V. Die Prinzipien und Gesetze der psychischen Kausalität.

§ 22. Der Begriff der Seele.

    l. Jede Erfahrungswissenschaft hat zu ihrem nächsten Inhalt bestimmte Tatsachen der Erfahrung, deren Beschaffenheit und wechselseitige Beziehungen sie zu erforschen sucht. Bei der Lösung dieser Aufgabe erweisen sich aber allgemeine Hilfsbegriffe, die selbst nicht unmittelbar in der Erfahrung enthalten sind, sondern erst auf Grund einer logischen Bearbeitung derselben gewonnen werden, als unerläßlich, falls man nicht auf die Zusammenfassung der Tatsachen unter leitende Gesichtspunkte gänzlich verzichten will. Der allgemeinste Hilfsbegriff dieser Art, der in allen Erfahrungswissenschaften seine Rechte geltend macht, ist der Begriff der Kausalität. Er entstammt dem Bedürfnis unseres Denkens, alle uns gegebenen Erfahrungen nach Gründen und Folgen zu ordnen und überall, wo sich der Herstellung eines auf diesem Weg erstrebten widerspruchslosen Zusammenhangs Widerstände entgegensetzen, dieselben durch sekundäre Hilfsbegriffe, eventuell von hypothetischer Art, zu beseitigen. In diesem Sinne lassen sich alle für die Interpretation eines Erfahrungsgebiets überhaupt in Frage kommenden Hilfsbegriffe als Anwendungen des allgemeinen Kausalprinzips betrachten: sie sind gerechtfertigt, insoweit sie durch dieses gefordert oder mindestens als wahrscheinlich nahegelegt sind; sie sind nicht gerechtfertigt, sobald sie sich als willkürliche Fiktionen herausstellen, die, aus irgendwelchen fremdartigen Motiven entstanden, für die Interpretation der Erfahrung nichts leisten.

    2. So ist der Begriff der Materie ein fundamentaler Hilfsbegriff der Naturwissenschaft. In seiner allgemeinsten Fassung bezeichnet er das im Weltraum vorausgesetzte beharrende Substrat, als dessen Wirkungen wir alle Naturerscheinungen betrachten. In diesem Sinne kann keine naturwissenschaftliche Erklärung den Begriff der Materie entbehren. Wenn daher in neuerer Zeit versucht wurde, den Begriff der Energie zum beherrschenden Prinzip zu erheben, so ist damit nicht der Begriff der Materie selbst beseitigt, sondern es ist ihm nur ein anderer Inhalt gegeben. Diesen Inhalt gewinnt aber der Begriff stets erst durch einen zweiten Hilfsbegriff, der sich auf die kausale Wirksamkeit der Materie bezieht. Der bisher in der Naturwissenschaft gültige Begriff der Materie, der sich auf die mechanische Physik Galileis stützt, benutzt als solchen Hilfsbegriff den als Produkt von Masse und momentaner Beschleunigung definierten Begriff der Kraft. Eine Physik der Energie sucht statt dessen auf allen Gebieten den Begriff der Energie einzuführen, der in der speziellen Form der mechanischen Energie als das halbe Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit zu definieren ist. Da nun die Energie ebenso wie die Kraft in dem objektiven Raum ihren Sitz hat, und da unter bestimmten Bedingungen die Punkte, von denen Energie ausgeht, ebenso ihren Ort im Raum verändern können, wie die Punkte, von denen Kräfte ausgehen, so bleibt der Begriff der Materie als eines im Raum enthaltenen Substrats in beiden Fällen bestehen, und der einzige, allerdings wichtige Unterschied ist der, daß man bei der Zuhilfenahme des Kraftbegriffs die Reduzierbarkeit aller Naturerscheinungen auf mechanische Bewegungen voraussetzt, während man bei der Zuhilfenahme des Energiebegriffs, neben der Eigenschaft der Bewegung bei unveränderter Energieform, der Materie auch noch die Eigenschaft der Transformierbarkeit qualitativ verschiedener Energieformen ineinander bei unverändert bleibender Energiegröße zuschreibt.

