Die Aufgaben

der experimentellen Psychologie.

Von

Wilhelm Wundt.

Separatabdruck aus "Unsere Zeit", 1882. III. (Leipzig, F. A. Brockhaus.)

    Die heutigen Aufgaben psychologischer Forschung hat Albert Lange in seiner "Geschichte des Materialismus" kurz und bündig in dem Namen einer "Psychologie ohne Seele" zusammengefaßt. Das überlieferte Wort für ein bestimmtes Gebiet untereinander verbundener Erscheinungen beibehaltend, betrachte man, so meinte er, als den Gegenstand der Untersuchung lediglich jene Erscheinungen selbst, kein hinter ihnen verborgenes mythologisches Wesen und keine der Erfahrung unzugängliche metaphysische Substanz. Wie so manches andere geflügelte Wort, so mußte auch dieses es sich gefallen lassen, daß seine Spitze gegen diejenige Richtung gekehrt wurde, in deren Interesse es erfunden war. Von einer "Psychologie ohne Seele" reden heutzutage mit Vorliebe Philosophen, die durch diesen widerspruchsvollen Ausdruck die Inhaltlosigkeit gewisser Bestrebungen hinlänglich gerichtet meinen. Manchmal ist man auch liebenswürdig genug, nebenbei anzudeuten, daß wohl etwas von dem, was ihrer Wissenschaft fehle, den betreffenden Psychologen selber abhanden gekommen sei.

    Gleichwohl hat dieser Gegensatz der Anschauungen weniger seinen Grund in dem Ziel, welchem man zustrebt, als in der Methode, die man dazu geeignet glaubt. Die metaphysische Psychologie stellt eine bestimmte Voraussetzung, welche die Mannigfaltigkeit der geistigen Erscheinungen verbinden soll, an die Spitze ihrer Untersuchungen. Die sogenannte Psychologie ohne Seele will keineswegs auf die Hilfe einer allgemeinen Hypothese verzichten, welche zur Verknüpfung des Ganzen und zur Erleuchtung des Einzelnen dienen mag. Aber sie ist der Meinung, daß diese Hypothese dem Gebiet der psychologischen Forschung selbst zu entnehmen sei, und daß sie daher nicht der Untersuchung vorausgehen, sondern ihr nachfolgen müsse. Dieser eine Unterschied führt alle anderen mit sich. Die metaphysische Psychologie legt einen verhältnismäßig geringen Wert auf die Vermehrung der methodischen Hilfsmittel. Indem ihr Interesse vorwiegend durch transzendente Fragen in Anspruch genommen wird, auf die sie übrigens schon die Antwort bereit hat, bieten ihr die empirischen Erscheinungen bloß eine willkommene Gelegenheit, um ihre Überzeugung auch im einzelnen zu bekräftigen. Die entgegengesetzte Richtung muß, gerade weil sie der Basis einer im voraus gebildeten Ansicht entbehrt, um so mehr darauf bedacht sein, die Tatsachen sicherzustellen, die auch ihr schließlich zu einer maßgebenden Grundanschauung verhelfen sollen. Auf welchem anderen Wege könnte sie aber diese Sicherheit der Tatsachen finden als auf demjenigen, welchen lange zuvor die Naturwissenschaft gegangen ist: auf dem Wege der Ergänzung und Berichtigung der subjektiven Wahrnehmung durch eine objektive experimentelle Beobachtung? An Stelle jener schiefen Bezeichnung der "Psychologie ohne Seele", welche höchstens für einen vorübergehenden Entwickelungszustand eine gewisse Wahrheit besitzt, tritt so der inhaltvollere Name der experimentellen Psychologie.

    Jede wissenschaftliche Richtung hat ihre Quellen in der Vergangenheit. Auch die Gegensätze, von denen wir hier reden, sind nicht erst von heute. Obgleich die Betonung der experimentellen Beobachtung auf psychischem Gebiete und der Nachweis ihrer Möglichkeit neueren Datums sind, so hat doch längst die englische Erfahrungsphilosophie im ganzen ähnliche Gedanken zur Geltung gebracht. Dieser Umstand bietet gewissen Metaphysikern einen willkommenen Anlaß, jene Richtung als einen Empirismus zu brandmarken, dem man, um ihm sein unphilosophisches Wesen möglichst fühlbar zu machen, mit Vorliebe den Beisatz des "rohen" zu geben pflegt. Und auch hier hat man nichts dagegen, wenn ein leiser Schatten von dieser angeblichen Rohheit der Anschauungen gelegentlich auf diejenigen zurückfällt, die sie vertreten. Daß vollends der Empirismus, als philosophische Lehre wenigstens, im Auslande seine Heimat hat, gibt eine gute Gelegenheit zur Äußerung patriotischer Gefühle. In einer Zeit, in welcher man seine industriellen Erzeugnisse gegen fremde Konkurrenz zu sichern sucht, ist es billig, daß auch der Import von Philosophie einem moralischen Eingangszoll unterworfen werde, und man kündigt daher das betreffende Produkt möglichst laut als eine auswärtige Ware an.

