§ 20. Die psychische Entwicklung des Kindes.

    l. Die im allgemeinen langsamere psychische Entwicklung des Menschen gegenüber derjenigen der meisten Tiere gibt sich an der sehr allmählichen Ausbildung der Sinnesfunktionen zu erkennen. Das Kind reagiert zwar sofort nach der Geburt auf Sinnesreize jeder Art, am deutlichsten auf Tast- und Geschmackseindrücke, am unsichersten auf Schallerregungen. Doch ist es zweifellos, daß hierbei die besonderen Formen der Reaktionsbewegung auf vererbten Reflexmechanismen beruhen. Insbesondere gilt das auch von dem Schreien des Kindes bei Kälte- und anderen Tastreizen, sowie von den ebenfalls von Anfang an zu beobachtenden mimischen Reflexen auf süße, saure und bittere Geschmacksstoffe. Daher ist es zwar wahrscheinlich, daß alle diese Eindrücke von dunkeln Empfindungen und Gefühlen begleitet sind; aber die Beschaffenheit der Reaktionsbewegungen kann nicht aus den Gefühlen, als deren Symptome wir sie betrachten, sondern nur aus den angeborenen zentralen Reflexverbindungen abgeleitet werden.

    Etwas klarer bewußte, wenn auch, wie der rasche Wechsel der Stimmungen zeigt, immer noch sehr vergängliche Empfindungen und Gefühle geben sich vom Ende des ersten Lebensmonats an kund, indem nun nicht bloß Unlust-, sondern auch Lustsymptome, Lachen, lebhafte rhythmische Bewegungen der Arme und Beine nach bestimmten Sinneseindrücken beobachtet werden. Auch die Reflexmechanismen sind übrigens in der ersten Lebenszeit noch nicht vollständig ausgebildet, wie dies durch die anatomische Tatsache, daß manche der Faserverbindungen zwischen Großhirnzentren erst nach der Geburt entstehen, verständlich wird. So fehlen namentlich noch die assoziierten Reflexbewegungen der beiden Augen. Zwar wendet sich meist schon von Anfang an das einzelne Auge einem Lichte zu, aber die Bewegungen beider Augen sind noch unregelmäßig, und erst im Laufe der drei ersten Monate stellt sich allmählich die normale Koordination der Bewegungen mit gemeinsamem Fixationspunkt beider Augen ein. Auch hier ist jedoch die eintretende Regelmäßigkeit nicht als eine Folge ausgebildeter Gesichtswahrnehmungen aufzufassen, sondern als das Symptom eines in Funktion tretenden Reflexzentrums, dessen Wirkungen vielmehr erst vollkommenere Wahrnehmungen möglich machen.

    2. Über die qualitativen Verhältnisse der psychischen Elemente beim Kinde lassen sich keine zureichenden Aufschlüsse gewinnen, weil es uns an sicheren objektiven Symptomen mangelt. Wahrscheinlich ist die Mannigfaltigkeit der Tonempfindungen, vielleicht auch die der Farbenempfindungen eine beschränktere. Wenn aber Kinder noch im zweiten Lebensjahr nicht selten Farbenbezeichnungen verwechseln, so darf dies nicht ohne weiteres auf einen Mangel der Empfindungen bezogen werden, sondern es ist viel wahrscheinlicher, daß der Mangel an Aufmerksamkeit und die Verwechslung der Farbennamen hieran die Schuld tragen.

    Augenfällig gibt sich dagegen die hauptsächlich gegen Ende des ersten Lebensjahres erfolgende Differenzierung der Gefühle und die damit zusammenhängende Entwicklung mannigfaltiger Affekte in den allmählich entstehenden charakteristischen Ausdrucksbewegungen kund. So treten zu der Unlust und der Freude nacheinander Erstaunen, Erwartung, Zorn, Scham, Neid u. a. hinzu. Auch hier beruht übrigens die Anlage zu den kombinierten Bewegungen, an denen sich die einzelnen Affekte zu erkennen geben, auf vererbten physiologischen Eigenschaften des Nervensystems, die jedoch meist erst im Laufe der ersten Lebensmonate in Funktion treten. Für eine solche Vererbung spricht zudem die Beobachtung Darwins, daß nicht selten besondere Eigentümlichkeiten der Ausdrucksbewegungen in bestimmten Familien vorkommen.

