§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.

    l. Von den intensiven unterscheiden sich die räumlichen und zeitlichen Vorstellungen unmittelbar dadurch, daß ihre Teile nicht in beliebig vertauschbarer Weise, sondern in einer fest bestimmten Ordnung miteinander verbunden sind, so daß, wenn diese Ordnung verändert gedacht wird, die Vorstellung selbst sich verändert. Vorstellungen mit solch fester Ordnung der Teile nennen wir allgemein extensive Vorstellungen (§ 8).

    Unter den möglichen Formen extensiver Vorstellungen zeichnen sich nun die räumlichen wieder dadurch aus, daß jene feste Ordnung nur eine wechselseitige ist, daß sie sich also nicht auf das Verhältnis derselben zum vorstellenden Subjekt bezieht. Vielmehr kann dieses Verhältnis beliebig verändert gedacht werden. Diese objektive Unabhängigkeit der räumlichen Vorstellungsgebilde von dem vorstellenden Subjekt bezeichnen wir als die Verschiebbarkeit und Drehbarkeit der Raumgebilde. Die Anzahl der Richtungen, in denen Verschiebungen und Drehungen vorkommen, ist aber eine beschränkte, indem dieselben sämtlich auf drei Hauptabmessungen zurückgeführt werden können, in deren jeder ein Fortschritt nach zwei einander entgegengesetzten Richtungen möglich ist. Dieser Maximalzahl der Richtungen für die Verschiebungen und Drehungen der Raumgebilde entspricht die Anzahl der Richtungen, in denen die Teile jedes einzelnen Gebildes sowie die verschiedenen Gebilde zueinander geordnet sein können. Wir nennen diese Eigenschaft die dreidimensionale Beschaffenheit des Raumes. Eine einzelne räumliche Vorstellung kann demnach auch als ein dreidimensionales Gebilde von fester wechselseitiger Orientierung seiner Teile, aber von beliebig veränderlicher Orientierung zum vorstellenden Subjekt definiert werden. Selbstverständlich wird in dieser Definition von den in Wirklichkeit sehr häufigen Veränderungen in der Anordnung der Teile abstrahiert: wo sie vorkommen, da wird dies eben als der Übergang einer Vorstellung in eine andere aufgefaßt. Ferner enthält die dreidimensionale Ordnung zwei- und eindimensionale Ordnungen als Grenzfälle, bei denen übrigens, sobald man das Verhältnis des räumlichen Gebildes zum vorstellenden Subjekt in Betracht zieht, die fehlenden Dimensionen stets mit vorgestellt werden.

    2. Dieses in Wirklichkeit in allen räumlichen Vorstellungen zugleich gegebene Verhältnis zu dem vorstellenden Subjekt schließt nun von vornherein die psychologische Forderung ein, daß die Ordnung der Elemente in einer solchen Vorstellung nicht eine ursprüngliche Eigenschaft der Elemente selbst, analog etwa der Intensität oder Qualität der Empfindungen, sein kann, sondern daß sie erst aus dem Zusammensein der Empfindungen, also aus irgendwelchen durch dieses Zusammensein neu entstehenden psychischen Bedingungen hervorgeht. Denn wollte man diese Forderung nicht zugestehen, so würde man genötigt sein, nicht etwa bloß jeder einzelnen Empfindung eine räumliche Qualität beizulegen, sondern man müßte in jede räumlich noch so beschränkte Empfindung sogleich die Vorstellung des ganzen dreidimensionalen Raumes in seiner Orientierung zum vorstellenden Subjekt mit aufnehmen. Dies führt aber zu der Annahme einer a priori allen einzelnen Empfindungen vorausgehenden Raumanschauung, welche Annahme mit allen unsern Erfahrungen über die Entstehungsbedingungen psychischer Gebilde überhaupt und speziell mit den Einflüssen, denen die räumlichen Vorstellungen unterworfen sind, im Widerspruch steht.

    3. Alle räumlichen Vorstellungen bieten sich uns schließlich als Formen der Ordnung zweier Sinnesqualitäten dar, der Tastempfindungen und der Lichtempfindungen, von denen aus dann erst sekundär die Beziehung auf den Raum auch auf andere Empfindungen durch die Assoziation der Vorstellungen (§ 16) übertragen wird. Bei dem Tast- und Gesichtssinn sind aber offenbar schon durch die flächenförmige Anordnung der peripheren Sinnesorgane und durch die Ausstattung dieser mit Bewegungsapparaten, die eine wechselnde Orientierung der Eindrücke zum vorstellenden Subjekt möglich machen, günstige Bedingungen zu einer extensiven räumlichen Ordnung der Empfindungen gegeben. Von beiden Sinnesgebieten ist das des Tastsinns wieder das ursprünglichere, da es in der Entwicklungsreihe der Organismen früher entsteht, und da uns überdies hier die beim Gesichtssinn in weit feinerer Ausbildung gegebenen Organisationsverhältnisse noch roher, darum aber auch in mancher Beziehung deutlicher entgegentreten. Doch kommt dabei freilich in Betracht, daß beim sehenden Menschen infolge jener höheren Ausbildung der Sehfunktionen die räumlichen Vorstellungen des Tastsinns in hohem Grade durch die des Gesichtssinns beeinflußt sind.

A. Die räumlichen Tastvorstellungen.

    4. Die einfachste für den Tastsinn mögliche räumliche Vorstellung ist die eines einzelnen nahezu punktförmigen Eindrucks auf die Haut. Auch wenn ein solcher Eindruck bei abgewandtem Gesichtsorgan einwirkt, bildet sich eine bestimmte Vorstellung von dem Ort der Berührung. Diese Vorstellung, die man die Lokalisation des Reizes nennt, ist, wie die Selbstbeobachtung zeigt, beim sehenden Menschen in der Regel keine unmittelbare, wie man erwarten müßte, wenn das Räumliche eine der Empfindung ursprünglich eigentümliche Eigenschaft wäre, sondern sie ist von einer hinzutretenden, wenn auch meist sehr dunkeln Gesichtsvorstellung der berührten Körperstelle abhängig. Die Lokalisation ist daher in der Nähe der Begrenzungslinien der Tastorgane, die sich im Gesichtsbild deutlicher ausprägen, genauer als inmitten gleichförmig beschaffener Flächen. Die Erweckung einer Gesichtsvorstellung durch den Tasteindruck wird aber auch bei abgewandtem Sehorgan dadurch möglich, daß jedem Punkt des Tastorgans eine eigentümliche qualitative Färbung der Tastempfindung zukommt, die unabhängig von der Qualität des äußeren Eindrucks ist und wahrscheinlich von den von Punkt zu Punkt wechselnden und an zwei entfernten Stellen niemals völlig übereinstimmenden Struktureigentümlichkeiten der Haut herrührt.

    Diese lokale Färbung kann man als das Lokalzeichen der Empfindung bezeichnen. Dasselbe ändert sich an den verschiedenen Hautstellen von Punkt zu Punkt mit sehr verschiedener Geschwindigkeit; sehr schnell z. B. an der Zungenspitze, den Fingerspitzen, den Lippen, langsam an den größeren Flächen der Glieder und des Rumpfes. Ein Maß für diese Änderung der Lokalzeichen kann man erhalten, wenn man zwei Eindrücke nahe beieinander gleichzeitig auf eine Hautstelle einwirken läßt. Solange dann die Distanz der Eindrücke in der Region qualitativ ununterscheidbarer Lokalzeichen liegt, werden dieselben als ein einziger Eindruck wahrgenommen, während, sobald jene Grenze überschritten ist, die Eindrücke räumlich getrennt werden. Diese kleinste eben unterscheidbare Distanz zweier Eindrücke nennt man die Raumschwelle des Tastsinns. Sie variiert von l bis 2 mm (Zungen- und Fingerspitze) bis zu 68 mm (Rücken, Oberarm, Oberschenkel). An den Stellen der Druckpunkte (§ 6, A.) können jedoch bei günstiger Anwendung der Reize auch noch kleinere Distanzen wahrgenommen werden. Überdies ist die Raumschwelle von den Zuständen des Tastorgans und von den Einflüssen der Übung abhängig. Infolge der ersteren ist sie z. B. bei Kindern, bei denen offenbar die die Lokalzeichen bedingenden Strukturunterschiede in kleineren Entfernungen merklich werden, kleiner als bei Erwachsenen; infolge der Übung ist sie bei Blinden, namentlich an den von ihnen vorzugsweise zum Tasten benutzten Fingerspitzen, kleiner als bei Sehenden.

    5. Die Lokalisation der Tasteindrücke und mit ihr die räumliche Ordnung einer Mehrheit solcher beruht, wie die oben geschilderte Mitwirkung der Gesichtsvorstellungen lehrt, beim sehenden Menschen weder auf einer ursprünglichen Raumqualität der Hautpunkte, noch auf einer primären raumbildenden Funktion des Tastorgans, sondern sie setzt die räumlichen Vorstellungen des Gesichtssinns voraus, die aber nur dadurch wirksam werden können, daß den Teilen des Tastorgans selbst gewisse qualitative Eigenschaften, die Lokalzeichen, zukommen, welche die Gesichtsvorstellung des berührten Teiles erwecken. Dabei liegt jedoch kein Grund vor, den Lokalzeichen eine unmittelbare Beziehung zum Raum zuzuschreiben: vielmehr können sie offenbar allen Anforderungen genügen, wenn sie lediglich die Eigenschaft qualitativer Signale besitzen, die das zugehörige Gesichtsbild hervorrufen. Dieses aber ist ihnen durch häufige Verbindung zugeordnet. Dementsprechend wird die Schärfe der Lokalisation durch alle die Einflüsse begünstigt, die einerseits die Deutlichkeit des Gesichtsbildes und anderseits die qualitativen Unterschiede der Lokalzeichen vergrößern.

    Den Prozeß der räumlichen Vorstellungen werden wir daher in diesem Fall als eine Einordnung der Tastreize in bereits gegebene Gesichtsbilder infolge der festen Verbindung dieser Bilder mit den qualitativen Lokalzeichen der Reize bezeichnen können. Hierbei kann (gemäß § 9,) die Verbindung der Lokalzeichen mit den Gesichtsbildern der ihnen entsprechenden Körperstellen als eine unvollkommene, aber sehr konstante Verschmelzung betrachtet werden. Die Verschmelzung ist unvollkommen, weil sowohl das Gesichtsbild wie der Tasteindruck ihre Selbständigkeit bewahren; sie ist aber so konstant, daß sie bei gleichbleibendem Zustand des Tastorgans unlöslich erscheint, woraus sich auch die relative Sicherheit der Lokalisation erklärt. Die herrschenden Elemente dieser Verschmelzung sind die Tastempfindungen, hinter denen bei vielen Individuen die Gesichtsvorstellungen so zurücktreten, daß sie selbst bei großer Aufmerksamkeit nicht sicher wahrgenommen werden können. In solchen Fällen ist daher die räumliche Auffassung vielleicht, wie bei den Blinden, eine unmittelbare Funktion der Tast- und Bewegungsempfindungen (siehe unten 6). In der Regel zeigt aber die genauere Beobachtung, daß man sich von der Lage und Distanz der Eindrücke nur Rechenschaft geben kann, indem man sich das unbestimmte Gesichtsbild der berührten Körperstelle deutlicher zu machen sucht. Als eine besondere Klasse von Empfindungen lassen sich daneben noch die Kraftempfindungen betrachten, die den Widerständen der Bewegung proportional zunehmen und gegenüber den Tastempfindungen durch feinere Empfindlichkeit sich auszeichnen.

