II. Die psychischen Gebilde.

§ 8. Begriff und Einteilung der psychischen Gebilde.

    l. Unter einem "psychischen Gebilde" verstehen wir jeden zusammengesetzten Bestandteil unserer unmittelbaren Erfahrung, der durch bestimmte Merkmale von dem übrigen Inhalte derselben derart sich abgrenzt, daß er als eine relativ selbständige Einheit aufgefaßt wird, und wo das praktische Bedürfnis es fordert, mit einem besonderen Namen bezeichnet worden ist. Hierbei hat diese Namengebung die allgemein von der Sprache festgehaltene Regel befolgt, daß sie sich auf die Bezeichnung der Klassen und der hauptsächlichsten Gattungen beschränkt, denen die Erscheinungen untergeordnet werden können. So bezeichnen Ausdrücke wie Vorstellungen, Affekte, Willenshandlungen u. dgl. allgemeine Klassen psychischer Gebilde, solche wie Gesichtsvorstellungen, Freude, Zorn, Hoffnung u. dgl. einzelne in jenen Klassen enthaltene Gattungen. Insoweit solche Benennungen auf tatsächlich vorhandenen unterscheidenden Merkmalen beruhen, werden sie auch für die psychologische Analyse einen gewissen Wert besitzen. Doch hat diese von vornherein zwei Vorurteile fern zu halten, zu denen jene ursprünglichen Ausdrücke leicht verführen: das eine besteht in der Ansicht, daß ein psychisches Gebilde ein absolut selbständiger Inhalt unserer unmittelbaren Erfahrung sei; das andere in der Meinung, daß gewissen Gebilden, wie z. B. den Vorstellungen, eine Art dinglicher Realität zukomme. In Wahrheit haben die Gebilde nur die Bedeutung relativ selbständiger Einheiten, die, wie sie selbst aus mannigfachen Elementen zusammengesetzt sind, so untereinander in einem durchgängigen Zusammenhange stehen, in welchem sich zugleich fortwährend relativ einfachere zu verwickelteren verbinden können. Ferner sind die Gebilde, ebenso wie die in ihnen enthaltenen psychischen Elemente, niemals Objekte, sondern Vorgänge, die sich von einem Moment zum andern verändern, und die daher nur durch eine willkürliche Abstraktion, die zum Behuf der Untersuchung mancher derselben freilich unerläßlich ist, in einem beliebigen Moment fixiert gedacht werden können. (Vgl. § 2. Pkt. 5)

    2. Alle psychischen Gebilde sind in psychische Elemente, also in reine Empfindungen und in einfache Gefühle, zerlegbar. Hierbei verhalten sich aber diese Elemente, gemäß den in § 7 erörterten Eigenschaften der einfachen Gefühle, darin wesentlich abweichend, daß die bei einer solchen Zerlegung gewonnenen Empfindungselemente stets einem der früher betrachteten Empfindungssysteme angehören, während sich als Gefühlselemente nicht nur solche ergeben, die den im Gebilde enthaltenen reinen Empfindungen korrespondieren, sondern auch solche, die aus der Zusammensetzung der Elemente zu einem Gebilde überhaupt erst hervorgehen. Darum bleiben die Qualitätssysteme der Empfindungen bei der Entwicklung der mannigfaltigsten Gebilde konstant, während die Qualitätssysteme einfacher Gefühle bei dieser Entwicklung fortwährend zunehmen. Ferner gilt aber für alle psychischen Gebilde, mögen sie nun aus Empfindungen oder aus Gefühlen oder aus beiden zugleich bestehen, daß die Eigenschaften der psychischen Gebilde niemals durch die Eigenschaften der psychischen Elemente erschöpft werden, die in sie eingehen. Vielmehr entstehen infolge der Verbindung der Elemente immer neue Eigenschaften, die den Gebilden als solchen eigentümlich sind. So enthält eine Gesichtsvorstellung nicht bloß die Eigenschaften der Lichtempfindungen und allenfalls noch der Lage- und Bewegungsempfindungen des Auges, die in ihr enthalten sind, sondern außerdem auch die einer besonderen räumlichen Ordnung der Empfindungen, wovon letztere an und für sich nichts enthalten; oder ein Willensvorgang besteht nicht bloß aus den Vorstellungen und Gefühlen, in die sich die einzelnen Akte desselben zerlegen lassen, sondern es resultieren aus der Verbindung dieser Akte neue Gefühlselemente, die dem Willensvorgang als solchem spezifisch eigentümlich sind. Hierbei verhalten sich aber die Verbindungen der Empfindungs- und die der Gefühlselemente wieder darin abweichend, daß bei den ersteren vermöge der Konstanz der Empfindungssysteme nicht neue Empfindungen, sondern eigentümliche Formen der Ordnung der Empfindungen entstehen: diese Formen sind die intensiven, sowie die räumlichen und die zeitlichen extensiven Mannigfaltigkeiten; bei den Verbindungen der Gefühlselemente bilden sich dagegen neue einfache Gefühle, die mit den ursprünglichen vereinigt stets intensive Gefühlseinheiten von zusammengesetzter Beschaffenheit darstellen.

    3. Die Einteilung der psychischen Gebilde richtet sich naturgemäß nach den Elementen, aus denen sie bestehen. Gebilde, die entweder ganz oder vorzugsweise aus Empfindungen zusammengesetzt sind, bezeichnen wir als Vorstellungen; solche, die vorzugsweise aus Gefühlselementen bestehen, als Gemütsbewegungen. Hierbei gelten aber für die Gebilde ähnliche Einschränkungen wie für die entsprechenden Elemente: sind sie auch mehr als diese aus der unmittelbaren Unterscheidung der realen psychischen Vorgänge hervorgegangen, so gibt es doch einen reinen Vorstellungsprozeß im Grunde ebensowenig wie eine reine Gemütsbewegung, sondern wir können nur entweder dort von dieser, oder hier in einem gewissen Grade von jenem abstrahieren. Dabei stellt sich dann wieder ein ähnliches Verhältnis wie auch bei den Elementen heraus, indem man zwar bei den Vorstellungen die begleitenden subjektiven Zustände außer Betracht lassen kann, wogegen die Schilderung der Gemütsbewegungen immer irgendwelche Vorstellungen voraussetzen muß.

    Hiernach unterscheiden wir zunächst drei Hauptformen von Vorstellungen: l) intensive Vorstellungen, 2) räumliche Vorstellungen, und 3) zeitliche Vorstellungen; ebenso drei Formen von Gemütsbewegungen: l) intensive Gefühlsverbindungen, 2) Affekte, und 3) Willensvorgänge. Die zeitlichen Vorstellungen bilden insofern zugleich Übergangsglieder zwischen beiden Arten der Gebilde, als bei ihrer Entstehung bestimmte Gefühle eine wesentliche Rolle spielen.