    Freilich, mit der Frage nach dem Ursprung der philosophischen Richtungen ist es beinahe eine ebenso heikle Sache, wie mit der Frage nach der Reinheit der Nationalität. Unsere Metaphysiker von heute, die im wesentlichen bemüht sind, die im Umlauf befindlichen populären Vorstellungen über Gott, Seele und Welt in eine wissenschaftliche Form umzuprägen, haben es völlig vergessen, daß kein anderer als der Franzose Descartes durch eine eigentümliche Verschmelzung scholastischer Ideen mit der modernen mathematisch-physikalischen Gedankenrichtung jene Vorstellungen hervorgebracht hat. Zwar sind dieselben späterhin mannigfachen Wandlungen unterworfen gewesen, und gelegentlich hängen die Entwickelungen des neuern Rationalismus fast nur noch durch gewisse Grundmotive der Methode mit ihrem Ursprung zusammen. Doch mit den philosophischen Ideen geht es wie mit den Mythenbildungen. Die Systeme der Vergangenheit dringen langsam in das populäre Denken ein, und während auf den Höhen der Wissenschaft längst andere Anschauungen maßgebend geworden sind, beginnen jene erst recht in den Vorstellungen der großen Menge zu herrschen. Die philosophischen Epigonen aber werden dann schließlich selbst von dem Strom des populären Denkens mitgerissen, und je mehr eine Zeit über der Pflege der längst erworbenen Schätze die eigene Gedankenarbeit ruhen läßt, um so leichter geschieht es, daß die Ideen der Philosophen mit denjenigen der ungeheuern Majorität ihrer Mitmenschen auf das glücklichste übereinstimmen. So ist es denn, meine ich, eine von unseren Historikern der Philosophie viel zu wenig beachtete Tatsache, daß die philosophische Glaubensregel unserer sogenannten Gebildeten und beinahe auch schon der Ungebildeten nichts anderes ist als Cartesianismus. Daß die Substanzen dieser Welt in Geister und Körper zerfallen, daß die Geister unräumlich sind und die Körper ausgedehnt, daß die Geister den Gesetzen des Denkens folgen und die Körper den Gesetzen der Mechanik, daß die Geister frei sind und die Körper einer blinden Kausalität gehorchen, und daß gleichwohl diese verschiedenen Wesen sich gelegentlich miteinander verbinden und aufeinander wirken können — wen gibt es unter den Nichtphilosophen, der nicht diese an und für sich merkwürdigen, aber durch lange Gewohnheit uns vollkommen begreiflich gewordenen Sätze bereitwillig unterschriebe? Ja, wenn wir ganz vereinzelte Anhänger abweichender Sekten ausnehmen, kommt nicht die Herzensmeinung einer großen Anzahl unserer Fachphilosophen, die sich gegenseitig Rationalisten und Empiriker schelten, schließlich, mit etwas spekulativem oder kritischem Ornament versehen, ziemlich genau auf jene Weisheit hinaus, welche die Spatzen von den Dächern pfeifen? Aber eben diese Philosophie, die jetzt so gemein geworden ist, daß wir sie kaum mehr für Philosophie gelten lassen, ist der unverfälschte Cartesianismus, und zu Cartesius’ Zeiten waren jene Dinge keineswegs wie heutzutage selbstverständliche Wahrheiten, sondern das Dogma von der unausgedehnten, aber in irgendeinem Punkt an den Körper gehefteten Seele erfuhr ebenso lebhaften Widerspruch wie die mechanische Auffassung der Natur. Das ist ja das Schicksal solcher Lehren, die eine folgenreiche historische Bedeutung zu erringen vermögen: zuerst gelten sie als heterodox und gefährlich, und zuletzt werden sie zu Glaubenssätzen, an denen ebenso wenig zu zweifeln erlaubt ist wie an den Grundlagen der Sittlichkeit und der Religion. Der Cartesianismus hat in dieser Beziehung für die Neuzeit die nämliche Bedeutung gewonnen wie die Aristotelische Philosophie für das Mittelalter. Auch diese war bekanntlich noch im Anfang des 13. Jahrhunderts verpönt und verfolgt, und am Ende desselben hatte sich der heidnische Philosoph bereits glücklich zu dem Range eines "praecursor Christi in rebus naturalibus" emporgeschwungen. So weit hat es nun freilich der moderne Franzose nicht gebracht. Nicht einmal zum Kirchenheiligen ist er befördert worden. Doch die stilleren Wirkungen sind nicht immer die schwächern. Das Freiheitsbewußtsein der Neuzeit erträgt nicht mehr jene äußere Unterordnung unter eine einzige Autorität, welche das scholastische Mittelalter verlangte. Innerlich ist darum das Autoritätsbedürfnis der Menschen vielleicht nicht geringer geworden. Eine Autorität wird aber von uns Modernen leichter geduldet, wenn sie ihren Namen verloren hat und man glücklich dahin gelangt ist, Meinungen von einer verhältnismäßig kurzen Vergangenheit für so einleuchtend und notwendig anzusehen, daß man anfängt, sie für angeborene Ideen eines jeden denkenden Menschen zu halten.

