§ 18. Psychische Zustände.

    1. Der normale Zustand des Bewußtseins, der den Betrachtungen der vorangegangenen §§ zugrunde gelegt wurde, kann in so mannigfaltiger Weise Veränderungen erfahren, daß die allgemeine Psychologie um so mehr darauf verzichten muß, diese Veränderungen eingehender zu schildern, als die wichtigeren derselben, diejenigen nämlich, die bei den verschiedenen Nerven-, Gehirn- und Geisteskrankheiten zu beobachten sind, besonderen, an die Psychologie angrenzenden oder teilweise auf sie sich stützenden Gebieten der Pathologie zugehören. Hier kann es sich daher nur darum handeln, auf die hauptsächlichsten psychologischen Bedingungen solcher Zustände hinzuweisen. Dieser Bedingungen lassen sich im allgemeinen drei unterscheiden. Sie können bestehen: l) in der abweichenden Beschaffenheit der psychischen Elemente, 2) in der Art der Zusammensetzung der psychischen Gebilde, und 3) in der Verbindungsweise der Gebilde. Bei dem engen Zusammenhang dieser verschiedenen Faktoren ist in der Regel keine dieser drei Bedingungen für sich allein wirksam, sondern sie pflegen sich zu verbinden, indem namentlich die abweichende Beschaffenheit der Elemente auch eine solche der Gebilde, und die letztere hinwiederum Veränderungen in dem allgemeinen Zusammenhang der Bewußtseinsvorgänge herbeiführt.

    2. Die psychischen Elemente, die Empfindungen und einfachen Gefühle, zeigen stets nur in dem Sinne Veränderungen, daß das normale Verhältnis zwischen ihnen und ihren physiologischen Bedingungen irgendwie gestört ist. Bei den Empfindungen lassen sich solche Veränderungen auf ein Ab- und Zunehmen der Erregbarkeit gegenüber den Sinnesreizen (Anästhesie und Hyperästhesie) zurückführen, wie sie namentlich in den Sinneszentren infolge verschiedener physiologischer Einflüsse vorkommen. Als psychologisches Symptom ist hierbei vorzugsweise die erhöhte Erregbarkeit von Bedeutung, da sie einer der häufigsten Bestandteile zusammengesetzter psychischer Störungen ist. Ähnlich verraten sich Veränderungen der einfachen Gefühle als Ab- und Zunahme der Gefühlserregbarkeit in den Depressions- oder Exaltationszuständen, die sich in der Art des Verlaufs der Affekte und Willensvorgänge zu erkennen geben. Auf diese Weise werden die Veränderungen der psychischen Elemente überhaupt erst durch den Einfluß, den sie auf die Beschaffenheit der verschiedenen psychischen Gebilde ausüben, nachweisbar.

    3. Unter den Veränderungen der Vorstellungsgebilde besitzen die auf peripherer oder zentraler Anästhesie beruhenden Vorstellungsdefekte im allgemeinen eine beschränkte Bedeutung; sie üben auf den Zusammenhang der psychischen Vorgänge keine tieferen Wirkungen aus. Wesentlich anders verhält sich dies mit der durch zentrale Hyperästhesie hervorgerufenen relativen Steigerung der Empfindung. Ihre Wirkung ist namentlich deshalb eine sehr eingreifende, weil durch sie reproduktive Empfindungselemente die Stärke äußerer Sinneseindrücke erreichen können. Infolgedessen kann es geschehen, daß entweder reine Erinnerungsbilder als Wahrnehmungen objektiviert werden: Halluzinationen; oder daß, wenn direkt erregte und reproduktive Elemente sich verbinden, durch die Intensität der letzteren der Sinneseindruck wesentlich verändert erscheint: phantastische Illusionen1). Praktisch sind beide nur insofern zu unterscheiden, als sich in sehr vielen Fällen bestimmte Vorstellungen als phantastische Illusionen nachweisen lassen, während das Vorhandensein einer reinen Halluzination fast immer zweifelhaft bleibt, da irgendwelche direkte Empfindungselemente sehr leicht übersehen werden können. In der Tat ist es nicht unwahrscheinlich, daß weitaus die meisten sogenannten Halluzinationen Illusionen sind. Diese aber gehören ihrer psychologischen Natur nach durchaus zu den Assimilationen (§ 16, Bff.). Sie können geradezu als Assimilationen mit starkem Übergewicht der reproduktiven Elemente definiert werden. Wie die normalen Assimilationen mit den sukzessiven Assoziationen in Zusammenhang stehen, so sind daher auch die phantastischen Illusionen mit den unten (5) zu besprechenden Veränderungen des assoziativen Vorstellungsverlaufs auf das engste verknüpft.