    3. Zur Entstehung räumlicher Vorstellungen bringt das Kind zwar in den vererbten Reflexverbindungen physische Anlagen zur Welt mit, die eine verhältnismäßig rasche Entwicklung dieser Vorstellungen ermöglichen. Aber gerade beim Menschen scheinen doch, im Unterschiede von vielen Tieren, die räumlichen Wahrnehmungen zunächst noch äußerst unvollkommen zu sein. Auf Hautreize folgen zwar Schmerzäußerungen, aber keine deutlichen Lokalisationssymptome. Erst allmählich entwickeln sich aus den schon in den ersten Lebenstagen zu bemerkenden ziellosen Bewegungen der Hände deutliche Greifbewegungen, die in der Regel dann von der 12. Woche an unter der Mitwirkung der Gesichtswahrnehmungen sicherer und zweckbewußter werden. Die meist schon nach den ersten Tagen zu beobachtende Richtung des Auges nach einer Lichtquelle ist, ebenso wie die allmählich eintretende Koordination der Augenbewegungen, als Reflex zu deuten. Doch entwickeln sich wahrscheinlich unmittelbar mit diesen Reflexen zugleich räumliche Vorstellungen, so daß sich wegen der Stetigkeit des Prozesses und seines Zusammenhangs mit den ursprünglichen physiologischen Funktionsanlagen nur eine fortwährende Ausbildung der Raumvorstellungen von sehr unvollkommenen Anfängen an beobachten läßt. Zugleich erscheint schon beim Kinde der Gesichtssinn entschieden als der dem Tastsinn vorauseilende Sinn, da Symptome der Gesichtslokalisation jedenfalls früher zu beobachten sind als solche der Tastlokalisation, und da sich die Greifbewegungen, wie oben bemerkt, erst unter der Mithilfe des Gesichtssinns entwickeln. Weit später als die in der Unterscheidung der Richtungen des Raumes sich kundgebende Entwicklung des Sehfeldes fällt die des binokularen Sehens. Die Anfänge dieses Prozesses hängen zwar jedenfalls mit der eintretenden Koordination der Augenbewegungen zusammen, gehören also wohl schon der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahrs an. Die Auffassung von Größen, Entfernungen und von verwickelteren körperlichen Formen bleibt aber noch lange sehr unvollkommen. Namentlich werden durchweg entfernte Objekte für nahe gehalten, daher sie dem Kinde verhältnismäßig klein erscheinen.

    4. Zugleich mit den räumlichen entwickeln sich die zeitlichen Vorstellungen. An den rhythmischen Bewegungen seiner Tastorgane und namentlich an der Neigung, gehörte Rhythmen mit taktmäßigen Bewegungen zu begleiten, verrät sich schon in den ersten Lebensmonaten die Fähigkeit der Bildung regelmäßiger zeitlicher Vorstellungen und das Wohlgefallen an solchen. Auch können manche Kinder, noch ehe sie sprechen, die Rhythmen gehörter Melodien in Lauten und Betonungen richtig wiedergeben. Dagegen bleiben die Vorstellungen größerer Zeiten bis über die ersten Lebensjahre hinaus äußerst unvollkommen, so daß das Kind nicht nur über die Dauer verschiedener Zeiten, sondern auch über die Zeitfolgen äußerst schwankende Urteile abgibt.

    5. Mit der Entwicklung der räumlichen und zeitlichen Vorstellungen geht die der Assoziationen und der einfacheren Apperzeptionsverbindungen Hand in Hand. Symptome des sinnlichen Wiedererkennung (§ 16, 15) sind von den ersten Lebenstagen an zu beobachten: so an der raschen Übung in dem Auffinden der Mutterbrust, an der sichtbaren Angewöhnung an die Gegenstände und Personen der Umgebung u. dgl. Aber noch während längerer Zeit erstrecken sich die Assoziationen nur über sehr kurze Zeitstrecken, zuerst nur über Stunden, dann über Tage; und noch im 2. und 3. Lebensjahre werden Personen nach der Abwesenheit von einigen Wochen entweder vollständig vergessen oder zunächst nur unvollkommen wiedererkannt.

