Wertinhalte, sondern auf das Verhältnis der einzelnen Bestandteile zueinander bezieht. Wie das Prinzip der Resultanten für die synthetischen, so gilt daher das der Relationen für die analytischen Vorgänge des Bewußtseins. Jede Zerlegung eines Bewußtseinsinhalts in einzelne Glieder, wie sie bei der sukzessiven Auffassung der Teile eines zuerst nur im allgemeinen vorgestellten Ganzen schon bei den Sinneswahrnehmungen und Assoziationen, und dann in klarer bewußter Form bei der Gliederung der Gesamtvorstellungen stattfindet, ist ein Akt beziehender Analyse. Ebenso ist jede Apperzeption ein analytischer Vorgang, als dessen zwei Faktoren die Hervorhebung eines Einzelinhalts und die Abgrenzung desselben gegenüber andern Inhalten zu unterscheiden sind. Auf dem ersten dieser Faktoren beruht die Klarheit, auf dem zweiten die Deutlichkeit der Apperzeption (§ 15, 4). Zu einem vollkommensten Ausdruck gelangt endlich das Prinzip der Relationen in den Vorgängen der apperzeptiven Analyse und den ihnen zugrunde liegenden einfacheren Funktionen der Beziehung und der Vergleichung (§ 17, A u. § 17, B). Bei den letzteren insbesondere erweist sich als der wesentliche Inhalt jenes Prinzips die Tatsache, daß jeder einzelne psychische Inhalt seine Bedeutung empfängt durch die Beziehungen, in denen er zu andern psychischen Inhalten steht. Wo sich uns diese Beziehungen als Größenbeziehungen darbieten, da nimmt dann das Prinzip von selbst die Form eines Gesetzes der relativen Größenvergleichung an: so in dem Weberschen Gesetze (§ 17, 10).

    6. Das Prinzip der psychischen Kontraste ist wieder eine Ergänzung zu dem der Relationen. Denn es bezieht sich gleich diesem auf die Verhältnisse psychischer Inhalte zueinander. Es selbst gründet sich aber auf jene in den Bedingungen der psychischen Entwicklung gelegene fundamentale Unterscheidung der unmittelbaren Erfahrungsinhalte in objektive und subjektive, wobei die letzteren alle diejenigen Elemente und Verbindungen von Elementen umfassen, die, wie die Gefühle und Affekte, als wesentliche Bestandteile von Willensvorgängen auftreten. Indem diese subjektiven Erfahrungsinhalte sämtlich nach Gegensätzen sich ordnen, denen die früher (§ 7) erwähnten Hauptrichtungen der Gefühle, Lust und Unlust, Erregung und Beruhigung, Spannung und Lösung, entsprechen, folgen diese Gegensätze zugleich in ihrem Wechsel dem allgemeinen Gesetz der Kontrastverstärkung. In der konkreten Anwendung wird jedoch dieses Gesetz stets von besonderen zeitlichen Bedingungen mitbestimmt, da jeder subjektive Zustand einerseits einer gewissen Zeit zu seiner Entwicklung bedarf, anderseits, wenn er sein Maximum erreicht hat, durch längere Dauer in seiner kontrasterregenden Wirkung sich abschwächt. Hiermit hängt zusammen, daß es für alle Gefühle und Affekte ein gewisses mittleres, übrigens mannigfach variierendes Maß der Geschwindigkeit der psychischen Vorgänge gibt, welches für ihre Stärke das günstigste ist.

    Hat nun aber das Kontrastprinzip seinen Ursprung in den Eigenschaften der subjektiven psychischen Erfahrungsinhalte, so überträgt es sich doch von diesen aus auch auf die Vorstellungen und ihre Elemente, da an sie stets mehr oder minder ausgeprägte Gefühle geknüpft sind, mögen solche mit dem Inhalt der einzelnen Vorstellungen oder mit der Art ihrer räumlichen oder zeitlichen Verbindung zusammenhängen. Auf diese Weise findet sich die Kontrastverstärkung namentlich auch bei gewissen Empfindungen, wie den Gesichtsempfindungen, sowie den räumlichen oder zeitlichen Vorstellungen.

    7. Schließlich steht das Kontrastprinzip wiederum zu den beiden vorangegangenen Prinzipien in naher Beziehung. Auf der einen Seite läßt es sich als eine Anwendung des allgemeinen Relationsprinzips auf den speziellen Fall betrachten, wo sich die aufeinander bezogenen psychischen Inhalte zwischen Gegensätzen bewegen. Auf der andern Seite aber bildet die Tatsache, daß sich unter geeigneten Bedingungen entgegengesetzt gerichtete psychische Vorgänge verstärken, eine besondere Anwendung des Prinzips der schöpferischen Synthese.

Literatur. Wundt, Über psychische Kausalität, (Kl. Schr., Bd. 2). Logik3, III, 4. Abschn., Kap. II, 4. Phys. Psych.6, III, Kap. 22. System der Philosophie3, II, 6. Abschn. Logik3, II, S. 243ff. Einführung in die Psychol., S. 101 ff.