    3. In ähnlicher Weise wie der Begriff der Materie ein Hilfsbegriff der Naturwissenschaft, so ist nun der Begriff der Seele ein Hilfsbegriff der Psychologie. Auch er ist insofern unentbehrlich, als wir durchaus eines die Gesamtheit der psychischen Erfahrungen des individuellen Bewußtseins zusammenfassenden Begriffs bedürfen, wobei aber natürlich auch hier der Inhalt dieses Begriffs ganz und gar von den weiteren Hilfsbegriffen abhängt, in denen die Natur der psychischen Kausalität näher bestimmt wird. In der Definition dieses Inhalts hat ursprünglich die Psychologie darin das Schicksal der Naturwissenschaft geteilt, daß der Begriff der Seele, ebenso wie der der Materie, zunächst nicht sowohl aus dem empirischen Erklärungsbedürfnis als vielmehr aus dem Streben nach einer phantasievollen Konstruktion des allgemeinen Weltzusammenhangs hervorging. Aber während die Naturwissenschaft längst diesem mythologischen Stadium der Begriffsbildung entwachsen ist und einzelne in demselben entstandene Vorstellungen nur benutzt hat, um bestimmte Ausgangspunkte für eine strengere Begriffsbildung zu gewinnen, ist in der Psychologie der mythologisch-metaphysische Seelenbegriff bis in die neueste Zeit herrschend geblieben und zum Teil noch herrschend. Man bedient sich desselben nicht als eines allgemeinen Hilfsbegriffs, der in erster Linie die Zusammenfassung der psychischen Tatsachen und in zweiter Linie die kausale Interpretation derselben ermöglichen soll, sondern als eines Mittels, um dem Bedürfnis nach einem allgemeinen, die Natur und das individuelle Dasein gleichmäßig umfassenden Weltbilde soviel als möglich entgegenzukommen.

    4. In diesem mythologisch-metaphysischen Bedürfnis wurzelt der substantielle Seelenbegriff in seinen verschiedenen Gestaltungen. Hat es auch in der Entwicklung desselben keineswegs an Bestrebungen gefehlt, auf dem durch ihn geschaffenen Boden den Forderungen psychologischer Kausalerklärung einigermaßen gerecht zu werden, so sind doch solche Bestrebungen überall erst nachträglich entstanden; und unverkennbar würde nicht bloß die psychologische Erfahrung unabhängig von jenen ihr fremden metaphysischen Motiven niemals zu einem substantiellen Seelenbegriff geführt haben, sondern es hat auch dieser zweifellos schädigend auf die Auffassung der Erfahrung zurückgewirkt. Die Ansicht z. B., daß alle psychischen Inhalte ihrem Wesen nach Vorstellungen, und daß die Vorstellungen mehr oder minder unvergängliche Objekte seien, würde ohne solche Voraussetzungen kaum verständlich sein. Überdies spricht hierfür der enge Zusammenhang, in welchem der substantielle Seelenbegriff mit dem Begriff der materiellen Substanz steht. Entweder wird er nämlich als identisch mit diesem, oder er wird zwar als eigenartiger Begriff betrachtet, bei dem aber gleichwohl die allgemeinsten formalen Merkmale auf einen bestimmten Begriff materieller Substanzelemente, nämlich auf den des Atoms, zurückführen.

    5. Hiernach lassen sich zwei Gestaltungen des substantiellen Seelenbegriffs unterscheiden, entsprechend den in § 2 unterschiedenen beiden Richtungen der metaphysischen Psychologie: die materialistische, welche die psychischen Vorgänge als Wirkungen der Materie oder gewisser materieller Komplexe, wie der Gehirnbestandteile, betrachtet; und die spiritualistische, welche dieselben als Zustände und Veränderungen eines unausgedehnten, darum unteilbaren und beharrenden Wesens von spezifisch geistiger Natur ansieht. Im letzteren Falle wird dann entweder auch die Materie als bestehend aus ähnlichen geistigen Atomen niederen Grades gedacht (monistischer oder monadologischer Spiritualismus), oder es wird das Seelenatom als spezifisch verschieden von der eigentlichen Materie angenommen (dualistischer Spiritualismus). (Vgl. das Schema § 2.)