    Entsprechend verhält sich die Aufmerksamkeit. Anfänglich vermag sie nur während ganz kurzer Zeit einen und denselben Gegenstand festzuhalten; und sichtlich funktioniert sie zugleich nur in der Form der passiven, stets dem vorwaltenden, namentlich gefühlsstärkeren Reize folgenden Apperzeption (§ 15, 8). Aber schon in den ersten Lebenswochen verrät sich in der Art, wie das Kind während längerer Zeit Objekte, besonders bewegte, fixiert und verfolgt, eine dauerndere Aufmerksamkeit; und gleichzeitig tritt die Fähigkeit hervor, zwischen verschiedenen Eindrücken willkürlich zu wechseln, also die erste Spur einer aktiven Aufmerksamkeit. Von nun an bildet sich dann diese Fähigkeit allmählich weiter aus, so jedoch, daß noch in dem späteren Kindesalter die Aufmerksamkeit viel schneller ermüdet als beim Erwachsenen und teils einen größeren Wechsel der Gegenstände, teils häufigere Ruhepausen verlangt.

    6. Mit der Entwicklung der Assoziationen und Apperzeptionen hält die des Selbstbewußtseins gleichen Schritt. Bei der Beurteilung dieser Entwicklung muß man freilich sich hüten, einzelne Symptome, wie die Unterscheidung der Teile des eigenen Leibes von Gegenständen der Umgebung, den Gebrauch des Wortes "Ich" oder gar die richtige Erkennung des eigenen Bildes im Spiegel u. ä., für Kennzeichen des Selbstbewußtseins anzusehen. Das Bild im Spiegel hält auch der erwachsene Wilde, wenn er es noch nie gesehen hat, für die Person eines andern. Der Gebrauch des persönlichen Pronomens beruht auf einer äußeren Aneignung, bei der das Kind dem Beispiel seiner Umgebung folgt. Diese Aneignung tritt bei sonst gleicher geistiger Entwicklung bei verschiedenen Kindern zu sehr verschiedener Zeit ein; und jedenfalls ist sie das Symptom eines bereits vorhandenen Selbstbewußtseins, dessen erste Entstehung demnach dieser sprachlichen Unterscheidung bald kürzere, bald längere Zeit vorausgehen kann. Nur ein solches Symptom ist endlich auch die Unterscheidung des eigenen Leibes und seiner Teile von andern Gegenständen. Die Erkennung des ersteren ist zwar ein Vorgang, der im allgemeinen der richtigen Beurteilung des Bildes im Spiegel vorangeht, der aber doch ebensowenig wie diese ein Kriterium des beginnenden Selbstbewußtseins ist, sondern vielmehr die Existenz eines gewissen Grades desselben voraussetzt. Wie noch dem entwickelten Selbstbewußtsein eine Mehrheit von Bedingungen zugrunde liegt (§ 15, 10 f.), so ist auch das des Kindes von Anfang an ein Produkt mehrerer Komponenten, die zur einen Hälfte den Vorstellungen, zur andern dem Fühlen und Wollen angehören. In der ersteren Beziehung ist es namentlich die Aussonderung einer konstanten Vorstellungsgruppe, in der letzteren die Ausbildung zusammenhängender Aufmerksamkeitsvorgänge und Willenshandlangen, die als solche Komponenten anzusehen sind. Dabei kann aber die konstante Vorstellungsgruppe ebensogut gelegentlich einen Teil des eigenen Leibes, z. B. die Beine, falls dieselben gewöhnlich zugedeckt sind, nicht umfassen, wie sie noch häufiger äußere Gegenstände, z. B. die gewöhnlich getragenen Kleider, mitenthalten kann. Von größerem Einfluß sind darum die subjektiven Komponenten der Gefühle und des Wollens und die Beziehungen, in die jene Vorstellungsbestandteile zu ihnen bei den äußeren Willenshandlungen treten. Dieser Einfluß der subjektiven Komponenten gibt sich auch darin zu erkennen, daß starke Gefühle, besonders Schmerzgefühle, sehr oft in der individuellen Erinnerung den Zeitpunkt bezeichnen, bis zu welchem ein zusammenhängendes Selbstbewußtsein zurückreicht. Aber da zweifellos schon vor diesem ersten Moment deutlich bewußter Erinnerung, der in der Regel dem 3. bis 6. Lebensjahre angehört, ein wenn auch minder zusammenhängendes Selbstbewußtsein existiert, und da die objektive Beobachtung des Kindes anfänglich keine unzweifelhaften Kriterien an die Hand gibt, so läßt sich ein bestimmter Zeitwert für den Anfang desselben nicht festsetzen. Wahrscheinlich gehören die ersten Spuren schon den frühesten Lebenswochen an, worauf es dann unter dem fortwirkenden Einfluß der erwähnten Bedingungen stetig an Klarheit und, wie das Bewußtsein überhaupt, an zeitlicher Ausdehnung zunimmt.