1) Den Ausdruck "phantastische Illusionen" wählt man, wenn diese Art Illusionen von den bei normalem Bewußtseinszustand vorkommenden Sinnestäuschungen, wie z. B. der Strahlenfigur der Sterne infolge der Lichtzerstreuung in der Kristallinse, der verschiedenen scheinbaren Größe von Sonne und Mond am Horizont und Zenit usw., unterschieden werden soll.
 
 
    4. Bei den zusammengesetzten Gefühls- und Willensvorgängen scheiden sich die Abweichungen von dem normalen Verhalten deutlich in Depressions- und Exaltationszustände. Jene bestehen in dem Vorwalten der hemmenden, asthenischen, diese in einem solchen der erregenden, sthenischen Affekte, während dort zugleich Verzögerung oder völlige Hemmung der Willensentschlüsse, hier übermäßig rasche, triebartige Wirksamkeit der Motive zu beobachten ist. Da schon das normale Seelenleben einen fortwährenden Wechsel der Gemütsbewegungen darbietet, so ist es bei diesen im allgemeinen schwerer, die Grenze zwischen normalem und abnormem Verhalten zu bestimmen, als bei den Vorstellungsgebilden. Ebenso erscheint der in pathologischen Fällen häufig sehr auffallende Wechsel zwischen Depressions- und Exaltationszuständen nur als eine Steigerung des normalen Schwankens der Gefühle und Affekte um eine Indifferenzlage (§ 7, § 13ff.). Diese Depressions- und Exaltationszustände bilden besonders charakteristische Symptome allgemeiner psychischer Störungen, weshalb auch ihre nähere Schilderung der psychischen Pathologie überlassen werden muß. Da die psychischen Allgemeinerkrankungen stets zugleich Symptome von Gehirnerkrankungen sind, so sind übrigens zweifellos diese Abweichungen der Gefühls- und Willensvorgänge, ähnlich wie diejenigen der Empfindungen und Vorstellungen, von physiologischen Veränderungen begleitet. Die Natur derselben ist uns aber noch unbekannt; man kann nur vermuten, daß sie, gemäß der zusammengesetzteren Beschaffenheit der Gemütsbewegungen, entweder einen ausgedehnteren Sitz haben als die zentralen Erregbarkeitsänderungen bei den Halluzinationen und Illusionen, oder daß sie sich auf zentralere, direkter an den Apperzeptionsprozessen beteiligte Gehirngebiete erstrecken.

    5. Mit den sensoriellen Erregbarkeitsänderungen, den Depressions- und Exaltationszuständen, verbinden sich in der Regel zugleich Veränderungen in dem Zusammenhang und Verlauf der psychischen Vorgänge, die wir, gemäß dem für diesen Zusammenhang gebildeten Begriff des Bewußtseins (§ 15), als abnorme Veränderungen des Bewußtseins bezeichnen. Solange sich die Abweichung von der Norm auf die einzelnen psychischen Gebilde, die Vorstellungen, Affekte, Willensvorgänge, beschränkt, ist zwar selbstverständlich durch die Veränderungen dieser seiner Bestandteile auch das Bewußtsein verändert. Aber von einer Abnormität des Bewußtseins als solcher reden wir doch immer erst dann, wenn nicht bloß die einzelnen psychischen Gebilde, sondern auch ihre Verbindungen irgendwelche erheblichere Abweichungen darbieten. Diese stellen sich freilich, sobald jene elementareren Störungen tiefere sind, immer ein, da ja die Verbindungen der Elemente zu Gebilden und der Gebilde untereinander Vorgänge sind, die kontinuierlich ineinander übergehen. Entsprechend den verschiedenen Verbindungsprozessen, die den Zusammenhang des Bewußtseins ausmachen (§ 15, 12a), lassen sich hiernach im allgemeinen drei Arten von Abnormitäten des Bewußtseins unterscheiden: l) Assoziationsänderungen, 2) Veränderungen der Apperzeptionsverbindungen, 3) Veränderungen in dem Verhältnis beider Verbindungsformen zueinander.