    6. Diese für den Sehenden geltenden Bedingungen ändern sich nun wesentlich beim Blinden und namentlich beim Blindgeborenen oder in frühester Lebenszeit Erblindeten. Der Blinde bewahrt zwar noch sehr lange Zeit Erinnerungsbilder der ihm geläufigen Gesichtsobjekte, und so bleiben bei ihm auch die räumlichen Tastvorstellungen immer noch in einem gewissen Grade Produkte einer Verschmelzung zwischen Tastempfindungen und Gesichtsbildern. Da ihm aber die Hilfe einer fortan sich wiederholenden Erneuerung der Gesichtsvorstellungen abgeht, so zieht er in umfassender Weise Bewegungen zu Hilfe, indem er, von einem Tasteindruck zum andern übergehend, in der in den Gelenken und Muskeln erzeugten Tastempfindung (§ 6, A), die ein Maß der Größe der ausgeführten Bewegung ist, zugleich ein Maß gewinnt für die Distanz, in der sich die Tasteindrücke voneinander befinden. Diese Hilfe, bei dem Erblindeten zu den allmählich erblassenden Gesichtsbildern hinzutretend und sie teilweise ersetzend, ist für den Blindgeborenen von Anfang an die einzige, durch die eine Vorstellung von den wechselseitigen Lage- und Entfernungsverhältnissen einzelner Eindrücke entstehen kann. Demzufolge beobachtet man bei solchen Personen eine fortwährende Bewegung der Tastorgane, besonders der tastenden Finger, über die Objekte hin, bei deren Auffassung ihnen überdies die geschärfte Aufmerksamkeit auf die Tastempfindungen und die größere Übung in der Unterscheidung derselben zustatten kommen. Immerhin macht sich die tiefere Entwicklungsstufe dieses Sinnes gegenüber dem Gesichtssinn darin geltend, daß die Auffassung stetig ausgedehnter Begrenzungslinien und Flächen viel unvollkommener ist als die nahehin punktförmiger Eindrücke in verschiedenen Anordnungen. Einen Beleg hierfür bildet die Tatsache, daß man sich bei der Blindenschrift genötigt gesehen hat, für die einzelnen Buchstaben künstliche Zeichen einzuführen, die in verschiedenen Kombinationen erhabener Punkte bestehen. So ist z. B. in der gewöhnlich gebrauchten (Brailleschen) Blindenschrift ein Punkt das Zeichen für A, 2 Punkte horizontal nebeneinander das für B, 2 Punkte vertikal übereinander für C usw. Mit 6 Punkten im Maximum reicht man für alle Buchstaben aus; dabei müssen nur die Punkte so weit voneinander entfernt sein, daß sie mit der Spitze des Zeigefingers noch als getrennt wahrgenommen werden. Für die Entwicklung der Raumvorstellungen des Blinden ist nun die Art, wie diese Schrift gelesen wird, bezeichnend. In der Regel werden dazu die beiden Zeigefinger der rechten und der linken Hand benutzt. Der rechte Finger geht voraus und faßt eine Gruppe von Punkten simultan auf (synthetisches Tasten), der linke Finger folgt etwas langsamer nach und faßt die einzelnen Punkte sukzessiv auf (analysierendes Tasten). Beide Eindrücke, der simultane und der sukzessive, werden aber miteinander verbunden und auf das nämliche Objekt bezogen. Dieses Verfahren zeigt deutlich, daß beim Blinden ebensowenig wie beim Sehenden die räumliche Unterscheidung der Tasteindrücke unmittelbar mit der Einwirkung derselben auf das Tastorgan gegeben ist, sondern daß hier die Bewegungen, mittels deren der dem analysierenden Tasten dienende Finger die einzelnen Strecken durchläuft, eine ähnliche Rolle spielen, wie sie bei dem Sehenden den begleitenden Gesichtsvorstellungen zukommt.

    Nun kann eine Vorstellung von der Größe und Richtung dieser Bewegungen wiederum nur dadurch entstehen, daß jede Bewegung von einer inneren Tastempfindung (§ 6, A) begleitet ist. Die Annahme, daß diese letztere unmittelbar schon mit einer Vorstellung von dem bei der Bewegung zurückgelegten Raume verbunden sei, würde aber im äußersten Grad unwahrscheinlich sein; denn nicht nur würde das die Existenz einer dem Subjekt angeborenen Anschauung von dem umgebenden Raum und seiner eigenen Lage in demselben voraussetzen (s. o.), sondern es würde auch noch die besondere Annahme in sich schließen, die inneren Tastempfindungen, obgleich sonst in ihrer qualitativen Beschaffenheit und in den physiologischen Substraten ihrer Entstehung den äußeren gleichartig, unterschieden sich doch dadurch von diesen, daß bei ihnen mit der Empfindung stets auch ein Bild der Lage des Subjekts und der räumlichen Ordnung seiner unmittelbaren Umgebung entstehe, eine Annahme, die eigentlich nötigen würde, zu der Platonischen Lehre von der Wiedererinnerung an angeborene Ideen zurückzukehren. Denn die beim Tasten entstehende Empfindung wird hier als eine äußere Gelegenheitsursache gedacht, welche die uns angeborene, also übersinnliche Idee des Raumes wiedererwecke.

    7. Mit der zuletzt erwähnten Hypothese würde zudem, abgesehen von ihrer psychologischen Unwahrscheinlichkeit, der Einfluß, den die Übung in der Unterscheidung der Lokalzeichen und der Bewegungsunterschiede ausübt, nicht zu vereinigen sein. Es bleibt demnach nichts anderes übrig, als daß man auch hier, ähnlich wie beim Sehenden (s. o.), in die empirisch gegebenen Verbindungen der Empfindungen selbst die Entstehung der räumlichen Vorstellungen verlegt. Diese Verbindungen bestehen nun darin, daß mit je zwei Empfindungen a und b von bestimmter Lokalzeichendifferenz stets eine bestimmte, die Bewegung begleitende innere Tastempfindung b, und mit einer größeren Lokalzeichendifferenz a und c eine intensivere Bewegungsempfindung g assoziiert ist, usw. In der Tat sind ja beim Tasten der Blinden die äußeren und die inneren Tastempfindungen stets in dieser regelmäßigen Verbindung gegeben. Es läßt sich darum auch nicht behaupten, irgendeines jener beiden Empfindungssysteme trage an und für sich schon die Vorstellung einer räumlichen Einordnung in sich; sondern wir können nur sagen, daß diese Ordnung regelmäßig aus ihrer beider Verbindung hervorgeht. Unter diesem Gesichtspunkte läßt sich die durch äußere Eindrücke entstehende räumliche Vorstellung der Blinden definieren als das Produkt einer Verschmelzung äußerer Tastempfindungen und ihrer qualitativ abgestuften Lokalzeichen mit intensiv abgestuften inneren Tastempfindungen. In diesem Verschmelzungsprodukt bilden die äußeren Tastempfindungen in ihren durch die äußeren Reize bedingten Eigenschaften die herrschenden Elemente, hinter denen die Lokalzeichen und die inneren Tastempfindungen in den ihnen eigentümlichen qualitativen und intensiven Eigenschaften so vollständig zurücktreten, daß sie, ähnlich etwa wie die Obertöne eines Klanges, nur bei besonders geschärfter Aufmerksamkeit auf sie wahrgenommen werden können. Auch die räumlichen Tastvorstellungen beruhen daher auf einer vollkommenen Verschmelzung (§ 9). Aber die Eigenart dieser besteht, im Unterschiede z. B. von den intensiven Tonverschmelzungen, darin, daß die Neben- oder Hilfselemente selbst wieder Elemente von verschiedener Beschaffenheit sind, die zugleich in gesetzmäßigen Beziehungen zueinander stehen. Während nämlich die Lokalzeichen ein reines Qualitätensystem bilden, ordnen sich die die Bewegungen des Tastorgans begleitenden inneren Tastempfindungen in eine Skala von Intensitätsgraden; und indem die zum Durchlaufen des Zwischenraums zwischen zwei Punkten aufgewandte Bewegungsenergie mit der Größe des Zwischenraums wächst, muß auch mit dem Qualitätsunterschied der Lokalzeichen der Intensitätsunterschied der die Bewegung begleitenden Empfindungen zunehmen.

    8. Auf diese Weise ist die räumliche Ordnung der Tasteindrücke das Produkt einer doppelten Verschmelzung: einer ersten, die zwischen den Hilfselementen vor sich geht, und durch die die Qualitätsstufen des nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems in ihrem Verhältnis zueinander nach den Intensitätsstufen der inneren Tastempfindung geordnet werden; und einer zweiten, durch die sich die durch die äußeren Reize bestimmten äußeren Tastempfindungen mit jenen ersten Verschmelzungsprodukten verbinden. Natürlich finden beide Verbindungsprozesse nicht sukzessiv, sondern in einem und demselben Akt statt, da die Lokalzeichen wie die Tastbewegungen unmittelbar durch die äußeren Reize erweckt werden. Während aber die äußere Tastempfindung mit der Beschaffenheit des objektiven Reizes wechselt, bilden die Lokalzeichen und die inneren Tastempfindungen subjektive Elemente, deren wechselseitige Zuordnung bei den verschiedensten äußeren Eindrücken immer die nämliche bleibt. Hierin liegt die psychologische Bedingung für die von uns dem Raume zugeschriebene Konstanz der Eigenschaften, gegenüber den mannigfach wechselnden qualitativen Eigenschaften der im Raum enthaltenen Objekte.

    9. Nachdem sich die räumlichen Verschmelzungen der Tastempfindungen gebildet haben, bleibt nun jedes der dabei wirksamen Elemente bis zu einem gewissen, wenn auch beschränkten Grade für sich allein fähig, eine Lokalisation von Empfindungen zu erzeugen. So hat nicht bloß der Sehende, sondern auch der Blinde und Blindgeborene bei vollkommen ruhendem Tastorgan eine Vorstellung vom Ort einer Berührung, und er kann zwei in hinreichender Distanz einwirkende Eindrücke als räumlich getrennte wahrnehmen. Natürlich entsteht aber beim Blindgeborenen nicht, wie beim Sehenden, das Gesichtsbild der berührten Stelle, sondern es bildet sich statt dessen die Vorstellung einer Bewegung des berührten Gliedes und, wo mehrere Eindrücke mitwirken, einer tastenden Bewegung von einem Eindruck zum andern. Es werden also auch bei den so vollzogenen Vorstellungen die nämlichen Verschmelzungen wie bei den gewöhnlichen, durch Tastbewegungen unterstützten wirksam, nur mit dem Unterschiede, daß der eine Faktor des Verschmelzungsprodukts, die innere Tastempfindung, bloß als Erinnerungsbild existiert.

    10. Ebenso kann aber das Entgegengesetzte eintreten: es kann als wirklicher Empfindungsinhalt nur eine Summe innerer Tastempfindungen gegeben sein, die durch die Bewegung eines Körperteils entstehen, ohne merkliche Beimengung äußerer Tastempfindungen, und es können gleichwohl jene inneren, die Bewegung begleitenden Empfindungen das Substrat einer räumlichen Vorstellung bilden. Dies geschieht regelmäßig bei den reinen Vorstellungen der eigenen Bewegung. Wenn wir z.B. bei geschlossenen Augen unseren Arm erheben, so haben wir in jedem Moment eine Vorstellung von der Lage des Armes. Bei ihr wirken zwar in einem gewissen Grad auch die äußeren Tastempfindungen mit, die durch die Dehnungen und Faltenbildungen der Haut entstehen; diese treten aber doch zurück gegenüber den von den Gelenken, Sehnen und Muskeln ausgehenden inneren Tastempfindungen.

    Beim sehenden Menschen kommen diese Lagevorstellungen, wie man leicht beobachten kann, dadurch zustande, daß die durch den Zustand des bewegten Teiles erzeugten Empfindungen auch bei geschlossenen oder abgekehrten Augen ein dunkles Gesichtsbild jenes Teiles samt dem ihn unmittelbar umgebenden Raum erwecken. Diese Verbindung ist eine so innige, daß sie selbst zwischen den bloßen Erinnerungsbildern der inneren Tastempfindungen und der entsprechenden Gesichtsvorstellung eintreten kann, wie man bei Gelähmten beobachtet, bei denen zuweilen der bloße Wille, eine bestimmte Bewegung auszuführen, die Vorstellung der wirklich ausgeführten Bewegung erweckt. Augenscheinlich beruhen daher die Vorstellungen eigener Bewegungen beim Sehenden auf analogen unvollkommenen Verschmelzungen, wie die äußeren räumlichen Tastvorstellungen: nur spielen in diesem Fall die inneren Tastempfindungen die nämliche Rolle, wie dort die äußeren. Dies führt zu der Annahme, daß auch den inneren Tastempfindungen Lokalzeichen zukommen, d. h. daß die in den verschiedenen Gelenken, Sehnen, Muskeln entstehenden Empfindungen bestimmte lokal abgestufte Unterschiede zeigen. In der Tat scheint das die Selbstbeobachtung zu bestätigen. Wenn wir abwechselnd das Knie-, das Oberschenkel-, das Oberarmgelenk usw., oder sukzessiv das gleiche Gelenk der rechten und der linken Körperseite bewegen, so pflegt, abgesehen von der nie ganz zu unterdrückenden Verbindung mit dem Gesichtsbild des Körperteils, jedesmal die Qualität der Empfindung leise zu variieren.

    11. Auf Grund dieser Verhältnisse beim Sehenden läßt sich nun auch die Entstehungsweise der Vorstellungen eigener Bewegung beim Blindgeborenen verstehen. An Stelle der Verschmelzung mit dem Gesichtsbild des Körperteils muß hier eine solche der inneren Tastempfindungen mit den Lokalzeichen wirksam werden, während zugleich äußere Tastempfindungen unterstützend hinzutreten. Beim Blinden scheinen daher diese letzteren bei der Orientierung über die eigene Bewegung im Raum eine weit größere Rolle zu spielen, als beim Sehenden. Seine Vorstellungen über die eigene Bewegung bleiben höchst unsicher, solange er ihnen nicht durch die Betastung äußerer Objekte zu Hilfe kommt, wobei er durch die große Übung des äußeren Tastsinns und die geschärfte Aufmerksamkeit auf denselben unterstützt wird. Einen Beleg hierfür bildet der sogenannte "Fernsinn der Blinden". Er besteht in der Fähigkeit, Widerstand leistende Gegenstände, z. B. eine nahe Wand, aus einiger Entfernung ohne direkte Betastung wahrzunehmen. Es läßt sich nun experimentell nachweisen, daß sich dieser Fernsinn aus zwei Faktoren zusammensetzt: erstens aus einer sehr schwachen Tasterregung der Stirnhaut durch den Luftwiderstand, und zweitens aus der Änderung des Schalles der Schritte. Hierbei wirkt die letztere als ein Signal, welches die Aufmerksamkeit hinreichend schärft, damit jene schwachen Tasterregungen wahrgenommen werden können. Der "Fernsinn" wird daher unwirksam, wenn man entweder die Tasterregungen durch ein umgebundenes Tuch von der Stirn abhält, oder wenn man die Schritte unhörbar macht.