    7. Mit der Entwicklung des Selbstbewußtseins hängt die des Willens nahe zusammen. Sie läßt sich teils aus der schon oben geschilderten Entwicklung der Aufmerksamkeit, teils aus der Entstehung und allmählichen Vervollkommnung der äußeren Willenshandlungen erschließen. Die unmittelbare Beziehung der Aufmerksamkeit zum Willen tritt hierbei darin hervor, daß deutliche Symptome aktiver Aufmerksamkeit und willkürlichen Handelns auch in der Zeit ihres Auftretens zusammenfallen. Während sehr viele Tiere unmittelbar nach der Geburt schon ziemlich vollkommene Triebbewegungen ausführen, die unter der Mithilfe vererbter zusammengesetzter Reflexapparate zustande kommen, zeigt das neugeborene Kind noch keine Spur derselben. Doch treten schon in den ersten Lebenstagen infolge der von den Hungerempfindungen ausgehenden Reflexe und der mit der Stillung des Hungers verbundenen Sinneswahrnehmungen in dem augenscheinlichen Suchen nach der Nahrungsquelle die ersten Anfänge einfacher triebartiger Willenshandlungen auf. Mit dem deutlicheren Erwachen der Aufmerksamkeit erscheinen zunächst die an Eindrücke des Gesichts- und Gehörssinns gebundenen Willensbewegungen: das Kind verfolgt gesehene Gegenstände mit Absicht, nicht bloß reflektorisch, oder wendet den Kopf gehörten Geräuschen zu. Viel später folgen die äußeren Skelettmuskeln nach. Diese, namentlich die Muskeln der Arme und Beine, zeigen von Anfang an lebhafte, meistens oft wiederholte Bewegungen, welche alle möglichen Gefühle und Affekte begleiten und mit der Differenzierung der letzteren allmählich gewisse, für die Qualitäten derselben charakteristische Unterschiede zeigen, deren hauptsächlichster darin besteht, daß sich die Lustaffekte in rhythmischen, die Unlustaffekte in arrhythmischen und in der Regel heftigeren Bewegungen äußern. Diese Ausdrucksbewegungen, die als Reflexe mit begleitenden Gefühlen gedeutet werden müssen, gehen dann gelegentlich, sobald die Aufmerksamkeit auf die Umgebung rege geworden ist, in gewollte Ausdrucksbewegungen über, bei denen das Kind durch verschiedene begleitende Symptome verrät, daß es nicht bloß Schmerz, Verdruß, Ärger u. dgl. fühlt, sondern daß es diese Affekte auch nach außen kundgeben will. Die ersten Bewegungen aber, bei denen zweifellos ein der Bewegung vorausgehendes Motiv zu erkennen ist, sind die von der 12. bis 14. Woche an auftretenden Greifbewegungen, an denen sich namentlich anfänglich neben den Händen die Füße beteiligen, und die, ebenso wie sie zu den ersten deutlichen Symptomen von Sinneswahrnehmungen gehören, so auch zum ersten Male die Existenz eines aus Motiv, Entscheidung und Handlung zusammengesetzten einfachen Willensvorgangs verraten. Etwas später sind absichtliche Nachahmungsbewegungen zu beobachten, unter denen die einfachsten mimischen Nachahmungen, wie Zuspitzen des Mundes, Stirnrunzeln, den pantomimischen, wie dem Ballen der Faust, den Taktbewegungen u. dgl., vorausgehen. Ganz allmählich, in der Regel erst vom Beginn der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahrs an, entwickeln sich aus diesen einfachen zusammengesetzte Willenshandlungen, indem deutlich entweder ein der Handlung vorausgehendes Schwanken des Entschlusses oder auch eine willkürliche Unterdrückung einer beabsichtigten oder schon begonnenen Handlung beobachtet wird.