    6. Assoziationsänderungen entstehen zunächst als unmittelbare Folgen der elementaren Störungen. Indem die sensorielle Erregbarkeitssteigerung die normalen Assimilationen in phantastische Illusionen umwandelt, werden zugleich die assoziativen Wiedererkennungsvorgänge (§ 16, 15) wesentlich alteriert: bald kann das Bekannte als ein Unbekanntes, bald das Unbekannte als ein Bekanntes erscheinen, je nachdem die reproduktiven Elemente auf bestimmte frühere Vorstellungen zurückgreifen oder weit voneinander entfernten Wahrnehmungsvorgängen entlehnt sind. Ferner wirkt die gesteigerte sensorielle Erregbarkeit auf eine Beschleunigung der Assoziationen hin, infolge deren wieder die äußerlichsten, durch zufällige Eindrücke oder Gewohnheitsübung nächstliegenden vorherrschen. Die Depressions- und Exaltationszustände dagegen werden vorzugsweise für die Qualität und Richtung der Assoziationen bestimmend.

    Ähnlich wirken die elementaren Vorstellungs- und Gefühlsänderungen auf die Apperzeptionsverbindungen teils hemmend oder beschleunigend, teils richtunggebend ein. Zugleich führen jedoch alle erheblicheren Abweichungen der Vorstellungs- und Gefühlsprozesse hier die weitere Folge mit sich, daß die an die Aufmerksamkeit gebundenen Vorgänge mehr oder minder erschwert werden, so daß in vielen Fällen nur noch einfachere Apperzeptionsverbindungen, ja manchmal überhaupt nur noch solche möglich sind, die sich durch Übung- zu Assoziationen verdichtet haben. Hiermit hängen schließlich auch die Veränderungen zusammen, die in dem Verhältnis der Apperzeptionsverbindungen zu den Assoziationen eintreten. Indem nämlich die bisher erörterten Einflüsse im allgemeinen fördernd auf die Assoziationen, dagegen hemmend auf die Apperzeptionen einwirken, entsteht als häufigstes Symptomenbild irgend tiefer greifender psychischer Störungen ein starkes Übergewicht der Assoziationen. Am deutlichsten tritt dies dann hervor, wenn, wie bei vielen Geisteskrankheiten, die Bewußtseinsstörung ein stetig zunehmender Prozeß ist. Hier beobachtet man dann, daß die Funktionen der Apperzeption, die sogenannten Phantasie- und Verstandestätigkeiten, immer mehr von Assoziationen überwuchert werden, bis diese endlich allein übrigbleiben. Erst bei noch weiter fortschreitender Störung werden allmählich auch die Assoziationen beschränkt und ziehen sich auf gewisse vorzugsweise eingeübte Verbindungen (fixe Ideen) zurück, ein Zustand, der endlich in vollständige geistige Paralyse übergeht.

    7. Abgesehen von den eigentlichen Geisteskrankheiten finden sich nun die soeben erörterten Abweichungen des Bewußtseins vorzugsweise noch in zwei in die Breite des normalen Lebens fallenden Zuständen: im Traum und in der Hypnose.