    12. Neben den Vorstellungen von den Lagen und Bewegungen der einzelnen Körperteile besitzen wir aber noch eine Vorstellung von der Lage und Bewegung des Gesamtkörpers, und jene gehen immer erst durch ihre Beziehung auf diese letztere Vorstellung aus einer bloß relativen in eine absolute Bedeutung über. Das Orientierungsorgan für diese allgemeinen Vorstellungen ist der Kopf, von dessen Lage man sich jeweils eine bestimmte Vorstellung bildet, und in bezug auf den nach den einzelnen Komplexen innerer und äußerer Tastempfindungen die einzelnen Körperorgane, meist freilich nur unbestimmt, orientiert werden. Im Kopfe bilden aber die drei Bogengänge des Gehörlabyrinths das spezifische Orientierungsorgan, dem als sekundäre Hilfsmittel die an die Wirkung der Kopfmuskeln gebundenen inneren und äußeren Tastempfindungen zur Seite treten. Dieser Orientierungsfunktion der Bogengänge läßt sich wohl am ehesten ein Verständnis abgewinnen, wenn man annimmt, daß in ihnen unter dem Einfluß des wechselnden Druckes der Labyrinthflüssigkeit innere Tastempfindun-gen mit besonders ausgeprägten Lokalzeichenunterschieden entstehen. Die Schwindelerschei-nungen, die infolge schneller Drehungen des Kopfes eintreten, entspringen höchstwahrschein-lich aus den durch die heftigen Bewegungen der Labyrinthflüssigkeit verursachten Empfin-dungen. Damit stimmt überein, daß man nach partiellen Zerstörungen der Bogengänge konstante Orientierungstäuschungen und nach vollständiger Zerstörung derselben die Aufhe-bung der Orientierungsfähigkeit beobachtet hat.

    12a. Die Anschauungen, die sich rücksichtlich der psychologischen Entstehungsweise der räumlichen Vorstellungen gegenüberstehen, pflegt man als die des Nativismus und des Empirismus zu bezeichnen. Die nativistische Theorie will die Lokalisation im Raum aus angeborenen Eigenschaften der Sinnesorgane und Sinneszentren, die empiristische Theorie will sie aus dem Einfluß der Erfahrung ableiten. Diese Unterscheidung gibt aber den tatsächlich bestehenden Gegensätzen keinen sachgemäßen Ausdruck, da man die Annahme angeborener räumlicher Vorstellungen bekämpfen kann, ohne darum zu behaupten, daß diese durch Erfahrung entstehen. In der Tat ist dies der Fall, wenn man, wie es oben geschehen ist, die Raumanschauungen als Produkte psychologischer Verschmelzungsprozesse betrachtet, die ebensowohl in den physiologischen Eigenschaften der Sinnes- und Bewegungsorgane wie in den allgemeinen Gesetzen der Entstehung psychischer Gebilde begründet sind. Solche Verschmelzungsprozesse und die auf ihnen beruhenden Ordnungen der Sinneseindrücke bilden nämlich überall die Grundlagen unserer Erfahrung; eben deshalb ist es aber unzulässig, sie selbst Erfahrungen zu nennen. Richtiger ist es vielmehr, wenn man die vorhandenen Gegensätze als die der nativistischen und der genetischen Theorien bezeichnet, worauf die letzteren wieder in die empiristische und die Verschmelzungstheorie zerfallen. Insofern die hierbei angenommenen assoziativen Verschmelzungsprozesse die Erfahrung überhaupt erst vermitteln helfen, kann dann die Verschmelzungstheorie auch als die präempiristische Form der genetischen Theorien bezeichnet werden. Dabei ist es zugleich bemerkenswert, daß die verbreiteten nativistischen Theorien ebensowohl empiristische, wie umgekehrt die empiristischen nativistische Bestandteile enthalten, so daß bisweilen der Gegensatz kaum als ein nennenswerter erscheint. Die Nativisten setzen nämlich zwar voraus, die Ordnung der Eindrücke im Raum entspreche unmittelbar der Ordnung der sensibeln Punkte in der Haut und in der Netzhaut; die besondere Art der Projektion nach außen, namentlich die Vorstellung der Entfernung und der Größe der Gegenstände, ferner die Beziehung einer Mehrheit räumlich getrennter Eindrücke auf einen einzigen Gegenstand, sollen aber von der "Aufmerksamkeit", vom "Willen" oder selbst von der "Erfahrung" abhängig sein. Die Empiristen dagegen pflegen in irgendeiner Weise den Raum als gegeben vorauszusetzen und dann jede einzelne Vorstellung als eine durch Erfahrungsmotive bestimmte Orientierung in diesem Raum zu interpretieren. Bei der Theorie der räumlichen Gesichtsvorstellungen wird in der Regel der Tastraum als dieser ursprünglich gegebene Raum betrachtet; bei der Theorie der Tastvorstellungen hat man zuweilen die inneren Tastempfindungen mit der ursprünglichen Raumqualität ausgestattet. So sind Empirismus und Nativismus in den wirklichen Theorien meist völlig verschwimmende Begriffe, und beiderlei Theorien pflegen zugleich darin übereinzustimmen, daß sie komplexe Begriffe der Vulgärpsychologie, wie "Aufmerksamkeit", "Wille", "Erfahrung", ohne nähere Prüfung und Analyse verwenden. Hierin besteht dann zugleich ihr Gegensatz zur Verschmelzungstheorie, die durch die psychologische Analyse der Vorstellungen die elementaren Prozesse nachzuweisen sucht, durch welche die Vorstellungen entstehen.

    Der eigentümliche Einfluß des Kopfes auf die Vorstellungen von der Lage und Bewegung des Gesamtkörpers, wie er bei den Schwindelerscheinungen und bei den Vorstellungen der Fortbewegung im Raum bei passiver Bewegung des Körpers zur Geltung kommt, wurde ursprünglich auf gewisse Gehirnteile, namentlich auf das kleine Gehirn (Cerebellum) bezogen: auch ist es nicht unwahrscheinlich, daß das letztere bei den Orientierungserscheinungen und ihren Störungen teils direkt, teils indirekt als Zentrum der peripheren Orientierungsorgane mitwirkt. Daß unter den letzteren das Bogenlabyrinth eine hervorragende Rolle spielt, machen die besonders bei Vögeln ausgeführten partiellen wie totalen Exstirpationsversuche der Bogengänge zweifellos. Doch sind dabei immer die äußeren Tastempfindungen und die Gesichtswahrnehmungen von mitbestimmendem Einfluß, namentlich auch insofern, als sie beim Wegfall des Bogenlabyrinths eine allmähliche Ausgleichung der Störungen ermöglichen. Eine eigentümliche Bestätigung findet übrigens der vorwaltende Einfluß des letzteren durch die Beobachtung, daß bei Taubstummen sehr häufig Orientierungsstörungen vorkommen; wahrscheinlich ist dies immer dann der Fall, wenn die der Taubstummheit in der Regel zugrunde liegende frühe Zerstörung des Gehörlabyrinths auch das Bogenlabyrinth ergriffen hat.

    Literatur. E. H. Weber, Tastsinn und Gemeingefühl, Handwörterb. d. Physiol., III, 2, 1846. Lotze, Medizinische Psychologie, 1852, 324, (erste, noch wesentlich metaphysisch motivierte Aufstellung des Begriffs der Lokalzeichen). Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrn, 1862, I. Abt. Vierordt, Grundriß der Physiol., 5. Aufl., 1877, 340. M. Washburn, Phil. Stud., Bd. 11. Judd, ebenda, Bd. 12. Goldscheider, Ges. Abhandl. Bd. l. Spearman, Psychol. Stud., Bd. l. Menderer, ebenda, Bd. 4. Ewald, Zeitschr. f. Psych., II. Abt. Bd. 44. von Frey, Zeitschr. für Biologie, Bd. 63, 65. Oehrwall, Skand. Archiv f. Physiol. Bd. 32. Phys.Ps.6, II, Kap. 13. M. n. T.5, Vorl. 9. Lipps, Grundtatsachen des Seelenlebens, 1883, Kap. 22. Über Blinde: Heller, Phil. Stud., Bd. 11. Taubstumme Blinde: Jerusalem, Laura. Bridgmann, 1890. Helen Keller, Geschichte meines Lebens, 1904. Lagevorstellungen des Gesamtkörpers: Nagel in Nagels Handb. d. Physiol., 3, 1905. Goltz, Pflügers Archiv f. Physiol., Bd. 3. Breuer, ebenda, Bd. 48. Mach, Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen, 1875. Delage-Aubert, Studien über die Orientierung, 1888. Ewald, Physiol. Untersuch. über das Endorgan des Nervus octavus, 1892. Kreidl, Pflügers Archiv, Bd. 51 u. 54 (Orientierung Taubstummer). Lokalisation anderer, besonders der Gehörsvorstellungen: O. Klemm u. G. P. Arps, Psychol. Stud., Bd. 8. O. Klemm, Ber. des 6. Kongr. für exp. Psychologie, 1914. (Sammelreferat.)

B. Die räumlichen Gesichtsvorstellungen.

    13. Die allgemeinen Eigenschaften des Tastsinns wiederholen sich beim Gesichtssinn, aber in weit feinerer Ausbildung. Der Sinnesfläche der äußeren Haut entspricht hier die Netzhautfläche mit ihren palisadenartig gestellten, ein überaus feines Mosaik empfindender Punkte bildenden Zapfen und Stäbchen (Fig. 2, § 6). Indem die dem Auge zugeführten Optikusfasern von der Eintrittsstelle des Sehnerven (O Fig. 11) aus nach allen Richtungen sich ausbreiten, bilden sie die innerste Schicht der Netzhaut (R). Sie setzen sich nach außen umbiegend in die andern Schichten dieser Membran fort, zuletzt in die Stäbchen und Zapfen, die selbst wieder mit ihren schmalen, kegelförmigen und zylindrischen (in Fig. 2 nach oben gekehrten) Enden die äußerste, am meisten peripherische Schicht bilden. Diese ist dann noch von einer dunkeln Pigmentlage bedeckt, welche das Ausscheidungsprodukt der die Netzhaut überziehenden, sehr gefäßreichen Aderhaut oder Chorioidea ist (A). Über dieser liegt schließlich die äußere Schutzmembran des Auges, die weiße Augenhaut oder Sklera (S). Die Aderhaut setzt sich vorn in die in ihrer Mitte von dem Sehloch, der Pupille (p), durchbohrte Iris oder Regenbogenhaut (J), die Sklera in die durchsichtige Hornhaut oder Cornea (C) fort. Die Cornea, die Kristallinse (L) mit der zwischen beiden liegenden wässerigen Feuchtigkeit (W) und dem Glaskörper (G) bilden zusammen das System der durchsichtigen brechenden Medien des Auges. Sie brechen das in das Auge eindringende Licht so, daß bei normalem Brechungszustand des Auges von einem in großer Ferne befindlichen Gegenstand ein umgekehrtes, verkleinertes Bild auf der Netzhaut entworfen wird. Um die Lage und Größe dieses Bildes durch eine einfache näherungsweise Konstruktion zu finden, kann man sich eines optischen Kardinalpunkts, des sogenannten Knotenpunkts (k), bedienen, der, dicht vor der Hinterfläche der Linse gelegen, die Eigenschaft hat, daß, wenn man von einem äußeren Objektpunkt durch ihn eine gerade Linie, die "Richtungslinie", zieht, diese die Netzhaut in dem zugehörigen Bildpunkte trifft. Auf nähere Gegenstände stellt sich der optische Apparat dadurch ein, daß die Vorderfläche der Kristallinse infolge einer auf die Kapsel der Linse von muskulären Fasern des vorderen Aderhautringes ausgehenden Wirkung stärker sich wölbt, wobei sie die Iris vordrängt (wie dies in Fig. 11 durch die unterbrochene Linie angedeutet ist). Neben dieser Akkommodation für die Nähe mittels der veränderten Linsenkrümmung besitzt dann noch das Auge in den die Regenbogenhaut zusammensetzenden Muskelfasern einen Apparat der Adaptation für die Helligkeit, der durch das die Netzhaut treffende Licht derart reflektorisch in Funktion tritt, daß sich bei zunehmender Helligkeit die Pupille verengt, bei abnehmender erweitert. Eine wichtige Bedeutung für den Sehakt besitzen endlich zwei Stellen der Netzhaut: der blinde Fleck (b), welcher der Eintrittsstelle des Sehnerven entspricht und wegen seines Mangels an Sehzellen (Zapfen und Stäbchen) für Licht unempfindlich ist, und der gelbe Fleck (g) oder die Zentralgrube der Netzhaut, eine Stelle, an der sich bloß dichtgedrängte Zapfen befinden, und die dadurch zur Wahrnehmung deutlicher Bilder vorzugsweise befähigt ist. Der blinde Fleck hat etwa 6° oder 1,5mm, der gelbe Fleck 41/2° oder wenig mehr als l mm im Durchmesser und liegt 15 ° oder 4 mm nach außen von jenem, während das ganze Auge einen Durchmesser von etwa 23 mm besitzt. Diese Strukturverhältnisse kennzeichnen das Auge durchaus als einen nach dem Prinzip der Camera obscura gebauten optischen Apparat, der aber, abgesehen von der lichtempfindlichen Beschaffenheit seiner Auffangsfläche, der Retina, durch die beiden Eigenschaften der Akkommodation für verschiedene Entfernungen mittels der Formänderungen der Linse und der Anpassung für verschiedene Lichtstärken mittels der als Blendung wirkenden Iris sich auszeichnet, Eigenschaften, deren in dieser Weise nur ein lebendes Organ fähig ist. Indem nun das Licht vermöge seiner raumdurchdringenden Energie die Entwerfung deutlicher Bilder bald von nahen, bald von fernen Objekten auf die lichtempfindliche Netzhaut vermittelt, gewinnt so der Gesichtssinn in noch viel höherem Maße als der Gehörssinn die Bedeutung eines Fernsinns, während er zugleich, ähnlich dem Tastsinn, ein räumlicher Sinn ist.