    Bei dieser Entwicklung der eigentlichen Willenshandlungen spielt das Gehenlernen des Kindes, das im letzten Dritteil des ersten Lebensjahrs zu beginnen pflegt, eine große Rolle, da das Gehen nach bestimmten Zielen besonders häufig den Anlaß zur Entstehung einer Mehrheit miteinander streitender Motive bildet. Das Gehenlernen selbst ist aber als ein Vorgang aufzufassen, bei dem die Entwicklung des Willens und die Wirksamkeit vererbter Anlagen zu bestimmten kombinierten Bewegungen fortwährend ineinander eingreifen. Dabei geht der erste Impuls zur Bewegung von Willensmotiven aus, die zweckmäßigste Art der Ausführung ist aber zunächst eine Wirkung der zentralen Koordinationsmechanismen, und diese gestalten sich endlich wieder infolge der unter der Leitung des Willens stattfindenden individuellen Übungen fortwährend zweckmäßiger.

    8. Die Sprache des Kindes schließt sich in ihrer Entwicklung den übrigen Willenshandlungen an. Auch sie beruht auf einem Zusammenwirken vererbter, in den Zentralorganen des Nervensystems begründeter Anlagen und äußerer, insbesondere von der redenden Umgebung herrührender Einflüsse. In dieser Beziehung entspricht die Entwicklung der Sprache durchaus derjenigen der übrigen Ausdrucksbewegungen, zu denen sie nach ihrem allgemeinen psychologischen Charakter gehört. Die frühesten artikulierten Lautbildungen der Sprachorgane treten als reflexartige Erscheinungen, namentlich in Begleitung angenehmer Gefühle und Affekte, schon im Laufe des 2. Lebensmonats auf; sie nehmen in der folgenden Zeit an Mannigfaltigkeit zu, auch zeigt sich immer mehr die Neigung zu Lautwiederholungen (wie ba-ba-ba, da-da-da-da u. dgl.). Diese Ausdruckslaute unterscheiden sich nur durch ihre größere und immer wechselnde Mannigfaltigkeit von den Ausdruckslauten zahlreicher Tiere. Sie haben, da sie bei allen möglichen Gelegenheiten und ohne jede Absicht der Mitteilung hervorgebracht werden, noch durchaus nicht die Bedeutung von Sprachlauten. In diese gehen sie allmählich, in der Regel vom Anfang des 2. Lebensjahrs an, durch den Einfluß der Umgebung über. Die hauptsächlichste Wirkung üben hierbei die Nachahmungsbewegungen aus, die speziell als Schallnachahmungen eine doppelte Richtung zeigen, indem nicht nur das Kind den Erwachsenen, sondern auch dieser das Kind. nachahmt. In der Regel ist sogar zuerst der Erwachsene der Nachahmende: er wiederholt die unwillkürlichen Artikulationslaute des Kindes, während er ihnen zugleich eine bestimmte Bedeutung beilegt, wie z. B. "Pa-pa" für Vater, "Ma-ma" für Mutter, "da" für alle möglichen Wörter von hinweisender Bedeutung (hier, dieser, nimm u. dgl.). Erst später, und nachdem es durch absichtliche Nachahmung solche Laute in bestimmter Bedeutung hat gebrauchen lernen, ahmt das Kind selbst beliebige Wörter aus der Sprache der Umgebung nach, assimiliert sie aber dem Lautbestand seiner eigenen Artikulationsbewegungen.

    Als ein wichtiges Hilfemittel, durch das der Erwachsene mehr instinktiv als willkürlich das Verständnis des Kindes für die von ihm gebrauchten Wörter fördert, dient dabei die Gebärde, meist in der Form der auf den Gegenstand hinweisenden, seltener, gewöhnlich nur bei Wörtern, die Tätigkeiten, wie schlagen, schneiden, gehen, schlafen u. dgl., bedeuten, als darstellende Gebärde. Für die Gebärde hat das Kind ein natürliches Verständnis, für das Wort nicht. Selbst die Onomatopoetika der Kindersprache (wau-wau für Hund, hott-hott für Pferd u. a.) werden ihm stets erst durch mehrfaches Hinweisen auf den Gegenstand verständlich. Auch ist nicht das Kind selbst der Schöpfer dieser Onomatopoetika, sondern der Erwachsene, der auch in dieser Beziehung instinktiv der Bewußtseinsstufe des Kindes sich anzupassen sucht.