    In beiden Formen leistet der Substanzbegriff für die Interpretation der psychologischen Erfahrung nichts. Der Materialismus beseitigt die Psychologie überhaupt, um an ihre Stelle eine imaginäre Gehirnphysiologie der Zukunft oder, soweit er sich auf Theorien einläßt, zweifelhafte und unzulängliche gehirnphysiologische Hypothesen zu setzen. Mit dem Verzicht auf eine eigentliche Psychologie verzichtet endlich dieser Standpunkt selbstverständlich zugleich ganz und gar auf die Aufgabe, den Geisteswissenschaften eine für sie brauchbare Grundlage zu geben. Der Spiritualismus läßt zwar die Psychologie als solche bestehen, aber die wirkliche Erfahrung wird in ihm von völlig willkürlichen metaphysischen Hypothesen überwuchert, welche die unbefangene Beobachtung der psychischen Vorgänge trüben. Dies spricht sich in der Regel schon darin aus, daß diese metaphysische Richtung die Aufgabe der Psychologie von vornherein unrichtig bestimmt, indem sie innere und äußere Erfahrung als völlig heterogene, aber in irgendwelchen äußeren Wechselwirkungen stehende Gebiete bezeichnet.

    6. Nun sind, wie in § l bereits hervorgehoben wurde, beide, die naturwissenschaftliche und die psychologische Erfahrung, überhaupt die Bestandteile einer Erfahrung, die von verschiedenen Standpunkten aus, dort als ein Zusammenhang objektiver Erscheinungen und daher, infolge der Abstraktion von dem erkennenden Subjekt, als mittelbare, hier dagegen als unmittelbare und ursprüngliche Erfahrung betrachtet wird.

    Mit der Erkenntnis dieses Verhältnisses tritt aber von selbst an die Stelle des Substantialitäts- der Aktualitätsbegriff als der für die Auffassung der psychischen Vorgänge maßgebende. Da die psychologische Betrachtung die Ergänzung der naturwissenschaftlichen ist, insofern die erstere die unmittelbare Wirklichkeit des Geschehens zu ihrem Inhalte hat, so liegt darin eingeschlossen, daß in ihr hypothetische Hilfsbegriffe, wie sie in der Naturwissenschaft durch die Voraussetzung eines von dem Subjekt unabhängigen Gegenstandes notwendig werden, keine Stelle finden können. In diesem Sinn ist der Aktualitätsbegriff der Seele kein Begriff, der, wie derjenige der Materie, hypothetischer Bestimmungsstücke bedarf, um ihn seinem näheren Inhalte nach zu definieren, sondern er schließt im Gegenteil solche Elemente von vornherein aus, indem er als das Wesen der Seele die unmittelbare Wirklichkeit der Vorgänge selbst bezeichnet. Da aber ein wichtiger Bestandteil dieser Vorgänge, nämlich die Gesamtheit der Vorstellungsobjekte, zugleich den Inhalt der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise ausmacht, so ist damit auch ausgesprochen, daß Substantialität und Aktualität Begriffe sind, welche sich auf eine und dieselbe allgemeine Erfahrung beziehen, die nur bei jedem von ihnen unter einem wesentlich andern Gesichtspunkte betrachtet wird. Abstrahieren wir bei der Erfahrungswelt von dem erkennenden Subjekt, so erscheint sie uns als eine Mannigfaltigkeit in Wechselwirkung stehender Substanzen; fassen wir sie umgekehrt als den gesamten, das Subjekt selbst einschließenden Inhalt der Erfahrung dieses Subjekts auf, so erscheint sie uns als eine Mannigfaltigkeit unter sich verbundener Ereignisse. Indem dort die Erscheinungen in dem Sinn als äußere erscheinen, daß sie auch dann noch unverändert stattfinden würden, wenn das erkennende Subjekt überhaupt nicht vorhanden wäre, wird die naturwissenschaftliche Form der Erfahrung auch die äußere Erfahrung genannt. Indem dagegen hier alle Erfahrungsinhalte als unmittelbar in dem erkennenden Subjekt selbst gelegene betrachtet werden, heißt der psychologische Standpunkt der der inneren Erfahrung. In diesem Sinne sind daher äußere und innere Erfahrung durchaus identisch mit mittelbarer und unmittelbarer oder auch mit objektiver und subjektiver. Sie bezeichnen gerade so wie diese Ausdrücke nicht verschiedene Erfahrungsgebiete, sondern verschiedene sich ergänzende Standpunkte in der Analyse der an sich vollkommen einheitlich gegebenen Erfahrungswelt.