Fig. 11. Schematischer Durchschnitt des Auges. O Sehnerv. S Sklera. C Cornea. A Chorioidea. J Iris.
R Retina. W wässerige Feuchtigkeit (vordere Augenkammer). L Kristallinse. G Glaskörper.
k optischer Knotenpunkt, b blinder Fleck. g gelber Fleck (Zentralgrube).

    14. Jede Gesichtsvorstellung läßt sich nun nach ihren räumlichen Eigenschaften in zwei Faktoren zerlegen: l) in die Orientierung der einzelnen Elemente einer Vorstellung zueinander, und 2) in ihre Orientierung zum vorstellenden Subjekt. Schon die Vorstellung eines einzigen Lichtpunkts enthält diese beiden Faktoren: denn wir müssen uns den Punkt in irgendeiner räumlichen Umgebung und in irgendeinem Richtungs- und Entfernungsverhältnis zu uns selber vorstellen. Auch können diese Faktoren nur durch eine willkürliche Abstraktion, nie aber in Wirklichkeit voneinander gesondert werden, da durch das Verhältnis, in welchem irgendein räumlicher Punkt zu seiner Umgebung steht, regelmäßig auch sein Verhältnis zu dem vorstellenden Subjekt bestimmt wird. Aus dieser Abhängigkeit ergibt sich zugleich, daß die Analyse der Gesichtsvorstellungen zweckmäßig von dem ersten jener beiden Faktoren, von der wechselseitigen Orientierung der Elemente eines Vorstellungsgebildes, ausgeht, um dann erst den zweiten Faktor, die Orientierung des Gebildes zum Vorstellenden, in Betracht zu ziehen.

a. Wechselseitige Orientierung der Elemente einer Gesichtsvorstellung.

    15. Bei der Auffassung der Verhältnisse der Elemente einer Gesichtsvorstellung zueinander wiederholen sich, nur in feinerer Ausbildung und mit einigen für den Gesichtssinn bedeutsamen Modifikationen, die Eigenschaften des Tastsinns. Auch hier verbinden wir mit einem möglichst einfachen, nahehin punktförmigen Eindruck die Vorstellung eines ihm zukommenden Ortes im Raume, weisen ihm also ein bestimmtes Lageverhältnis an zu den ihn umgebenden Raumteilen; doch erfolgt diese Lokalisation nicht, wie bei dem Tastsinn, durch die unmittelbare Beziehung auf den entsprechenden Punkt des Sinnesorgans selbst, sondern wir tragen den Eindruck in das außerhalb des vorstellenden Subjekts und in irgendeiner Entfernung von ihm gelegene Sehfeld ein. Ferner ist hier, wie beim Tastsinn, ein Maß für die Genauigkeit der Lokalisation die Distanz, in der zwei nahehin punktförmige Eindrücke noch räumlich unterschieden werden können; doch ist auch diese Distanz nicht unmittelbar als eine auf der Sinnesfläche selbst abzumessende lineare Größe gegeben, sondern als kleinster wahrnehmbarer Zwischenraum zweier Punkte des Sehfeldes. Da sich nun das Sehfeld in jeder beliebigen Entfernung befinden kann, so benutzt man hier zweckmäßig als Maß der Lokalisationsschärfe nicht eine lineare Größe, sondern den Winkel, den zwei gerade Linien miteinander bilden, die von den Punkten des Sehfeldes zu den entsprechenden Punkten des Netzhautbildes durch den in der Kristallinse gelegenen optischen Knotenpunkt (den Kreuzungspunkt der Richtungslinien) gezogen werden. Dieser Gesichtswinkel bleibt konstant, solange die Größe des Netzhautbildes unverändert bleibt, wogegen die zugehörige wechselseitige Distanz der Punkte im Sehfeld proportional der Entfernung von dem Sehenden zunimmt. Will man statt des Gesichtswinkels eine ihm äquivalente lineare Distanz einführen, so kann daher als solche nur der Durchmesser des Netzhautbildes benutzt werden, der sich unmittelbar aus der Größe des Gesichtswinkels und der Entfernung der Netzhautfläche vom optischen Knotenpunkt des Auges ergibt.

    16. Die nach diesem Prinzip vorgenommene Messung der Lokalisationsschärfe zeigt nun, entsprechend den an den verschiedenen Stellen des Tastorgans gefundenen Ergebnissen, innerhalb der verschiedenen Teile des Sehfeldes sehr abweichende Werte. Nur eine Stelle der Netzhaut macht in dieser Beziehung eine bemerkenswerte Ausnahme: es ist dies die Eintrittsstelle des Sehnerven, die, weil an ihr die Sehelemente, die Stäbchen und Zapfen, fehlen, unempfindlich für Licht ist. Diesen blinden Fleck kann man mittels einer Zeichnung wie der Fig. 12 leicht nachweisen. Schließt man nämlich das linke Auge und fixiert mit dem rechten das links stehende Kreuzchen, so fällt bei einer Sehdistanz von etwa l Fuß der schwarze Kreis in den blinden Fleck dieses Auges: er verschwindet daher, und an seiner Stelle scheint sich der weiße Hintergrund über die ganze Zeichnung auszubreiten. Man bezeichnet diesen Versuch nach seinem Entdecker als den Mariotteschen Versuch. An allen andern Stellen sind die Raumwerte, welche die kleinste unterscheidbare Distanz angeben, sehr kleine Größen, durchweg viel kleinere als beim Tastorgan; und während über dieses zahlreiche Stellen feinerer Unterscheidung verteilt sind, findet sich im Sehfeld nur eine Stelle feinster Unterscheidung, nämlich die dem Netzhautzentrum entsprechende Mitte desselben, von der aus dann nach den Seitenteilen hin die Lokalisationsschärfe sehr rasch abnimmt. Das ganze Sehfeld oder die ganze Netzhautfläche verhält sich also analog einem einzelnen Tastgebiet, wie z.B. dem des Zeigefingers, übertrifft aber freilich dieses, namentlich in den zentralen Teilen, außerordentlich an Lokalisationsschärfe, indem hier zwei Eindrücke, die unter einem Gesichtswinkel von 60–90 Sekunden einwirken, noch eben unterschieden werden, während 2,5° seitlich vom Netzhautzentrum die kleinste unterscheidbare Größe schon 3' 30" beträgt und 8° seitlich auf etwa 1° steigt.

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Fig. 12. Blinder Fleck.

    Da wir bei normalem Sehen auf diejenigen Objekte, von denen wir genauere räumliche Vorstellungen gewinnen wollen, das Auge so einstellen, daß jene in der Mitte des Sehfeldes, ihre Bilder also im Netzhautzentrum liegen, so bezeichnet man solche Objekte auch als die direkt gesehenen, alle andern, die in den exzentrischen Teilen des Sehfeldes liegen, als die indirekt gesehenen. Der Mittelpunkt der Region des direkten Sehens heißt der Blick- oder Fixationspunkt, die diesen Punkt mit dem Mittelpunkt des Netzhautzentrums verbindende Linie die Blicklinie. Die Zentralregion der Netzhaut selbst, d. h. diejenige Region, deren Eindrücke deutlich unterschieden werden, mit der wir z. B. Buchstaben in gewöhnlicher Druckschrift lesen können, hat aber, wie oben bemerkt, eine Ausdehnung von etwa 41/2 Winkelgraden und liegt 15° nach außen von dem einem Gesichtswinkel von 6° entsprechenden blinden Fleck (g und b Fig. 11).

Berechnet man die lineare Distanz, die jenem kleinsten Gesichtswinkel entspricht, bei welchem im Zentrum des Sehfeldes zwei Punkte getrennt wahrgenommen werden können, so ergibt sich eine Größe von 4/1000 - 6/1000 mm. Diese Größe kommt ungefähr dem Durchmesser eines Netzhautzapfens gleich; und da das Zentrum der Netzhaut nur Zapfen besitzt, die aber so dicht gelagert sind, daß sie sich unmittelbar berühren, so läßt sich hieraus mit Wahrscheinlichkeit folgern, daß zwei Lichteindrücke jedenfalls auf zwei verschiedene Netzhautelemente fallen müssen, wenn sie noch räumlich getrennt werden sollen. In der Tat stimmt damit überein, daß auf den Seitenteilen der Netzhaut die beiden hier vorkommenden Formen lichtempfindender Elemente, die Zapfen und die Stäbchen, durch größere Zwischenräume getrennt sind. Man kann hiernach annehmen, daß die Schärfe des Sehens im allgemeinen von der Dichtigkeit der Anordnung der Netzhautelemente abhängt.

    16a. Aus diesem Wechselverhältnis zwischen der Sehschärfe und der Anordnung der Netzhautele-mente hat man häufig geschlossen, jedem Netzhautelement komme die ursprüngliche Eigenschaft zu, den Lichtreiz, von dem es getroffen wird, an der seiner Projektion auf das Sehfeld entsprechenden Stelle des Raumes zu lokalisieren; und man hat auf diese Weise jene Eigentümlichkeit des Gesichts-sinns, seine Objekte überhaupt in einem äußeren, in irgendeiner Entfernung von dem Subjekt befindli-chen Sehfelde vorzustellen, auf eine angeborene Energie der Netzhautelemente oder ihrer zentralen, Vertretungen im Sehzentrum des Gehirns zurückgeführt. Es gibt gewisse pathologische Störungen des Sehens, die diese Annahme auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen. Wenn nämlich infolge von Entzündungsprozessen unter der Netzhaut diese an einzelnen Stellen aus ihrer Lage gedrängt wird, so entstehen Verzerrungen der Bilder, sogenannte Metamorphopsien, die sich ihrer Größe und Richtung nach vollständig erklären lassen, wenn man annimmt, daß die aus ihrer Lage gedrängten Netzhautele-mente fortfahren, ihre Eindrücke so zu lokalisieren, als wenn sie sich noch in ihrer ursprünglichen, normalen Lage befänden. Aber diese Verzerrungen der Bilder beweisen offenbar, solange es sich dabei, wie in den meisten Fällen, um Erscheinungen handelt, die sich infolge des allmählichen Entstehens und Verschwindens der Exsudate fortwährend verändern, ebensowenig eine angeborene Lokalisationsenergie, wie sich etwa eine solche aus der leicht zu machenden Beobachtung erschließen läßt, daß man durch prismatische Brillengläser verzerrte Bilder der Objekte wahrnimmt. Wird dagegen allmählich ein stationärer Zustand erreicht, so verschwinden die Metamorphopsien, und zwar geschieht dies nicht bloß in solchen Fällen, wo eine vollständige Rückkehr der Netzhautelemente in ihre ursprüngliche Lage angenommen werden darf, sondern auch in solchen, wo dies wegen des Umfangs der Prozesse durchaus unwahrscheinlich ist. In diesen letzteren Fällen muß dann aber die Ausbildung einer neuen Zuordnung der einzelnen Netzhautelemente zu den ihnen entsprechenden Punkten des Sehfeldes angenommen werden. Diese Folgerung gewinnt eine Bestätigung in Beobachtungen am normalen Auge über die allmähliche Anpassung an Bildverzerrungen, die durch äußere optische Hilfsmittel bewirkt worden sind. Bewaffnet man die Augen mit einer prismatischen Brille, so treten in der Regel auffallende und störende Änderungen der Bilder auf, indem geradlinige Begrenzungslinien gebogen und dadurch die Formen der Objekte verzerrt erscheinen. Diese Verzerrungen verschwinden aber allmählich vollständig, wenn man die Brille dauernd trägt; und sie können in der entgegengesetz-ten Richtung wieder eintreten, wenn die Brille beseitigt wird.

    17. Neben den Netzhautempfindungen sind jedoch noch andere psychische Elemente an der Ordnung der Lichteindrücke beteiligt. Die physiologischen Eigenschaften des Sehorgans weisen hier von vornherein auf die die Bewegungen des Auges begleitenden Empfindungen hin. Diese Bewegungen spielen nämlich bei der Ausmessung von Strecken im Sehfeld offenbar eine ähnliche Rolle, wie die Tastbewegungen bei Ausmessung der Tasteindrücke. Indem das Auge um seinen zum Kopf immer gleich orientierten Mittelpunkt nach allen Richtungen gedreht werden kann, ist es in vorzüglicher Weise geeignet, die Begrenzungslinien der Objekte kontinuierlich zu durchlaufen oder auf dem kürzesten Wege von einem gegebenen Fixationspunkt zu einem andern überzugehen. Da ferner die Bewegungen beider Augen vermöge der Synergie ihrer Innervation einander so angepaßt sind, daß die Blicklinien normalerweise stets auf denselben Fixationspunkt eingestellt werden, so ist dadurch ein Zusammenwirken beider Augen ermöglicht, das nicht bloß die Lageverhältnisse der Objekte zueinander vollständig erfassen läßt, sondern auch das wesentlichste Hilfsmittel für die Bestimmung der räumlichen Verhältnisse der Objekte zum sehenden Subjekt abgibt (siehe unten 24 ff.).