    Nach allem dem beruht die Entwicklung der Sprache auf einer Reihe von Assoziationen und Apperzeptionen, an deren Bildung das Kind und dessen sprechende Umgebung gleichmäßig beteiligt sind. Mit gewissen, den natürlichen Ausdruckslauten des Kindes entnommenen oder nach dem Vorbild derselben frei erfundenen onomatopoetischen Wortbildungen bezeichnet die Mutter oder Amme willkürlich bestimmte Vorstellungen. Das Kind apperzipiert diese ihm durch Gebärden verständlich gemachte Verbindung von Wort und Vorstellung und assoziiert sie mit den imitativ erzeugten eigenen Artikulationsbewegungen. Nach dem Vorbild dieser ersten Apperzeptionen und Assoziationen führt dann das Kind andere aus, indem es mehr und mehr aus eigenem Antrieb zufällig gehörte Wörter und Wortverbindungen aus der Sprache der Umgebung nachahmt und die zugehörigen Bedeutungsassoziationen bildet. Der ganze Prozeß der Sprachentwicklung beruht demnach auf einer psychischen Wechselwirkung zwischen dem Kind und seiner redenden Umgebung, bei welcher im Anfang jenem ausschließlich die Lautbildung, dieser die sprachliche Verwendung der kindlichen Laute zufällt.

    9. Aus der Gesamtheit der erörterten einfacheren Entwicklungen gehen die zusammengesetzten Funktionen der Apperzeption, die beziehende und vergleichende Tätigkeit mit den aus ihnen bestehenden Phantasie- und Verstandesfunktionen hervor (§ 17).

    Zunächst vollziehen sich die Apperzeptionsverbindungen ausschließlich in der Form der Phantasie, d. h. als ein Verbinden, Zerlegen und Beziehen konkreter sinnlicher Vorstellungen. Die individuelle Entwicklung bestätigt also das oben im allgemeinen über das genetische Verhältnis dieser Funktionen Bemerkte (§ 17 ff.). Auf der Grundlage der mehr und mehr sich ausbildenden Assoziationen unmittelbarer Eindrücke mit früheren Vorstellungen entsteht in dem Kinde, sobald die aktive Aufmerksamkeit erwacht ist, die Neigung, willkürlich solche Verbindungen zu bilden, bei denen dann zugleich die Mannigfaltigkeit der zu dem Eindruck hinzugefügten Erinnerungsbestandteile ein Maß für den Grad der individuellen Phantasiebegabung abgibt. Diese kombinierende Phantasietätigkeit äußert sich, sobald sie einmal erwacht ist, mit einer triebartigen Macht, der das Kind um so weniger zu widerstehen vermag, weil noch nicht, wie beim Erwachsenen, die Verstandesfunktionen und die durch sie gesetzten intellektuellen Zwecke regulierend und hemmend auf das freie Schweifen der Einbildungsvorstellungen einwirken.