    7. Daß von diesen beiden Betrachtungsweisen die naturwissenschaftliche früher ihre Ausbildung erlangt hat, ist angesichts des praktischen Interesses, das sich an die Feststellung der von dem Subjekt unabhängig gedachten regelmäßigen Naturerscheinungen knüpft, vollkommen begreiflich; und daß diese Priorität der naturwissenschaftlichen Erkenntnis lange Zeit eine unklare Vermengung des naturwissenschaftlichen und des psychologischen Standpunkts herbeiführte, wie eine solche in den verschiedenen psychologischen Substanzbegriffen ihren Ausdruck fand, war fast unvermeidlich. Darum ist nun aber auch jene Reform der Grundanschauungen, welche die Eigenart der psychologischen Aufgabe nicht in der Besonderheit des Erfahrungsgebiets, sondern in der Auffassungsweise aller uns gegebenen Erfahrungsinhalte in ihrer unmittelbaren, nicht durch hypothetische Hilfsbegriffe veränderten Wirklichkeit sieht, zunächst nicht von der Psychologie, sondern von den einzelnen Geisteswissenschaften ausgegangen. In diesen war die unter dem Gesichtspunkt des Aktualitätsbegriffs stehende Auffassung der geistigen Vorgänge längst heimisch, ehe sie in der Psychologie Eingang fand. In dieser an sich unzulässigen Verschiedenheit der grundlegenden Anschauungen in Psychologie und Geisteswissenschaften ist daher auch der Grund dafür zu suchen, daß die Psychologie ihrer Aufgabe, der Gesamtheit der Geisteswissenschaften als Grundlage zu dienen, bisher nur wenig nachgekommen ist.

    8. Vom Gesichtspunkt des Aktualitätsbegriffs aus erledigt sich nun zugleich eine Streitfrage, die lange Zeit die metaphysischen Systeme der Psychologie entzweite: die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele. Betrachtet man Leib und Seele beide als Substanzen, so bleibt jenes Verhältnis ein Rätsel, wie man auch die zwei Substanzbegriffe bestimmen möge. Sind sie gleichartige Substanzen, so ist der verschiedene Inhalt der naturwissenschaftlichen und der psychologischen Erkenntnis unbegreiflich, und es bleibt nur übrig, die selbständige Bedeutung irgendeiner dieser beiden Erkenntnisformen ganz zu leugnen. Sind sie ungleichartige Substanzen, so ist ihre Verbindung ein immerwährendes Wunder. Vom Standpunkte der Aktualitätstheorie aus ist aber die unmittelbare Wirklichkeit des Geschehens in der psychologischen Erfahrung enthalten. Unser physiologischer Begriff des körperlichen Organismus ist lediglich ein Teil dieser Erfahrung, den wir, wie alle andern naturwissenschaftlichen Erfahrungsinhalte, auf Grund der Voraussetzung eines von dem erkennenden Subjekt unabhängigen Objekts gewonnen haben. Gewisse Bestandteile dieser mittelbaren können gewissen Bestandteilen jener unmittelbaren Erkenntnis entsprechen, ohne daß darum die eine auf die andere zurückzuführen oder aus ihr abzuleiten wäre. Vielmehr ist eine solche Ableitung infolge des in beiden Fällen völlig abweichenden Standpunkts der Auffassung an sich ausgeschlossen. Da es sich hier nirgends um verschiedene Erfahrungsobjekte, sondern überall nur um verschiedene Standpunkte gegenüber einer und derselben Erfahrung handelt, so müssen jedoch zwischen beiden Betrachtungsweisen, der naturwissenschaftlichen und der psychologischen, durchgängige Beziehungen bestehen; und nicht minder ist es begreiflich, daß die erstere niemals den ganzen Inhalt der Wirklichkeit erschöpfen kann, sondern daß es eine Anzahl wichtiger Tatsachen gibt, die uns nur in der Form der unmittelbaren oder psychologischen Erfahrung zugänglich sind. Dahin gehört in unserem subjektiven Bewußtsein alles, was nicht den Charakter eines Vorstellungsobjekts besitzt, d. h. eines Inhalts, der direkt auf äußere Gegenstände bezogen wird, also unsere gesamte Gefühlswelt, solange wir sie ausschließlich nach ihrer subjektiven Bedeutung betrachten.