    18. In der Tat lehren die Erscheinungen des Sehens, daß, wie die Unterscheidung distinkter Punkte im Sehfeld im allgemeinen von der Dichtigkeit der Anordnung der Netzhautelemente, so die Vorstellung der wechselseitigen Distanz zweier Punkte von der beim Durchlaufen dieser Distanz angewandten Bewegungsanstrengung des Auges abhängt. Diese macht sich aber als Vorstellungskomponente dadurch geltend, daß sie mit einer Spannungsempfindung verbunden ist, die wir namentlich bei umfangreicheren Bewegungen wahrnehmen.

    Am augenfälligsten zeigt sich der Einfluß dieser inneren Tastempfindungen darin, daß die Lokalisation infolge partieller Lähmungen einzelner Augenmuskeln Störungen erfährt, die genau den durch die Lähmung bewirkten Veränderungen in der Bewegungsanstrengung entsprechen. Das allgemeine Prinzip dieser Störungen besteht nämlich darin, daß die Distanz zweier Punkte vergrößert erscheint, sobald sie in der Richtung der erschwerten Bewegung liegt. Der erschwerten Bewegung entspricht eine intensivere Spannungsempfindung, die normalerweise eine extensivere Bewegung begleiten würde: demzufolge erscheint die durchmessene Strecke größer, und, da die bei der Bewegung gewonnenen Maße auf die Bewegungsantriebe des ruhenden Auges zurückwirken, so tritt die nämliche Täuschung selbst für die noch zu durchmessende Strecke in der gleichen Richtung ein.

    19. Ähnliche Abweichungen lassen sich aber auch am normalen Auge nachweisen. Denn obgleich der Muskelapparat desselben so angeordnet ist, daß die Bewegungen in den verschiedenen Richtungen nahezu mit gleicher Anstrengung erfolgen, so trifft dies doch nicht vollständig zu, aus Gründen, die mit der Anpassung des Sehorgans an seine Leistungen zusammenhängen. Da wir nähere Objekte, auf die wir die Blicklinien konvergierend einstellen müssen, am häufigsten betrachten, so haben die Muskeln des Auges eine Anordnung gewonnen, bei der zunächst die Konvergenzbewegungen der Blicklinien erleichtert, und bei der sodann unter den möglichen Konvergenzbewegungen wieder die nach abwärts vor den nach aufwärts gerichteten bevorzugt, sind. Die Erleichterung der Konvergenzbewegungen wird dadurch erzielt, daß die das Auge nach auf- und nach abwärts drehenden Muskeln, der Rectus superior und inferior (Rsi Fig. 13), nicht in einer die Blicklinie (B) enthaltenden Vertikalebene liegen, wie es der einfachsten Drehung nach oben und unten entsprechen würde, sondern von dieser Ebene derart abweichen, daß sie mit der Auf- und Abwärtsbewegung zugleich eine schwache Innenwendung bewirken. Im Zusammenhange damit ist jedem dieser Muskeln ein schief gelegener Hilfsmuskel beigegeben, dem Rectus superior der Obliquus inferior, dem Rectus inferior der Obliquus superior (Osi Fig. 13), welche die beiden geraden Muskeln in der Auf- und Abwärtsbewegung unterstützen, während sie die infolge der asymmetrischen Lagerung jener Muskeln entstehenden Rollungen um die Gesichtslinie kompensieren. Infolge dieser größeren Komplikation der Muskelwirkungen ist nun bei der Auf- und Abwärtsbewegung der Augen die Bewegungsanstrengung größer als bei der Aus- und Einwärtsbewegung, die bloß durch je zwei in der Horizontalebene gelegene Muskeln, den Rectus externus und internus, bewirkt wird. Die relative Erleichterung der abwärts gerichteten Konvergenzbewegungen findet aber teils in den oben (s. o.) erwähnten intensiven Verschiedenheiten der die Bewegungen begleitenden Empfindungen, teils in der Erscheinung ihren Ausdruck, daß bei der Abwärtsbewegung beider Augen unwillkürlich verstärkte, bei der Aufwärtsbewegung derselben verminderte Konvergenz eintritt.

Fig. 13. Schema der Augenmuskeln (linkes Auge). Re Rectus externus. Rit Reotus internus. Rsi Ebene des Rectus superior und inferior. Osi Zugebene des Obliquus sup. und inf. B Gesichts- oder Blicklinie.


    Diesen Abweichungen des Bewegungsmechanismus entsprechen nun gewisse konstante, von der Richtung im Sehfeld abhängige Täuschungen des Augenmaßes. Sie bestehen teils in Richtungstäuschungen, teils in Streckentäuschungen.

    So ist jedes Auge in bezug auf die Richtung vertikaler Linien im Sehfeld der Täuschung unterworfen, daß eine mit ihrem oberen Ende um 1–3° nach auswärts geneigte Linie vertikal, und daß daher eine in Wirklichkeit vertikale Linie mit ihrem oberen Ende nach innen geneigt zu sein scheint. Da diese Täuschung für jedes Auge eine entgegengesetzte Richtung hat, so verschwindet sie im zweiäugigen Sehen. Sie ist auf die soeben bemerkte Tatsache zurückzuführen, daß sich die Abwärtsbewegungen der Augen unwillkürlich mit einer Zunahme, die Aufwärtsbewegungen mit einer Abnahme der Konvergenz verbinden. Diese von uns nicht bemerkte Abweichung der Bewegung von der vertikalen Richtung wird dann auf eine im entgegengesetzten Sinne stattfindende Abweichung der Objekte bezogen.

    Ähnlich läßt sich eine regelmäßige Streckentäuschung bei der Vergleichung verschieden gerichteter gerader Linien im Sehfeld auf jene Verschiedenheiten zurückführen, die in der Anordnung der das Auge nach oben und unten und der dasselbe nach außen und innen bewegenden Muskeln bestehen. Die Täuschung besteht hier darin, daß wir vertikale Linien durchschnittlich etwa um l/7 l/10 zu groß schätzen gegenüber gleich großen horizontalen; daher uns z. B. ein Quadrat wie ein Rechteck mit kleinerer Basis erscheint, während umgekehrt bei einem nach dem Augenmaß gezeichneten Quadrat die Höhe zu klein gezeichnet wird. Wie also bei teilweise gelähmtem Auge die in der Richtung der erschwerten Bewegung gelegenen Strecken vergrößert erscheinen, gerade so gilt das auch für das normale Auge. Neben dieser am meisten auffallenden Abweichung zwischen vertikal und horizontal findet sich noch eine unbedeutendere zwischen oben und unten, sowie eine solche zwischen außen und innen, indem die obere Hälfte einer vertikalen und die äußere einer horizontalen Geraden, jene durchschnittlich um 1/16, diese um 1/40, überschätzt wird. Die erste dieser Täuschungen entspricht der oben (s. o.) erwähnten Erleichterung der Abwärtsbewegungen, die zweite der Erleichterung der Konvergenzstellungen.

    20. Diesen konstanten Richtungs- und Streckentäuschungen, die sich auf bestimmte, in den besonderen Zwecken des Sehens begründete Einrichtungen des Bewegungsmechanismus zurückführen lassen, schließen sich andere, variable Täuschungen des Augenmaßes an, die in allgemeingültigen Eigenschaften unserer Bewegungen ihren Grund haben, und zu denen daher analoge Erscheinungen bei den Bewegungen der Tastorgane nachzuweisen sind. Auch sie zerfallen in Richtungstäuschungen und Streckentäuschungen. Die ersteren folgen der Regel: Spitze Winkel werden überschätzt, stumpfe unterschätzt, und die die Winkel begrenzenden Linien verändern dementsprechend ihre Richtung. Für die Streckentäuschungen gilt die Regel: Gezwungene und unterbrochene Bewegungen sind anstrengender als freie und kontinuierliche Bewegungen; demnach werden gerade Linien, die zur Fixation nötigen, im Vergleich mit Punktdistanzen, und ebenso gerade Linien, die durch Teilpunkte mehrfach unterbrochen sind, im Vergleich mit ununterbrochen gezogenen überschätzt.

    20a. Die den Winkeltäuschungen analoge Erscheinung im Gebiete des Tastsinns besteht darin, daß man geneigt ist, kleine Gelenkdrehungen zu überschätzen, große zu unterschätzen, eine Regel, die sich auf das allgemeine Prinzip zurückführen läßt, daß zu einer Bewegung von geringem Umfang ein relativ größerer Energieaufwand erfordert wird als zu einer solchen von bedeutenderem Umfang, weil zur ersten Auslösung der Bewegung mehr Energie nötig ist als zur Erhaltung einer schon im Gang befindlichen Bewegung. Eine der Überschätzung mehrfach eingeteilter Linien analoge Erscheinung besteht ferner darin, daß uns eine von einem Tastorgan mittels der Bewegung abgeschätzte Raumstrecke kleiner erscheint, wenn sie in einer einzigen kontinuierlichen Bewegung, als wenn sie in einer mehrfach unterbrochenen Bewegung durchmessen wird. Auch hier entspricht die Empfindung dem Energieaufwand, der bei der mehrfach unterbrochenen Bewegung größer ist als bei der ununterbrochenen. Darum gilt die Überschätzung eingeteilter linearer Strecken für das Auge begreiflicherweise auch nur so lange, als nicht durch die Einteilung Motive entstehen, welche die Bewegung verhindern. Letzteres geschieht z. B., wenn man nur einen einzigen Einteilungspunkt anbringt. Dieser zwingt dann zur Fixation. Vergleicht man daher eine einmal eingeteilte mit einer nicht eingeteilten Linie, so ist man geneigt, die erstere mit ruhendem Auge, unter Fixation des Einteilungspunkts, die letztere aber mit bewegtem Auge aufzufassen; dementsprechend erscheint in diesem Fall die nicht eingeteilte Strecke größer als die eingeteilte. Auf ähnlichen Bedingungen beruht es, daß eine gerade Linie vergrößert erscheint, wenn sie in Ansatzlinien übergeht, die zu einer über die Endpunkte der Geraden hinausgehenden Bewegung veranlassen, daß sie dagegen verkleinert erscheint, wenn die Ansatzlinien die entgegengesetzte Richtung haben (Müller-Lyersche Täuschung, Fig. 14).

                                                                            Fig. 14. Müller-Lyersche Täuschung.                                                         Fig. 15. Zoellnersche Täuschung.

    Die Überschätzung spitzer Winkel wird dann am auffallendsten, wenn sich dieses Täuschungsmotiv mehrmals wiederholt, wie z. B. in Fig. 15, wo die langen, schräggezogenen Linien in Wirklichkeit parallel sind, aber wegen der scheinbaren Vergrößerung der spitzen Winkel, welche die sie schneidenden kurzen Linien mit ihnen bilden, abwechselnd zu divergieren und zu konvergieren scheinen (Zoellnersche Täuschung).

    20 b. Die gesamten konstanten wie variabeln Richtungs- und Streckentäuschungen pflegt man zur Unterscheidung von andern, auf dioptrischen Abweichungen beruhenden optischen Täuschungen als geometrisch-optische Täuschungen zu bezeichnen, weil die Konstruktion geometrischer Figuren vorzugsweise zu ihrer Auffindung Anlaß gibt. Doch werden in diesem Ausdruck außer jenen auf den Eigenschaften des Bewegungsmechanismus beruhenden auch noch andere Abweichungen des Augenmaßes einbegriffen, die auf den später zu erörternden Gesetzen der Vorstellungsassoziationen beruhen, und die man deshalb speziell als "Assoziationstäuschungen" bezeichnen kann. Hierher gehört z. B. die Tatsache, daß eine Strecke oder ein Winkel von gegebener Größe neben einer sehr viel kleineren Strecke oder neben einem sehr viel kleineren Winkel vergrößert, im umgekehrten Fall aber verkleinert gesehen wird, eine Erscheinung, die offenbar durchaus dem Licht- und Farbenkontrast (§ 17, 11) analog ist. Ähnliche Assoziationswirkungen verbinden sich auch mit den vorhin geschilderten variabeln Richtungs- und Streckentäuschungen in dem Sinne, daß die durch den Einfluß der verschiedenen Bewegungsenergie entstehenden Täuschungen durch eine perspektivische Tiefenauffassung der in der Ebene gezeichneten Figuren mit den Eigenschaften des Netzhautbildes in Einklang gebracht werden. So erscheint uns z. B. eine eingeteilte gerade Linie nicht nur größer als die gleich große nicht eingeteilte, sondern wir verlegen sie auch in größere Entfernung, gemäß der durch zahlreiche Assoziationen unsere Wahrnehmung beherrschenden Regel, daß Objekte unter gleichem Gesichtswinkel um so größer erscheinen, in je größere Ferne sie verlegt werden. Diese perspektivischen Assoziationstäuschungen treten, weil bei ihnen die Vergleichung der Netzhautbilder eine Rolle spielt, bei starrer Fixation mehr hervor als bei bewegtem Auge, und sie bilden zugleich ein Hilfsmerkmal, an dem sich die variabeln von den konstanten Täuschungen unterscheiden lassen, da bei den letzteren perspektivische Nebenvorstellungen im allgemeinen nicht zu bemerken sind. Weiteres über Assoziationstäuschungen vgl. unten in § 16, 9, über räumlichen Kontrast § 17, 11.