    Indem sich diese ungehemmte Beziehung und Verknüpfung der Phantasiebilder mit Willensantrieben verbindet, die den Vorstellungen gewisse, wenn auch noch so dürftige Anhaltspunkte in der unmittelbaren Sinneswahrnehmung zu schaffen suchen, entsteht der Spieltrieb des Kindes. Das ursprüngliche Spiel des Kindes ist ganz und gar Phantasiespiel, während umgekehrt das des Erwachsenen (Kartenspiel, Schachspiel, Lotteriespiel u. dgl.) fast ebenso einseitig Verstandesspiel ist. Nur wo das ästhetische Bedürfnis einwirkt, ist auch noch hier das Spiel in erster Linie ein Erzeugnis der Phantasie (Schauspiel, Kartenspiel u. dgl.), aber nicht mehr, wie ursprünglich beim Kind, einer völlig ungebundenen, sondern einer durch den Verstand geregelten Phantasie. Das Spiel des Kindes in den verschiedenen Zeiten seiner Entwicklung zeigt, wenn es seiner Natur gemäß geübt und gelenkt wird, alle Übergänge von jenem reinen Phantasiespiel zu dieser Verbindung von Phantasie- und Verstandesspiel. In den ersten Lebensmonaten beginnt es als Erzeugung rhythmischer Bewegungen der eigenen Glieder, der Arme und Beine, die dann auch auf größere Gegenstände, mit Vorliebe namentlich auf schallerregende oder auf lebhaft gefärbte, übertragen werden. In ihrem Ursprung sind diese Bewegungen offenbar Triebäußerungen, die durch bestimmte Empfindungsreize ausgelöst werden, und deren zweckmäßige Koordination auf vererbten Anlagen des zentralen Nervensystems beruht. Die rhythmische Ordnung der Bewegungen sowie der von ihnen hervorgerufenen Gefühls- und Schalleindrücke erzeugt dann aber sichtlich Lustgefühle, die sehr bald die willkürliche Wiederholung solcher Bewegungen veranlassen. Hierauf geht das Spiel in den ersten Lebensjahren allmählich in die willkürliche Nachbildung von Beschäftigungen und Szenen der Umgebung über. Dieses Nachahmungsspiel zieht endlich weitere Kreise, indem es nicht mehr auf die Nachbildung des Gesehenen beschränkt bleibt, sondern zur freien Nacherzeugung des in Erzählungen Gehörten wird. Gleichzeitig beginnt der Zusammenhang der Vorstellungen und Handlungen sich einem festeren Plane zu fügen: damit tritt bereits die regulierende Verstandestätigkeit ein, die bei den Spielen des späteren Kindesalters in der Feststellung bestimmter Spielregeln ihren Ausdruck findet. Mögen auch diese Übergänge durch die Einflüsse der Umgebung und durch die künstlichen Spielformen, die, zumeist Erfindungen Erwachsener, sich nicht immer der kindlichen Phantasie zureichend anpassen, beschleunigt werden, so ist doch diese Entwicklung durch ihre Übereinstimmung mit der gesamten Ausbildung der intellektuellen Funktionen als eine natürliche, in dem wechselseitigen Zusammenhang der assoziativen und apperzeptiven Prozesse begründete zu erkennen. Zugleich macht es die Art, wie hierbei die allmähliche Beschränkung der Phantasievorgänge mit der Zunahme der Verstandesfunktionen zusammengeht, wahrscheinlich, daß jene Beschränkung überhaupt ursprünglich nicht sowohl auf einer quantitativen Abnahme der Phantasiebegabung, als vielmehr auf einer Hemmung durch das begriffsmäßige Denken beruht, worauf dann freilich durch die vorwaltende Übung des letzteren schließlich die Phantasietätigkeit ihrerseits durch Mangel an Übung beeinträchtigt werden kann. Dies scheint durch das Verhalten des Naturmenschen bestätigt zu werden, der zeitlebens einen dem kindlichen verwandten phantastischen Spieltrieb zu betätigen pflegt.

    10. Aus der ursprünglichen phantasiemäßigen Form des Denkens entwickeln sich nun sehr allmählich die Verstandesfunktionen, indem in der früher (§ 17, 16 f.) angegebenen Weise die in der Wahrnehmung gegebenen oder durch kombinierende Phantasietätigkeit gebildeten Gesamtvorstellungen in ihre begrifflichen Bestandteile, wie Gegenstände und Eigenschaften, Gegenstände und Handlungen, Verhältnisse verschiedener Gegenstände zueinander, gegliedert werden. Das entscheidende Symptom für die Entstehung der Verstandesfunktionen ist daher die Bildung von Begriffen. Handlungen, die von seiten des Beobachters mittels einer logischen Reflexion erklärt werden können, beweisen dagegen durchaus nicht die Existenz einer solchen, da sie, gerade so wie bei den Tieren, sehr häufig offenbar aus Assoziationen abzuleiten sind. Aus demselben Grunde kann die Sprache ohne ein eigentlich begriffsmäßiges Denken in ihren ersten Anfängen vorhanden sein, indem ursprünglich das Wort nur einen konkreten sinnlichen Eindruck bezeichnet. Wohl aber ist ein vollkommener Gebrauch der Sprache nicht möglich, ohne daß begriffsmäßige, wenn auch noch durchaus konkret sinnliche Zerlegungen, Beziehungen und Übertragungen der Vorstellungen stattfinden. Demgemäß fällt denn auch schließlich die Entwicklung der Verstandesfunktionen mit der der Sprache zusammen, und diese ist dabei zugleich ein unentbehrliches Hilfsmittel für die Festhaltung der Begriffe und für die Fixierung der Denkoperationen.