    Die Vorstellungen des Traumes gehen jedenfalls zum größten Teil von Sinnesreizen, namentlich auch von solchen des allgemeinen Sinnes aus, und sie sind daher zumeist phantastische Illusionen, wahrscheinlich nur zum kleineren Teil reine, zu Halluzinationen gesteigerte Erinnerungsvorstellungen. Auffallend ist außerdem das Zurücktreten der Apperzeptionsverbindungen gegenüber den Assoziationen, womit die oft vorkommenden Veränderungen und Vertauschungen des Selbstbewußtseins, die Verwirrungen des Urteils u. dgl. zusammenhängen. Das Unterscheidende des Traumes von andern, ähnlichen psychischen Zuständen liegt übrigens weniger in diesen positiven Eigenschaften, als in der Beschränkung der Erregbarkeitserhöhung auf die sensorischen Funktionen, während die äußeren Willenstätigkeiten beim gewöhnlichen Schlaf und Traum vollständig gehemmt sind. Verbinden sich die phantastischen Traumvorstellungen zugleich mit Willenshandlungen, so entstehen die im ganzen seltenen, bereits gewissen Formen der Hypnose verwandten Erscheinungen des Schlafwandelns. Am häufigsten kommen solche motorische Begleiterscheinungen beschränkt auf die Sprachbewegungen, als Sprechen im Traume, vor.

    8. Als Hypnose bezeichnet man gewisse dem Schlaf und Traum verwandte Zustände, die durch bestimmte psychische Einwirkungen hervorgerufen werden, und in denen das Bewußtsein im allgemeinen ein zwischen Wachen und Schlaf in der Mitte stehendes Verhalten darbietet. Die hauptsächlichste Entstehungsursache der Hypnose ist die Suggestion, d. h. die Mitteilung einer gefühlsstarken Vorstellung, welche in der Regel von einer fremden Persönlichkeit in Form eines Befehls geschieht (Fremdsuggestion), zuweilen aber auch von dem Hypnotisierten selbst hervorgebracht werden kann (Autosuggestion). Der Befehl oder Vorsatz, zu schlafen, bestimmte Bewegungen auszuführen, nicht vorhandene Gegenstände wahrzunehmen oder vorhandene nicht wahrzunehmen u. dgl., sind die häufigsten derartigen Suggestionen. Gleichförmige Sinnesreize, namentlich Tastreize, wirken unterstützend. Außerdem ist der Eintritt der Hypnose an eine bestimmte, in ihrer Natur noch unbekannte Disposition des Nervensystems gebunden, die durch wiederholtes Hypnotisieren bedeutend gesteigert wird.

    Das nächste Symptom der Hypnose besteht in einer mehr oder minder vollständigen Hemmung von äußeren Willenshandlungen, welche zugleich mit einer einseitigen Richtung der Aufmerksamkeit, meist auf die vom Hypnotisator gegebenen Befehle, verbunden ist (Befehlsautomatie). Der Hypnotisierte schläft nicht nur auf Befehl, sondern behält auch in diesem Zustande jede noch so gezwungene Stellung bei, die man ihm gibt (hypnotische Katalepsie). Steigert sich der Zustand, so führt der Hypnotische ihm aufgetragene Bewegungen anscheinend automatisch aus und gibt zu erkennen, daß er Vorstellungen, die ihm suggeriert werden, halluzinatorisch für wirkliche Gegenstände hält (Somnambulie). In diesem Zustande können endlich motorische oder sensorische Suggestionen für den Eintritt des Erwachens oder sogar für einen bestimmten späteren Zeitpunkt (Terminsuggestionen) gegeben werden. Die solche "posthypnotische Wirkungen" begleitenden Erscheinungen machen es wahrscheinlich, daß sie auf einer partiellen Fortdauer der Hypnose oder (bei der Terminsuggestion) auf einem Wiedereintritt derselben beruhen.

    9. Nach allen diesen Erscheinungen sind Schlaf und Hypnose verwandte, nur infolge der verschiedenen Entstehungsweise sich unterscheidende Zustände. Gemeinsam sind beiden gewisse Hemmungserscheinungen im Gebiet der Willens- und Aufmerksamkeitsvorgänge, sowie eine Disposition zu gesteigerter Erregbarkeit der Sinneszentren, die eine halluzinatorische Assimilation der Sinneseindrücke bewirkt. Unterscheidende Merkmale sind dagegen die namentlich die Apperzeptionsvorgänge und die motorischen Funktionen intensiv wie extensiv vollständiger ergreifende Willenshemmung im Schlaf, und die einseitige, durch die Suggestion bedingte und zugleich weitere Suggestionen begünstigende Richtung der Apperzeption in der Hypnose. Doch haben diese Unterschiede keine absolute Bedeutung: so fällt beim Schlafwandeln auch im Traum die äußere Willenshemmung hinweg, während sie im lethargischen Anfangsstadium der Hypnose ähnlich wie im Schlafe vorhanden ist.