    21. Weisen die konstanten wie die variabeln Täuschungen des Augenmaßes auf die unmittelbare Abhängigkeit der Auffassung räumlicher Richtungen und Strecken von den Bewegungen des Auges hin, so stimmt nun damit zugleich das negative Ergebnis überein, daß die Anordnung der Netzhautelemente, insbesondere die Dichtigkeit ihrer Lagerung, auf die Vorstellungen der Richtung und Größe normalerweise keinen merklichen Einfluß ausübt. Dies zeigt sich vor allem daran, daß die Distanz zweier Punkte gleich groß erscheint, ob wir sie im direkten oder im indirekten Sehen beobachten. Zwei Punkte, die direkt gesehen deutlich unterschieden werden, können in den Seitenteilen des Sehfeldes in einen zusammenfließen; aber sobald sie unterschieden werden, erscheinen sie hier ebensoweit voneinander entfernt wie dort. Diese Unabhängigkeit der Größenwahrnehmung von der Dichtigkeit der Anordnung bezieht sich auch auf das oben erwähnte Verschwinden der Objekte, die sich auf dem blinden Fleck abbilden. Da derselbe eine Größe von etwa 6° hat, so können auf ihm Bilder von ansehnlicher Größe, z. B. ein in etwa 6 Fuß Entfernung gelegenes menschliches Angesicht, vollständig verschwinden. Aber sobald rechts und links oder oben und unten von ihm Punkte im Sehfeld auftauchen, so geben wir ihnen die nämliche Entfernung voneinander wie in irgendeiner andern, nicht durch ihn unterbrochenen Region des Sehfeldes. Das nämliche beobachtet man, wenn abnormerweise eine Stelle der Netzhaut infolge von Krankheitsprozessen blind geworden ist1).

1) Hiermit steht im Zusammenhang, daß der blinde Fleck auch in bezug auf den Empfindungsinhalt nicht als eine Lücke im Sehfeld, sondern in der allgemeinen Helligkeits- und Farbenqualität des Sehfeldes erscheint, also z. B. weiß, wenn wir auf eine weiße, schwarz, wenn wir auf eine schwarze Fläche blicken, usw. Da diese Ausfüllung des blinden Flecks nur durch reproduzierte Empfindungen möglich ist, so ist sie wohl auf die später zu betrachtenden Assoziationserscheinungen (§ 16) zurückzuführen.
 
 
    22. Die Schärfe des Sehens und die Auffassung von Richtungen und Strecken im Sehfeld sind, wie diese Erscheinungen lehren, zwei Funktionen, die teilweise auf verschiedene Bedingungen zurückführen: die erste hauptsächlich auf die Dichtigkeit der Aneinanderlagerung der Netzhautelemente, die zweite auf die Bewegungen des Auges. Hieraus ergibt sich aber zugleich, daß die räumlichen Vorstellungen des Gesichtssinns ebensowenig wie die des Tastsinns als ursprüngliche, an und für sich schon mit der Einwirkung der Lichteindrücke gegebene angesehen werden können, sondern daß sie sich erst auf Grund der Verbindung gewisser Empfindungskomponenten entwickeln, denen einzeln genommen noch nicht die räumliche Eigenschaft zukommt. Zugleich weisen jene Bedingungen darauf hin, daß sich diese Komponenten hier analog zueinander verhalten wie beim Tastsinn, und daß insbesondere die Raumentwicklung des Sehenden vollständig in Parallele gebracht werden kann zu der des Blindgeborenen, bei dem allein der Tastsinn eine ähnliche Selbständigkeit erreicht. Den Tasteindrücken entsprechen die Netzhauteindrücke, den Tastbewegungen die Augenbewegungen. Aber wie die Tasteindrücke eine lokale Bedeutung erst durch die mit ihnen verbundenen lokalen Färbungen der Empfindung, die Lokalzeichen, gewinnen können, so wird das Ähnliche bei den Netzhauteindrücken vorauszusetzen sein.

    22a. Allerdings läßt sich eine qualitative Abstufung der Lokalzeichen auf der Netzhaut nicht mit gleicher Deutlichkeit wie auf der äußeren Haut nachweisen. Doch kann man bei farbigen Eindrücken im allgemeinen feststellen, daß sich in größeren Abständen vom Netzhautzentrum allmählich die Qualität der Empfindung ändert, indem die Farben im indirekten Sehen teils ungesättigter, teils aber auch in einem qualitativ andern Farbenton, z. B. gelb wie orange, empfunden werden. Nun liegt freilich in diesen Eigentümlichkeiten kein strenger Beweis für die Existenz rein lokaler Unterschiede der Empfindung, vollends von so feiner Abstufung, wie sie z. B. in der Netzhautmitte vorauszusetzen sind. Immerhin wird dadurch bestätigt, daß lokale Unterschiede überhaupt bestehen; und dies läßt die Annahme solcher noch jenseits der Grenzen, in denen sie nachweisbar sind, um so gerechtfertigter erscheinen, als jene unmittelbare Umdeutung der Empfindungsunterschiede in lokale Unterschiede, die schon beim Tastorgan zu bemerken ist, hier, wo es sich um viel feinere Abstufungen handelt, noch weit mehr die Unterscheidung der qualitativen Differenzen als solcher beeinträchtigen muß. Eine Bestätigung dieser Auffassung darf man wohl in der Tatsache sehen, daß auch die nachweisbaren Empfindungsunterschiede in größeren Distanzen vom Netzhautzentrum doch nur bei geeigneter Einwirkung begrenzter Objekte beobachtet werden können, während sie bei der Betrachtung einer gleichmäßigen farbigen Oberfläche vollkommen verschwinden. Bei diesem Verschwinden qualitativer Unter-schiede, die an und für sich sehr bedeutend sind, wird aber die Beziehung auf lokale Unterschiede wenigstens als ein mitwirkender Faktor angesehen werden müssen.

    23. Nehmen wir demnach qualitative Lokalzeichen an, die nach Maßgabe der durch die Sehschärfe gegebenen Daten, also im Netzhautzentrum am feinsten und gegen die Netzhautperipherie immer langsamer sich abstufen, so kann die Entstehung der räumlichen Ordnung der Lichteindrücke als eine Einordnung dieses nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems in ein intensiv abgestuftes System von inneren Tastempfindungen gedeutet werden. Für je zwei Lokalzeichen a und b wird die bei der Durchmessung der Strecke a b entstehende Spannungsempfindung a ein Maß der linearen Raumgröße a b sein, insofern z. B. einer größeren Strecke a c eine intensivere Spannungsempfindung g entsprechen muß. Wie nun am tastenden Finger der Punkt der feinsten Unterscheidung zum Mittelpunkt der Orientierung wird, so wird im Auge dem Netzhautzentrum die Bedeutung eines solchen Mittelpunkts zukommen. In der Tat findet dies gerade beim Auge noch deutlicher als beim Tastorgan in den Gesetzen der Bewegung seinen Ausdruck. Jeder leuchtende Punkt im Sehfelde bildet nämlich einen Reiz für den Innervationsmechanismus des Auges, so daß sich die Blicklinie reflektorisch auf ihn einzustellen strebt. In dieser reflektorischen Beziehung exzentrisch gelegener Lichtreize zur Netzhautmitte liegt einerseits wahrscheinlich eine wesentliche Bedingung zur Ausbildung der obenerwähnten Synergie der Augenbewegungen; andererseits erklärt sie die große Schwierigkeit der Beobachtung indirekt gesehener Objekte. Diese Schwierigkeit entspringt offenbar daraus, daß die Richtung der Aufmerksamkeit auf einen seitlich gelegenen Punkt die Reflexwirksamkeit desselben im Vergleich mit andern, nicht in ähnlicher Weise bevorzugten Punkten vergrößert. Infolge der dominierenden Bedeutung, die so das Netzhautzentrum bei den Bewegungen des Auges gewinnt, wird der Blickpunkt zum Mittelpunkt der Orientierung im Sehfeld, und alle Entfernungen in diesem werden dadurch einem einheitlichen Maß unterworfen, daß sie sämtlich in bezug auf den Blickpunkt bestimmt sind. Indem nun die Lokalzeichen immer erst durch die äußeren Lichteindrücke ausgelöst werden, beide zusammen aber die nach dem Netzhautzentrum orientierten Augenbewegungen bestimmen, stellt sich so der ganze Vorgang der räumlichen Ordnung als ein Prozeß der Verschmelzung dreier verschiedener Empfindungselemente dar: l) der in der Beschaffenheit der äußeren Reize begründeten Empfindungsqualitäten, 2) der von den Orten der Reizeinwirkung abhängigen qualitativen Lokalzeichen, und 3) der durch die Beziehung der gereizten Punkte zum Netzhautzentrum bestimmten, intensiv abgestuften Spannungsempfindungen. Dabei können die letzteren entweder, und dies ist das Ursprüngliche, die wirkliche Bewegung begleiten; oder sie können sich bei ruhendem Auge infolge bloßer Bewegungsantriebe von bestimmter Größe geltend machen. Wegen der regelmäßigen Zuordnung der qualitativen Lokalzeichen zu den die Bewegung begleitenden Spannungsempfindungen lassen sich beide zusammen auch als ein System komplexer Lokalzeichen betrachten. Die räumliche Lokalisation irgendeines einfachen Lichteindrucks erscheint dann als das Produkt einer vollständigen Verschmelzung der durch den äußeren Reiz bestimmten Lichtempfindung mit je zwei zusammengehörigen Elementen jenes komplexen Lokalzeichensystems; und die räumliche Ordnung einer Mehrheit einfacher Eindrücke besteht in der Verbindung einer großen Anzahl solcher Verschmelzungen, die qualitativ und intensiv nach Maßgabe der Elemente des Lokalzeichensystems gegeneinander abgestuft sind. In diesen Verschmelzungsprodukten sind die von den äußeren Reizeinwirkungen bestimmten Empfindungen die herrschenden Elemente, gegenüber denen die Elemente des Lokalzeichensystems selbst zurücktreten, da diese bei der unmittelbaren Auffassung der Objekte wesentlich in ihrer räumlichen Bedeutung aufgehen.

b. Orientierung der Gesichtsvorstellungen zum vorstellenden Subjekt.

    24. Der einfachste Fall eines in einer Gesichtsvorstellung zum Ausdruck kommenden Verhältnisses zwischen einem Eindruck und dem sehenden Subjekt liegt offenbar dann vor, wenn sich der Eindruck auf einen einzigen Punkt beschränkt. Ist ein Lichtpunkt im Sehfeld allein gegeben, so stellen sich vermöge des oben erwähnten reflektorischen Zwanges, den der Reiz ausübt, beide Blicklinien derart auf ihn ein, daß sein Bild jederseits im Netzhautzentrum liegt, während sich außerdem die Akkommodationsapparate der Entfernung des Punktes anpassen. Der so in beiden Augen auf der Netzhautmitte sich abbildende Punkt wird einfach und zugleich in einer bestimmten Richtung und Entfernung von dem vorstellenden Subjekt gesehen.

    Hierbei wird dieses letztere selbst in der Regel durch einen im Kopfe gelegenen Punkt repräsentiert, der sich als Mittelpunkt der die Drehpunkte beider Augen verbindenden Geraden bestimmen läßt. Wir wollen diesen Punkt den Orientierungspunkt des Sehfeldes und die von ihm zum äußeren Blickpunkt, dem Konvergenzpunkt der beiden Blicklinien, gezogene Gerade die Orientierungslinie nennen. Bei der Fixation eines Punktes im Raum ist nun stets eine ziemlich genaue Vorstellung von der Richtung der Orientierungslinie vorhanden. Diese Vorstellung wird aber durch die an die Lage der beiden Augen gebundenen inneren Tastempfindungen vermittelt, die sich bei stark exzentrischen Augenstellungen durch ihre Intensität sehr bemerkbar machen. Da diese schon im einzelnen Auge gleich deutlich wahrzunehmen sind, so ist übrigens die Richtungslokalisation des monokularen ebenso vollkommen wie die des binokularen Sehens; nur fällt bei jenem die Orientierungslinie im allgemeinen mit der Blicklinie zusammen2).

2) Die Gewöhnung an das binokulare Sehen bedingt jedoch Ausnahmen hiervon, indem häufig bei Verschluß des einen Auges die Orientierungslinie von der Blicklinie im Sinne der binokularen Orientierungslinie abweicht. Dem entspricht es, daß das geschlossene die Bewegungen des sehenden Auges bis zu einem gewissen Grad im Sinne der Einstellung auf einen gemeinsamen Fixationspunkt mitzumachen pflegt.
 