    10 a. Die Psychologie des Kindes leidet, wie die der Tiere, häufig an dem Fehler, daß die Beobachtungen nicht objektiv interpretiert, sondern durch subjektive Reflexionen ergänzt werden. Infolgedessen werden dann nicht bloß die frühesten, tatsächlich rein assoziativ entstandenen Vorstellungsverbindungen als Akte einer logischen Reflexion gedeutet, sondern es werden auch die ursprünglichen mimischen Ausdrucksbewegungen, wie z. B. die des Neugeborenen auf Geschmacksreize, für Gefühlsreaktionen angesehen, obgleich sie sichtlich zunächst nur die Bedeutung angeborener Reflexe besitzen, bei denen zwar eine dunkle Gefühlsbegleitung möglich, aber nicht sicher nachzuweisen ist. An dem ähnlichen Mangel leidet die gewöhnliche Auffassung der Entwicklung der Willenshandlungen und der Sprache. Insbesondere die Kindersprache ist man meist geneigt, wegen ihrer besonderen Eigentümlichkeiten für eine Schöpfung des Kindes selbst zu halten, während doch die genauere Beobachtung zeigt, daß sie zum größten Teil eine Schöpfung der Umgebung ist, bei der nur diese dem Lautvorrat und, so gut es geht, auch dem Bewußtseinszustand des Kindes sich anpaßt. Einige zum Teil sehr eingehende und dankenswerte Schilderungen der seelischen Entwicklung des Kindes in der neueren Literatur können deshalb, da sie überall auf dem Standpunkt dieser reflexionsmäßigen Vulgärpsychologie stehen, nur in bezug auf den objektiven Tatbestand als Quellen dienen, während die daraus gezogenen psychologischen Schlußfolgerungen durchweg einer Korrektur in dem oben angedeuteten Sinne bedürfen. Dagegen lassen sich die mehrfach unternommenen Versuche auch in die Psychologie des Kindes die experimentelle Methode einzuführen, mit einigem Erfolg nur auf einer etwas fortgeschrittenen Lebensstufe, z. B. bei Schulkindern, durchführen. Sie haben hier zum Teil pädagogisch wichtige Resultate über Verlauf und Dauer der Aufmerksamkeitsspannung, Verhältnis zwischen körperlicher und geistiger Ermüdung usw. geliefert. Auf das frühere Kindesalter ist aber die experimentelle Methode so gut wie unanwendbar, und die Ergebnisse der gleichwohl unternommenen Versuche dieser Art sind wegen des ungeheuern Übergewichts der Fehlerquellen wohl als reine Zufallsresultate zu betrachten. Aus diesen Gründen ist auch die zuweilen ausgesprochene Meinung, das Seelenleben des erwachsenen Menschen könne erst auf Grund einer Analyse der Kindesseele begriffen werden, irrig. Gerade das Gegenteil trifft zu. Da uns bei der psychologischen Untersuchung des Kindes, ebenso wie bei der des Naturmenschen, im allgemeinen nur objektive Symptome zu Gebote stehen, so ist eine psychologische Beurteilung dieser Symptome immer nur auf Grund der durch experimentelle Hilfsmittel unterstützten Selbstbeobachtung des reifen Bewußtseins möglich, und erst die so psychologisch analysierten Ergebnisse der Beobachtung des Kindes und des Naturmenschen gestatten dann wiederum Rückschlüsse auf die geistige Entwicklung überhaupt.

    Literatur. Kußmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des neugeborenen Menschen, 1859. Preyer, Die Seele des Kindes, 1882, 16. Aufl. 1905. Sully, Untersuchungen über die Kindheit, 1892. Compayre, Die Entwicklung der Kindesseele, 1900. Egger, Développement de l'intelligence et du langage chez les enfants, 1879. Groos, Das Seelenleben des Kindes, 1904. Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen, 1872. Ament, Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde, 1899. E. Meumann, Die Sprache des Kindes, 1903. 2. Aufl. 1908. Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik, 2. Aufl., Bd. l, 2; 1911–13. Groos, Spiele des Menschen, 1899. Clara und W. Stern, Die Kindersprache, 1907. Wundt, Völkerpsychologie3, I, Kap. 3, II u. Kap. 7, IV, 6 (Sprache des Kindes). M. u. T. Vorl. 27. Rauschburg, Psychologische Studien (ungar.) 2 Bde. 1913–14. Außerdem Aufsätze in der Zeitschrift für Pädagog. Psychol. u. exp. Pädagogik von Meumann u. Scheibner, dem Archiv für Pädagogik von Brahn u. Döring, den Pädagogisch-psychol. Arbeiten von M. Brahn und den Wissenschaftl. Beiträgen zur Pädagogik von G. Deuchler u. D. Katz.