    9. Den Satz, daß alle diejenigen Erfahrungsinhalte, die gleichzeitig der mittelbaren, naturwissenschaftlichen und der unmittelbaren, psychologischen Betrachtungsweise angehören, zueinander in Beziehung stehen, indem innerhalb jenes Gebiets jedem elementaren Vorgang auf psychischer Seite ein solcher auf physischer entspricht, bezeichnet man als das Prinzip des psycho-physischen Parallelismus. Dasselbe ist in seiner empirisch-psychologischen Bedeutung durchaus verschieden von gewissen metaphysischen Sätzen, die zuweilen mit dem nämlichen Namen bezeichnet wurden, in Wahrheit aber einen völlig abweichenden Sinn besitzen. Diese metaphysischen Sätze stehen nämlich sämtlich auf dem Boden der psychologischen Substanzhypothesen, und sie suchen das Problem der Wechselbeziehung zwischen Leib und Seele zu lösen, indem sie entweder zwei reale Substanzen annehmen, deren Eigenschaften verschieden seien, aber in ihren Veränderungen einander parallel gehen, oder indem sie eine Substanz mit zwei verschiedenartigen Attributen voraussetzen, deren Modifikationen einander entsprechen sollen. In beiden Fällen beruht das metaphysische Parallelprinzip auf dem Satze: jedem Physischen entspricht ein Psychisches, und umgekehrt; oder auch: die geistige Welt ist ein Spiegelbild der körperlichen, die körperliche eine objektive Realisierung der geistigen Welt. Dieser Satz ist aber eine völlig unerweisbare Annahme, und er führt in seinen psychologischen Anwendungen zu einem aller Erfahrung widerstreitenden Intellektualismus. Das psychologische Prinzip in seiner oben gegebenen Formulierung hingegen geht davon aus, daß es an und für sich nur eine Erfahrung gibt, die jedoch, sobald sie zum Inhalt wissenschaftlicher Analyse wird, in bestimmten ihrer Bestandteile eine doppelte Form wissenschaftlicher Betrachtung zuläßt: eine mittelbare, die die Gegenstände unseres Vorstellens in ihren objektiven Beziehungen zueinander, und eine unmittelbare, die sie in ihrer anschaulichen Beschaffenheit inmitten aller übrigen Erfahrungsinhalte des erkennenden Subjekts untersucht. Soweit es nun Objekte gibt, die dieser doppelten Betrachtung unterworfen sind, fordert das psychologische Parallelprinzip eine durchgängige Beziehung der beiderseitigen Vorgänge zueinander. Diese Forderung stützt sich aber darauf, daß sich beide Formen der Analyse in diesen Fällen in Wirklichkeit auf einen und denselben Erfahrungsinhalt beziehen. Dagegen kann sich das psychologische Parallelprinzip der Natur der Sache nach nicht beziehen auf alle die Erfahrungsinhalte, die nur Gegenstände naturwissenschaftlicher Analyse sind, oder doch auf diese nur insofern, als sie zu den Vorstellungsinhalten unseres subjektiven Bewußtseins gehören. Ebensowenig kann es sich aber auf diejenigen Bewußtseinsinhalte beziehen, die den spezifischen Charakter der psychologischen Erfahrung ausmachen. Zu den letzteren gehören zunächst die eigentümlichen Verbindungs- und Beziehungsformen der psychischen Elemente und Gebilde; Ihnen werden zwar Verbindungen physischer Prozesse insofern parallel gehen, als überall, wo ein psychischer Zusammenhang auf eine regelmäßige Koexistenz oder Sukzession physischer Vorgänge zurückweist, diese direkt oder indirekt ebenfalls in einer kausalen Verknüpfung stehen müssen; von dem eigentümlichen Inhalte der psychischen Verbindung kann aber die letztere Verknüpfung nichts enthalten. So werden z. B. die Elemente, die eine räumliche oder zeitliche Vorstellung konstituieren, auch in ihren physiologischen Substraten in einem regelmäßigen Verhältnis der Koexistenz oder Sukzession stehen; oder den Vorstellungselementen, aus denen sich ein Vorgang der Beziehung und Vergleichung psychischer Inhalte zusammensetzt, werden irgendwelche Verbindungen physiologischer Prozesse korrespondieren, die sich, wenn jene psychischen Vorgänge wieder eintreten, ebenfalls wiederholen. Aber von dem, was die spezifische Natur der räumlichen und zeitlichen Vorstellungen, der Beziehungs- und Vergleichungsvorgänge als solcher ausmacht, werden jene physiologischen Prozesse deshalb nichts enthalten können, weil eben von allem dem bei der naturwissenschaftlichen Betrachtung geflissentlich abstrahiert worden ist. Hieraus folgt dann weiterhin, daß auch die Wert- und Zweckbegriffe, zu deren Bildung die psychischen Verbindungen herausfordern, und die mit ihnen zusammenhängenden Gefühlsinhalte gänzlich außerhalb des Gesichtskreises der dem Parallelprinzip subsumierbaren Erfahrungsinhalte liegen. Die Formen der Verbindung, die uns in den Verschmelzungsprozessen, den Assoziationen und Apperzeptionsverbindungen entgegentreten, sowie die Werte, die ihnen in dem gesamten Zusammenhang der psychischen Entwicklung zukommen, können daher ebenso nur durch eine psychologische Analyse erkannt werden, wie die objektiven Erscheinungen von Schwere, Schall, Licht, Wärme usw. oder die Prozesse im Nervensystem nur einer physikalischen oder physiologischen, d. h. mit den substantiellen Hilfsbegriffen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis operierenden Analyse zugänglich sind.