 
    25. Unbestimmter als die Vorstellung der Richtung ist die der Entfernung der Objekte vom Sehenden oder der absoluten Größe der Orientierungslinie: und zwar sind wir durchweg geneigt, uns diese Größe kleiner vorzustellen, als sie wirklich ist, wie man sich überzeugt, wenn man dieselbe mit einem im Sehfeld befindlichen, etwa senkrecht zu ihr gelegenen Maßstabe vergleicht. Die als gleich groß vorgestellte Länge des Maßstabs ist dann immer erheblich kleiner als die wirkliche Länge der Orientierungslinie; und dieser Unterschied ist um so bedeutender, je weiter der Blickpunkt rückt, je länger also die Orientierungslinie ist. Die Empfindungskomponenten, welche die Vorstellung der Größe der Orientierungslinie ergeben, können nun allein diejenigen Bestandteile der an die Stellungen der beiden Augen gebundenen Spannungsempfindungen sein, die speziell mit der Konvergenzstellung der Blicklinien verbunden sind und daher ein gewisses Maß für die absolute Größe dieser Konvergenz enthalten. In der Tat beobachtet man beim Wechsel der Konvergenzstellungen Empfindungen, die beim Übergang zu stärkerer Konvergenz hauptsächlich am inneren, beim Übergang zu schwächerer am äußeren Augenwinkel ihren Sitz haben.

    26. Mittels ihrer kann sich aber die Vorstellung einer bestimmten absoluten Größe der Orientierungslinie erst auf Grund von Einflüssen entwickeln, bei denen neben den direkten Empfindungselementen mannigfache Assoziationen eine Rolle spielen. Hieraus erklärt es sich, daß jene Vorstellung nicht nur relativ unsicher ist, sondern daß sie auch durch andere Bestandteile der Gesichtswahrnehmungen, namentlich durch die Größe der Netzhautbilder bekannter Objekte, bald unterstützt, bald beeinträchtigt wird. Dagegen besitzen wir in den Konvergenzempfindungen ein verhältnismäßig feines Maß für Entfernungsunterschiede der gesehenen Objekte. Man kann auf diese Weise bei Stellungen des Auges, die sich der Parallelstellung nähern, noch Konvergenzänderungen empfinden, die einer Winkeldrehung von 60–70 Sek. entsprechen. Mit der Zunahme der Konvergenz nimmt diese kleinste empfindbare Änderung zwar beträchtlich zu, jedoch so, daß trotzdem die entsprechenden Unterschiede in der Größe der Orientierungslinie immer kleiner werden. Dabei werden die an sich rein intensiven Empfindungen, welche die Konvergenzbewegungen begleiten, unmittelbar in Vorstellungen einer Distanzänderung zwischen dem Fixationspunkt und dem Orientierungspunkt des vorstellenden Subjekts umgesetzt.

    Daß auch diese Umsetzung eines bestimmten Empfindungskomplexes in eine räumliche Distanzvorstellung nicht auf einer angeborenen Energie, sondern auf einer bestimmten psychischen Entwicklung beruht, zeigen übrigens zahlreiche Erfahrungen. Hierher gehört z. B. die Tatsache, daß die Auffassung von absoluten Entfernungen wie von Entfernungsunterschieden in hohem Maße durch die Übung vervollkommnet wird. So sind Kinder meist geneigt, sehr entfernte Gegenstände in unmittelbare Nähe zu verlegen: sie greifen nach dem Monde, nach dem Dachdecker auf dem Turm u. dgl. Ebenso hat man bei operierten Blindgeborenen unmittelbar nach der Operation eine völlige Unfähigkeit, nah und fern zu unterscheiden, beobachtet.

    27. Bei der Entwicklung dieser Unterscheidung kommt nun in Betracht, daß uns unter den natürlichen Bedingungen des Sehens niemals bloß isolierte Punkte, sondern daß uns ausgedehnte körperliche Objekte oder mindestens mehrere in verschiedener Tiefenentfernung gelegene Punkte gegeben sind, denen wir im Verhältnis zueinander auf den zu ihnen gehörigen Orientierungslinien verschiedene Entfernungen anweisen.

    Fassen wir hier zunächst den einfachen Fall ins Auge, daß zwei in verschiedener Tiefendistanz gelegene Punkte a und b gegeben und durch eine gerade Linie miteinander verbunden seien. Ein Wechsel der Fixation zwischen a und b führt dann stets zugleich eine Konvergenzänderung mit sich, und es wird demnach ein solcher Wechsel erstens das Durchlaufen einer der Strecke a b entsprechenden stetigen Reihe von Lokalzeichen der Netzhaut und zweitens eine der Konvergenz um die Distanz a b entsprechende innere Tastempfindung a hervorbringen. Damit sind auch hier die Elemente eines räumlichen Verschmelzungsprodukts gegeben. Dieses ist aber ein eigenartiges: es unterscheidet sich in seinen beiden Bestandteilen, in der ablaufenden Lokalzeichenreihe und in den begleitenden Tastempfindungen, durchaus von jenen Verschmelzungen, die beim Durchlaufen einer Strecke im Sehfeld entstehen. Während in dem letzteren Fall die Veränderungen sowohl der Lokalzeichen wie der Tastempfindungen in beiden Augen im gleichen Sinn erfolgen, geschehen sie bei der Einstellung des Blickpunkts von fern auf nahe oder von nahe auf fern jedesmal in beiden Augen in entgegengesetztem Sinne. Denn wenn sich bei der Konvergenzänderung das rechte Auge nach links dreht, so dreht sich das linke nach rechts, und umgekehrt; das nämliche muß dann aber von der Bewegung der Netzhautbilder gelten: bewegt sich das Bild des soeben vom Blickpunkt verlassenen Punktes im rechten Auge nach rechts, so bewegt es sich im linken nach links, und umgekehrt. Ersteres tritt ein, wenn die Augen von einem näheren zu einem ferneren, letzteres, wenn sie von einem ferneren zu einem näheren Punkt übergehen. Die bei solchen Konvergenzbewegungen entstehenden Verschmelzungsprodukte haben also in bezug auf ihre qualitativen und intensiven Bestandteile eine analoge Zusammensetzung wie diejenigen, auf denen die wechselseitige Ordnung der Elemente des Sehfeldes beruht; die spezielle Verbindungsweise ist jedoch in beiden Fällen eine durchaus verschiedene.

    28. Auf diese Weise bilden hier die Verschmelzungen der Lokalzeichen mit den inneren Tastempfindungen ein dem oben abgeleiteten analoges, aber in seiner Zusammensetzung eigentümliches komplexes Lokalzeichensystem, welches dem Verhältnis der objektiven Elemente zueinander das Verhältnis derselben zu dem vorstellenden Subjekt hinzufügt. Dieses Verhältnis zerfällt dann wieder in die zwei durch eigenartige Empfindungselemente gekennzeichneten Vorstellungskomponenten der Richtungsvorstellung und der Entfernungsvorstellung. Beide werden zunächst auf den im Kopfe des vorstellenden Subjekts lokalisierten Orientierungspunkt bezogen, dann aber auf die Beziehungen äußerer Objekte zueinander übertragen, indem je zwei Punkten, die auf der allgemeinen Orientierungslinie in verschiedenen Entfernungen liegen, selbst wieder in bezug aufeinander eine Richtung und Entfernung beigelegt wird. Die Gesamtheit der so auf die Orientierungslinie in ihren wechselnden Lagen zurückbezogenen räumlichen Entfernungsvorstellungen bezeichnen wir als Tiefenvorstellungen oder, wenn sie zugleich Vorstellungen bestimmter einzelner Objekte sind, als körperliche Vorstellungen.

    29. Eine auf die angegebene Weise entstandene Tiefenvorstellung kann nun nach objektiven und subjektiven Bedingungen wechseln. Die absolute Entfernungsbestimmung eines einzelnen im Sehfeld isolierten Punktes ist stets eine sehr unsichere. Ebenso ist aber die relative Entfernungsbestimmung zweier in verschiedener Tiefe gelegenen Punkte a und b nur dann in der Regel sicher, wenn dieselben, wie oben vorausgesetzt wurde, durch eine Linie verbunden sind, auf der sich die Blickpunkte beider Augen bei der wechselnden Einstellung auf a und b bewegen können. Bezeichnen wir solche Linien, die verschiedene Punkte im Raum verbinden, als Fixationslinien, so läßt sich diese Bedingung in dem Satz aussprechen: Punkte im Raum werden im allgemeinen nur dann in ihren richtigen Relationen zueinander aufgefaßt, wenn sie durch Fixationslinien verbunden sind, auf denen sich die Blickpunkte beider Augen bewegen können. Dieser Satz erklärt sich daraus, daß die Forderung einer regelmäßigen Verbindung der Lokalzeichen der Netzhaut mit den die Konvergenz begleitenden Spannungsempfindungen offenbar nur dann erfüllt ist, wenn bestimmte Eindrücke gegeben sind, welche die ihnen zugehörigen Lokalzeichen auslösen.

    30. Ist dagegen die angegebene Bedingung nicht erfüllt, so entsteht nur eine unbestimmte und schwankende Vorstellung der relativen Entfernungsunterschiede der zwei Punkte vom Subjekt, und bei starrer Fixation können beide sogar in gleicher Tiefendistanz wie der fixierte Punkt erscheinen. Damit tritt dann aber stets zugleich noch eine andere Veränderung ein: es wird nämlich nur der fixierte Punkt einfach, der andere näher oder ferner gelegene Punkt doppelt gesehen. Ähnliches geschieht bei der Betrachtung ausgedehnter Objekte, wenn sie mit dem binokular fixierten Punkte nicht durch Fixationslinien in Verbindung stehen. Die auf solche Art erzeugten Doppelbilder sind gleichseitig, das rechte gehört dem rechten, das linke dem linken Auge an, wenn der fixierte Punkt näher liegt als das beobachtete Objekt, wenn also z.B. in Fig. 16 c der fixierte Punkt und a das Objekt ist, dessen Doppelbilder nun bei a' und a" erscheinen. Diese sind gekreuzt, wenn das Objekt näher liegt als der fixierte Punkt c, also z. B. in b, wo b' und b" die Doppelbilder sind. In jedem dieser Fälle entspricht die wechselseitige Distanz der Doppelbilder der Größe der Winkel a' und a ", b' und b", um welche die nach der Netzhaut gezogenen Richtungslinien nach entgegen gesetzten Seiten von den im Punkte c sich schneidenden Blicklinien abweichen. Dabei werden aber meist die Doppelbilder nicht, wie in Fig. 16, in gleiche Entfernung mit dem Fixierpunkt c verlegt, sondern a’ a" erscheinen in der Regel ferner, b' b" näher als c, ohne daß übrigens diese scheinbaren Entfernungen, die wahrscheinlich zu den unten (34) zu erörternden monokularen Tiefenlokalisationen gehören, den wirklichen Entfernungen von a und b entsprechen.

Fig. 16. Gleichseitige und gekreuzte Doppelbilder.

    Hiernach sind binokulare Entfernungslokalisation und binokulare Doppelbilder Erscheinungen, die in unmittelbarer Wechselbeziehung zueinander stehen: wo jene unbestimmt oder schwankend ist, da treten diese auf; wo umgekehrt diese fehlen, da ist jene bestimmt und genau. Zugleich sind beide Erscheinungen derart an die Fixationslinien geknüpft, daß diese Linien die Entstehung der Tiefenvorstellung vermitteln helfen und damit zugleich die Doppelbilder beseitigen. Doch ist die letztere Regel keine ausnahmslose, sondern bei starrer binokularer Fixation eines Punktes können trotz vorhandener Fixationslinien Doppelbilder entstehen. Auch dies erklärt sich aus den oben im allgemeinen vorausgesetzten Bedingungen der Tiefen Vorstellungen. Wie bei dem Mangel der Fixationslinien die geforderten Lokalzeichenordnungen, so müssen nämlich bei starrer Fixation die an die Konvergenzbewegung gebundenen inneren Tastempfindungen des Auges hinwegfallen.

c. Beziehungen zwischen der wechselseitigen Orientierung der Elemente
und ihrer Orientierung zum Subjekt.

    31. Sobald das Sehfeld nur als eine wechselseitige Orientierung der Lichteindrücke gedacht wird, stellen wir uns dasselbe als eine Fläche vor und bezeichnen daher die einzelnen in dieser Fläche gelegenen Objekte, im Gegensatze zu den Tiefenvorstellungen, als Flächenvorstellungen. Auch in einer Flächenvorstellung kann jedoch in doppelter Hinsicht die Orientierung in bezug auf das sehende Subjekt niemals fehlen: erstens insofern jeder Punkt des Sehfeldes auf der oben erwähnten subjektiven Orientierungslinie in einer bestimmten Richtung gesehen wird; und zweitens insofern das ganze Sehfeld in eine mehr oder weniger fest bestimmte Entfernung vom Sehenden verlegt wird.