    Hiernach sind die psychophysischen Bedingungen von Schlaf, Traum und Hypnose wahrscheinlich im wesentlichen übereinstimmende. Da diese Bedingungen psychologisch als eigentümlich veränderte Dispositionen zu Empfindungs- und Willensreaktionen auftreten, so können sie, wie alle Dispositionen, physiologisch nur aus den vorauszusetzenden Funktionsänderungen bestimmter Zentralgebiete erklärt werden. Direkt sind diese Funktionsänderungen noch nicht erforscht. Doch läßt sich nach den psychologischen Symptomen annehmen, daß sie sich in der Regel aus einer Funktionshemmung der bei den Willens- und Apperzeptionsvorgängen wirksamen Zentralgebiete und aus einer Erregbarkeitssteigerung der Sinneszentren zusammensetzen.

    9a. Die Theorie von Schlaf, Traum und Hypnose ist demnach zunächst eine physiologische Aufgabe. Neben der allgemeinen Voraussetzung der Funktionshemmung bestimmter Teile der Großhirnrinde und der Funktionssteigerung anderer, die wir den psychischen Symptomen entnehmen, läßt sich aber hier vorläufig nur ein allgemeines neurologisches Prinzip mit einiger Wahrscheinlichkeit verwerten, nämlich das Prinzip der Kompensation der Funktionen, wonach sich die Funktionshemmung eines bestimmten Zentralgebiets mit einer Funktionssteigerung anderer, in Wechselbeziehung stehender Gebiete verbindet. Diese Wechselbeziehung kann aber wieder teils eine direkte, neurodynamische, teils eine indirekte, vasomotorische, sein. Die erstere beruht mutmaßlich darauf, daß die durch die Funktionshemmung angehäufte Energie durch die nervösen Verbindungen nach andern Zentralgebieten abfließt; die zweite beruht darauf, daß die Funktionshemmung von einer Verengerung der kleinsten Blutgefäße und diese von einer kompensatorischen Erweiterung der Gefäße anderer Gebiete, der erhöhte Blutzufluß aber wieder von einer Funktionssteigerung begleitet ist. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Traum und Hypnose scheint dann, wie die psychologischen Symptome erschließen lassen, darin zu liegen, daß beim Traume die zu den Apperzeptionsvorgängen in Beziehung stehenden Zentralgebiete sich mehr oder weniger vollständig im Zustand der Hemmung befinden, so daß fast die gesamte kompensatorische Erregung den Sinneszentren zufließt, wogegen bei der Hypnose unter Umständen innerhalb des Apperzeptionszentrums selbst schon kompensatorische Erregbarkeitssteigerungen gegenüber vorhandenen partiellen Hemmungen stattfinden. Auf diese Verhältnisse dürften namentlich die bei gesteigerter Anlage vorkommenden Erscheinungen partieller Hypnose hinweisen, bei denen teils verwickelte Handlungen von automatischem Charakter bei sonst scheinbar wachem Zustand, teils psychische Akte geschärfter Unterscheidung oder auffallend genauer Wiedererkennung und Erinnerung innerhalb eines bestimmten Vorstellungs- oder Gefühlsgebiets bei gleichzeitiger Ausschaltung anderer Elemente sich finden. Dieser Zustand partieller Hypnose mit einseitig gerichteter Aufmerksamkeit ist zugleich der einzige, bei dem möglicherweise eine direkte psychologische Verwertung derselben auf Grund der durch experimentelle Reizeinwirkungen ausgelösten Selbstbeobachtungen der Hypnotisierten in Frage kommen kann. Die sorgfältig zu vermeidende Klippe solcher Selbstbeobachtungen im partiell hypnotischen Zustand wird aber freilich immer darin bestehen, daß täuschende Fremdsuggestionen und Autosuggestionen stattfinden.