    10. Auf diese Weise führt das Prinzip des psycho-physischen Parallelismus in der ihm unbestreitbar zukommenden empirisch-psychologischen Bedeutung mit Notwendigkeit zugleich zur Anerkennung einer selbständigen psychischen Kausalität, die zwar überall Beziehungen zur physischen Kausalität darbietet und niemals in Widerspruch mit derselben geraten kann, gleichwohl aber von ihr nicht minder verschieden ist, wie der in der Psychologie festgehaltene Standpunkt der unmittelbaren subjektiven Erfahrung von dem für die Naturwissenschaft geltenden mittelbarer, abstrakt objektiver Erkenntnis abweicht. Wie sich uns nun das Wesen der physischen Kausalität in gewissen Prinzipien zu erkennen gibt, die, wie z. B. das Prinzip der Trägheit, der Zusammensetzung der Kräfte, der Konstanz der Energie, für alle Naturerscheinungen gültig sind, so werden wir uns auch über die Eigenart der psychischen Kausalität nur Rechenschaft geben können, indem wir aus der Gesamtheit der psychischen Vorgänge die Prinzipien des psychischen Geschehens zu abstrahieren suchen. Wie sich ferner aus der Anwendung der Prinzipien der Naturkausalität auf bestimmte Zusammenhänge des physischen Geschehens gewisse allgemeine Naturgesetze, wie z. B. das Gravitationsgesetz, die Fallgesetze, die Gesetze der Schwingungen elastischer Medien u. a. ableiten lassen, so werden auch die empirischen Gesetze des psychischen Geschehens auf jene allgemeingültigen psychischen Prinzipien zurückzuführen sein. Unter diesen Gesetzen sind dann wieder für den Gesamtcharakter des seelischen Lebens diejenigen von besonderer Bedeutung, die der Entwicklung der geistigen Erzeugnisse in ihrem geschichtlichen Werden zugrunde liegen, und die wir demnach als die allgemeinen psychischen Entwicklungsgesetze bezeichnen können.

    Literatur. Volkmann, Lehrbuch der Psychologie, I, l. Hauptstück (Substanzbegriff der Herbartschen Schule, zugleich historische Übersicht seiner Entwicklung). Lotze, Medizin. Psychol., Kap. l (Substanzbegriff mit Hinneigung zur Aktualitätstheorie). Bain, Leib und Seele, 1874 (Physiologische Auffassung). L. Busse, Geist u. Körper, Seele u. Leib (Annahme einer psychophysischen Wechselwirkung). Aktualitätstheorie: Wundt, Kleine Schriften, Bd. 2. (Über psychische Kausalität.) Die Definition der Psychologie, Logik3, III, l. Abschn., Kap. III. Phys. Psych.6, III, Kap. 21 u. 22. M. u. T. Vorl. 30. Paulsen, Einleitung in die Philosophie, 1892. 14. Aufl. 1906. Edm. König, Ztschr. f. Philos., Bd. 119 (Prinzip des Parallelismus).