    Die erste dieser Orientierungen hat zur Folge, daß dem umgekehrten Netzhautbild ein aufrechtstehendes Vorstellungsobjekt entspricht. Dieses Verhältnis der objektiven Richtungslokalisation zum Netzhautbild ist eine ebenso notwendige Wirkung der Bewegungen des Auges, wie die Umkehrung des Netzhautbildes selbst eine Wirkung der optischen Eigenschaften des Auges ist. Unsere Orientierungslinie im Raum ist ja die äußere Blicklinie oder, für das binokulare Sehen, die aus dem Zusammenwirken der Blickbewegungen hervorgehende mittlere Orientierungslinie. Einer im äußeren Raum nach oben gehenden Richtung dieser Linie entspricht aber in dem hinter dem Drehpunkt gelegenen Raum des Netzhautbildes eine nach unten gehende Richtung, und umgekehrt.

    32. Die zweite nie fehlende Orientierung, die der Entfernung des Sehfeldes, führt für die wechselseitige Orientierung der Teile desselben die Folge mit sich, daß die sämtlichen Punkte des Sehfeldes auf einer Hohlkugelfläche angeordnet erscheinen, deren Mittelpunkt im Orientierungspunkt oder beim monokularen Sehen im Drehpunkt des Auges liegt. Da nun ein kleinerer Teil einer größeren Kugelfläche als eine Ebene erscheint, so sind die auf einzelne Objekte bezogenen Flächenvorstellungen in der Regel ebene Vorstellungen: so z.B. auf einer Ebene gezeichnete Figuren, wie die der ebenen Geometrie. Sobald sich aber einzelne Teile derart von diesem allgemeinen Sehfelde abheben, daß sie vor oder hinter demselben, also in verschiedenen Sehfeldflächen, lokalisiert werden, so geht damit die Flächen- in die Tiefenvor-stellung über.

    32 a. Bezeichnen wir die bei der Konvergenz von einem ferneren auf einen näheren oder von einem näheren auf einen ferneren Punkt entstehenden Verschmelzungen qualitativer Lokalzeichen mit inneren Tastempfindungen als die komplexen Lokalzeichen der Tiefe, so bilden diese für jedes System irgendwie vor und hinter dem Fixierpunkt gelegener Punkte oder für einen ausgedehnten Körper, der nichts anderes als ein System derartiger Punkte ist, ein regelmäßig geordnetes System, in welchem eine in bestimmter Entfernung befindliche stereometrische Form stets eindeutig durch ein bestimmtes Verschmelzungsprodukt vertreten wird. Wie aber schon, wenn man von zwei in verschiedener Tiefe gelegenen Punkten einen fixiert, der andere durch entgegengesetzte Bildlage in beiden Augen und dementsprechend durch komplexe Lokalzeichen von entgegengesetzter Richtung charakterisiert ist, so findet das auch bei zusammenhängenden Systemen von Punkten oder ausgedehnten Körpern statt. Wenn wir einen körperlich ausgedehnten Gegenstand betrachten, so entwirft er in beiden Augen Bilder, die, wegen der verschiedenen Orientierung des Körpers zu jedem Auge, voneinander verschieden sind. Bezeichnet man daher die Lagedifferenz eines Bildpunkts im einen von der im andern Auge als binokulare Parallaxe, so ist diese nur für den fixierten Punkt sowie annähernd für diejenigen Punkte, die in gleicher Tiefenentfernung liegen wie jener, gleich Null; für alle andern Punkte aber hat sie einen bestimmten positiven oder negativen Wert, je nachdem dieselben ferner oder näher sind als der Fixationspunkt. Wenn wir körperlich ausgedehnte Objekte binokular fixieren, so entwirft nur der fixierte Punkt samt den mit ihm in gleicher Entfernung gelegenen und ihm im Sehfeld benachbarten Punkten in beiden Augen Bilder von übereinstimmender Lage. Alle nicht in gleicher Entfernung gelegenen Teile des Objekts dagegen entwerfen in beiden Augen Bilder von abweichender Lage und Größe. So entwirft z. B. in Fig. 17 der Punkt d in beiden Augen die Bilder d und b, die beide gleichweit von den Zentren a b der beiden Netzhäute entfernt sind; der Punkt e dagegen entwirft links das Bild e, rechts b, die beide eine verschiedene Lage haben. Die Größe dieser Abweichung oder der Unterschied der beiden Winkel b bund a e ist die binokulare Parallaxe. Die durch diese gemessenen Unterschiede der Bilder sind es nun, die, wenn die zugehörigen Fixationslinien gegeben sind, die Vorstellung der körperlichen Beschaffenheit des Objekts hervorbringen. Denn indem in der oben angegebenen Weise der parallaktische Verschiebungswinkel den binokularen Bildpunkten irgendeines vor oder hinter dem fixierten Punkte gelegenen und mit ihm durch eine Fixationslinie verbundenen Objektpunkts entspricht, ist derselbe seiner Richtung und Größe nach durch die an ihn gebundenen komplexen Lokalzeichen ein Maß für die relative Tiefendistanz dieses Objektpunkts. So ist in Fig. 17 die Verschiebung des Bildes egegen b ein Maß für die Nähelage des Objektpunkts e im Vergleich mit d, und die Parallaxe der sämtlichen Punkte des Stabes A' B' ist demnach ein Maß für dessen von A B abweichende Lage. Da der parallaktische Verschiebungswinkel für eine gegebene objektive Tiefendistanz proportional der Entfernung des körperlichen Gegenstandes abnimmt, so vermindert sich mit dieser Entfernung der Eindruck der Körperlichkeit der Objekte; und sobald die Entfernung eines Körpers so groß geworden ist, daß die sämtlichen parallaktischen Verschiebungswinkel verschwinden, so wird der Körper nur noch flächenhaft gesehen, falls nicht die später (in § 16, 9) zu erörternden Assoziationen eine Tiefenvorstellung erzeugen.

Fig. 17. Binokulare Parallaxe.

    33. Der Einfluß des binokularen Sehens auf die Tiefenvorstellungen läßt sich experimentell mit Hilfe des Stereoskops studieren. Die Wirkung dieses Instruments beruht darauf, daß es mit Hilfe von zwei Prismen, die, mit den brechenden Winkeln einander zugekehrt, vor beide Augen gebracht werden, eine binokulare Vereinigung zweier ebener Zeichnungen ermöglicht, welche den beiden von einem körperlichen Gegenstände herrührenden Netzhautbildern entsprechen (Fig. 18). Die binokular vereinigten Bilder a und b werden hierbei nach dem Orte c verlegt, auf welchen die Gesichtslinien der Augen eingestellt sind, und sie erscheinen demnach ganz so wie ein wirklicher körperlicher Gegenstand, der sich an diesem Ort befände. Dabei bedürfen übrigens verwickeltere stereoskopische Bilder meist mehrerer hin- und hergehender Konvergenzbewegungen, ehe eine deutliche plastische Vorstellung entsteht. Die Wirkung der parallaktischen Verschiebung zeigt sich am deutlichsten bei der Beobachtung stereoskopischer Bilder, deren Teile gegeneinander beweglich sind. Solche Bewegungen sind dann von Veränderungen des Reliefs begleitet, die genau den eintretenden Veränderungen der binokularen Parallaxe entsprechen. So erscheinen z.B. die Bilder A in Fig. 19 als eine Pyramide, deren abgestumpfte Spitze dem Beobachter zugekehrt ist. Diese geht aber, sobald man den kleineren Quadraten eine Lage wie B gibt, in eine Hohlpyramide über, in die der Beobachter hineinblickt. Da die Größe der binokularen Parallaxe von der Distanz der beiden Augen abhängt, so kann man übrigens die körperliche Vorstellung auch bei solchen Objekten hervorbringen, die in Wirklichkeit wegen ihrer großen Entfernung vom Sehenden keine plastischen Effekte erzeugen: wenn man nämlich Bilder dieser Objekte stereoskopisch verbindet, die von Standorten aufgenommen sind, deren Distanz erheblich größer als die der beiden Augen ist. Dies geschieht z. B. bei den stereoskopischen Landschaftsphotographien, die darum auch nicht so wie die wirklichen Landschaften, sondern wie plastische Modelle derselben aussehen, die wir in der Nähe betrachten.

Fig. 18. Stereoskop. Fig. 19. Stereoskopische Objekte.

    34. Beim Sehen mit einem Auge fallen alle die Bedingungen hinweg, die mit den Konvergenzbewegungen und der binokularen Verschiedenheit der Netzhautbilder zusammenhängen, und die sich im Stereoskop künstlich nachahmen lassen. Dennoch ermangelt auch das monokulare Sehen nicht aller Einflüsse, die eine, wenn auch unvollkommenere, Tiefenlokalisation hervorbringen.

    Wenig erheblich, ja im Vergleich mit den andern Bedingungen wohl kaum in Betracht kommend ist hier der direkte Einfluß der Akkommodationsbewegungen. Allerdings sind auch sie, ähnlich den Konvergenzbewegungen, von Empfindungen begleitet, die man bei starken Akkommodationsanstrengungen von fern auf nah deutlich wahrnimmt. Aber bei geringeren Tiefenverschiebungen sind diese Empfindungen sehr unsicher. Wenn man daher monokular einen Punkt fixiert, so wird eine Bewegung desselben in der Richtung der Blicklinie meistens erst deutlich wahrgenommen, sobald auch eine Veränderung in der Größe des Netzhautbildes eingetreten ist.

    35. Von überwiegender Bedeutung sind dagegen bei der Ausbildung monokularer Körpervorstellungen die Einflüsse, welche die Bestandteile der sogenannten Perspektive ausüben, wie relative Größe des Gesichtswinkels, Verlauf der Begrenzungslinien, Richtung der Schatten, Änderung der Farben durch atmosphärische Absorption usw. Da alle diese Einflüsse, die sich in ganz übereinstimmender Weise bei monokularem Sehen geltend machen, auf Vorstellungsassoziationen beruhen, so wird aber erst in einem folgenden Kapitel (§ 16) auf sie einzugehen sein.

    35a. In der Erklärung der Gesichtsvorstellungen stehen sich im allgemeinen die nämlichen theoretischen Anschauungen gegenüber, die uns bei der Theorie der Tastvorstellungen begegnet sind (s. o. Pkt. 12. ff.). Die empiristische Theorie hat hier in ihrer Beschränkung auf das optische Gebiet zuweilen die Inkonsequenz begangen, daß sie das eigentliche Problem der Raumwahrnehmung dem Tastsinn zuschob und sich demnach darauf beschränkte, zu erörtern, wie auf Grund bereits vorhandener räumlicher Tastvorstellungen eine Lokalisation der Gesichtseindrücke mit Hilfe der Erfahrung zustande komme. Eine solche Interpretation steht aber nicht nur in einem inneren Widerspruch mit sich selber, sondern sie widerspricht auch der Erfahrung, welche zeigt, daß bei sehenden Menschen die räumlichen Wahrnehmungen des Gesichtssinnes für die des Tastsinns bestimmend sind, nicht umgekehrt (s. o. Pkt, 4). Die Tatsache der generellen Entwicklung, daß der Tastsinn der früher ausgebildete Sinn ist, läßt sich also hier nicht auf die individuelle Entwicklung übertragen. Für die nativistische Theorie hat man als hauptsächlichste Belege erstens die Metamorphopsien nach Dislokationen der Netzhautelemente (s. o.) und zweitens die auf eine ursprüngliche gemeinsame Funktion des Doppelauges hinweisende Lage der Orientierungslinie angeführt. Daß die Metamorphopsien, ebenso wie andere ihnen verwandte Erscheinungen, sobald die zugrunde liegenden Veränderungen stationär werden, das Gegenteil beweisen, ist oben bemerkt worden. Daß ferner die Lage der Orientierungslinie keine ursprüngliche, sondern eine unter dem Einfluß der Bedingungen des Sehens entstandene ist, bezeugt das bei länger dauerndem monokularem Sehen erfolgende Zusammenfallen derselben mit der Blicklinie des sehenden Auges. Nicht minder spricht für eine genetische und gegen die nativistische Theorie die Tatsache, daß sich beim menschlichen Kinde die Synergie der Augenbewegungen unter dem Einfluß der Lichtreize entwickelt, und daß damit die Ausbildung der räumlichen Wahrnehmungen Hand in Hand zu gehen scheint. In dieser wie in mancher andern Beziehung verhält sich freilich die Entwicklung der meisten Tiere insofern abweichend, als bei ihnen die reflektorischen Verbindungen der Netzhauteindrücke mit den Augen- und Kopfbewegungen unmittelbar nach der Geburt schon vollkommen funktionieren (vgl. unten § 19, 2). Die Verschmelzungstheorie hat über die in älterer Zeit vorherrschenden nativistischen und empiristischen Anschauungen zunächst infolge des eindringenderen Studiums der Erscheinungen des binokularen Sehens die Vorherrschaft gewonnen. Vom Standpunkt des Nativismus aus machte namentlich die Frage, warum wir die Gegenstände im allgemeinen einfach sehen, während doch in jedem der beiden Augen Bilder derselben entworfen werden, Schwierigkeiten. Man suchte diese zu umgehen, indem man annahm, je zwei identisch gelegene Netzhautpunkte stünden mit einer und derselben, an der Kreuzungsstelle der Sehnerven sich teilenden Optikusfaser in Verbindung und repräsentierten daher im Sensorium nur einen einzigen Raumpunkt. Diese Lehre von der "Identität der zwei Netzhäute" wurde aber unhaltbar, sobald man sich über die wirklichen Bedingungen des binokularen körperlichen Sehens Rechenschaft zu geben anfing.

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