    Traum und Hypnose sind häufig Gegenstände mystischer und phantastischer Hypothesen gewesen. Man redete von einer gesteigerten Seelentätigkeit im Traum, von geistigen Fernwirkungen in Traum und Hypnose. Besonders der Hypnotismus ist in dieser Beziehung zur Stütze spiritistischer Vorstellungen verwendet worden. Dabei wirkten schon bei dem durchaus auf Suggestion und Hypnose zurückzuführenden "tierischen Magnetismus" und "Somnambulismus" vielfach Selbsttäuschungen und absichtliche Täuschungen zusammen. In Wirklichkeit ist alles, was bei diesen Erscheinungen der exakten Prüfung standhält, im allgemeinen psychologisch und physiologisch erklärbar. Höchstens kann man zweifeln, auf welche der beiden hier in Betracht kommenden Seiten, auf die psychologische oder die physiologische, bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse der Schwerpunkt der Interpretation zu legen sei. So sind verschiedene psychologische Deutungen namentlich in dem Sinne versucht worden, daß man, anknüpfend an die zum Teil auch in das normale Seelenleben hereinreichenden Dämmerzustände, qualitative oder intensive Stufen des Bewußtseins zu Hilfe nahm. Dahin gehören besonders die in das Gebiet der Neuropathologie herüberspielenden, im übrigen von willkürlichen Hypothesen stark getrübten Theorien von Sigmund Freud. Mit strengerer Methodik hat Max Dessoir diese und andere Abweichungen der Bewußtseinszustände unter übereinstimmende Gesichtspunkte zu bringen gesucht und dabei zugleich die mystischen und abergläubischen Verirrungen, an denen es in diesem Gebiet noch heute nicht fehlt, einer strengen und sachlichen Kritik unterworfen. Immerhin hat, wo die Beziehung zu bekannten nervenphysiologischen Erscheinungen nahe liegt, wie bei den oben erwähnten neurologischen Wechselbeziehungen der Kompensation und der Steigerung der Funktionen die physiologische Deutung jedenfalls den Vorzug der Anlehnung an bekannte neurologische Tatsachen, während sie zugleich eine parallelgehende psychologische Auffassung nicht ausschließt.

Literatur. Psychische Störungen im allgemeinen: Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl., Bd. l, 1909. Störring, Vorlesungen über Psychopathologie, 1900. Weygandt, Atlas und Grundriß der Psychiatrie, 1902, Kap. IV. P. Janet, Névroses et idées fixes, 2 Bde., 1898. Sommer, Lehrbuch der psychopathol. Untersuchungsmethoden, 1899. Phys. Psych.6, III, Kap. 20. M. u. T5 Vorl. 21 u. 22. Schlaf und Traum: Purkinje, Wachen, Schlaf und Traum, Handwörterb. d. Physiol., III, 2. Radestock, Schlaf und Traum, 1879. Gießler, Aus den Tiefen des Traumlebens, 1890. Weygandt, Entstehung der Träume, 1893, und Phil. Stud., Bd. 20. Michelsen, Tiefe des Schlafes, Kraepelins Psychol. Arbeiten, Bd. 2. Freud, Die Traumdeutung, 1909. Mittenzwey, Darstellung und Kritik der Freudschen Neurosenlehre (Zeitschr. f. Pathopsyohologie, Bd. 2). M. Dessoir, Vom Jenseits der Seele, 1917. Voldt, Über den Traum, 2 Bde., 1910–12. H. Ellis, Die Welt der Träume, 1911. Hypnose: Bernheim, Die Suggestion, 1888. Forel, Der Hypnotismus, 4. Aufl., 1902. Lehmann, Die Hypnose, 1890. O. Vogt, Zeitschr. f. Hypnotismus, Bd. 3–6. Lipps, ebenda, Bd. 2. Wundt, Kl. Schriften, Bd. 2.