    Es ist nicht ohne Bedeutung, sich die historischen Bedingungen zu vergegenwärtigen, unter denen die Cartesianische Philosophie entstand. Sie fällt in die große Zeit des Aufblühens der Naturwissenschaften. Das Kopernikanische Weltsystem war zum Siege durchgedrungen; die Kepler’schen Gesetze hatten die himmlischen Bewegungen festen Normen unterworfen; durch Stevinus und Galilei waren die Gesetze der Statik und Mechanik, durch Gilbert die Gesetze der magnetischen Kraft, durch Harvey die mechanischen Erscheinungen des Blutlaufs entdeckt worden. Alles schien einer durchgängig mechanischen Erklärung der Natur zuzustreben. Cartesius selbst unternahm es als der erste, ein bis ins Einzelnste durchgeführtes System der mechanischen Naturphilosophie zu entwerfen. In diesem hatte das geistige Leben des Menschen keinen Platz, aber seiner Gebundenheit an die Materie schien die Vorstellung einer äußerlichen Verbindung zwischen Seele und Körper zu entsprechen. Indem sich Cartesius die Wechselwirkungen zwischen beiden durchaus mechanisch dachte, überwog in seinem Dualismus der Materialismus. Die Präponderanz der mechanischen Physik seiner Zeit kam darin deutlich zum Durchbruch. Es scheint um so nötiger, auf diesen materialistischen Charakter des Cartesianismus hinzuweisen, als bei modernen Anhängern desselben die Neigung nicht allzu selten ist, Vertreter ganz entgegengesetzter Weltanschauungen des Materialismus zu zeihen. Einen logischen Grund hat dieses Verfahren eigentlich nicht, aber wenn man die Bedeutung philosophischer Schlagwörter kennt, so wird es psychologisch einigermaßen erklärlich. Der Materialismus hat einen übeln Geruch. Will man also möglichst energisch andeuten, daß man irgendeine Meinung nicht teilt, so nennt man sie Materialismus. Zu den Wenigen sicherstehenden Ergebnissen, zu welchen die Philosophie bis dahin gelangt ist, gehört dieses, daß der Cartesianische so gut wie jeder andere Materialismus eine unhaltbare Anschauung ist, weil er in völlig naiver Weise unsere Vorstellungen für die wirklichen Dinge ansieht. Wenn trotzdem der Cartesianismus noch heute bei den Nichtphilosophen und, nach einigen pflichtschuldigen Verbeugungen gegen die kritische Philosophie, auch bei den Philosophen herrscht, so beweist dies eben nur, daß gewisse Ansichten nicht durch Widerlegung, sondern allein durch eine allmähliche Reform der Denkgewohnheiten aus der Welt geschafft werden können.

    Doch lassen wir hier diese Fragen dahingestellt! Durch jenen historischen Hinweis sollte nur das Recht in Anspruch genommen werden, Hypothesen als das zu behandeln, was sie sind, als diskutierbare Annahmen, deren Zulässigkeit schließlich von der Beantwortung der Frage abhängt, ob sie sich den psychologischen Erfahrungen gegenüber brauchbar zeigen. Dies ist zugleich der einzige Gesichtspunkt, unter welchem sich die Psychologie überhaupt mit jenen Vorstellungen befassen kann. Insbesondere also muß sie den völlig ungebührlichen Anspruch zurückweisen, welchen manche Philosophen bald ausdrücklich, bald in verstohlenen Andeutungen zur Geltung bringen, als wenn der populäre oder ein irgendwie philosophisch zugestutzter Cartesianismus die einzige Anschauung wäre, bei welcher Sittlichkeit und Religion noch bestehen können. Es müßte in der Tat traurig um diese bestellt sein, wenn sie der gebrechlichen Stützen psychologischer Hypothesen benötigt wären. Aber die scholastische Theologie steckt so manchem modernen Philosophen noch immer in den Knochen. Wenn ihm die Argumente ausgehen, so erklärt er, daß die Religion in Gefahr sei.

    Der Streit der Psychologen dreht sich jedoch nicht bloß um die maßgebenden Voraussetzungen der Untersuchung; er bezieht sich in nicht geringerm Grade auf die Methoden der letztern. Und hier ereignet sich nun eine merkwürdige Konfusion der Begriffe. Wir sahen, der experimentelle Psycholog ist für den Metaphysiker ein "roher Empiriker". Indem er durch diesen Titel in die sehr ehrenwerte Gesellschaft der Naturforscher, Linguisten, Historiker, kurz aller derer verwiesen wird, die sich mit irgendwelchen Spezialgebieten der Wissenschaft beschäftigen, will man zugleich andeuten, daß sich für den Philosophen eine ganz aparte Behandlung der Erfahrung zieme, wodurch diese sofort aus der niederen Sphäre der gemeinen Tatsachen in den Äther des reinen Gedankens erhoben werde. Nicht also die Erfahrung selbst will man antasten — Wer könnte auch ohne sie auskommen? — Sondern die Methoden, nach denen dieselbe in der Spezialforschung zur Gewinnung bestimmter Erkenntnisse bewertet wird. Oder man läßt wohl auch mit Hegel diese Art der Beschäftigung als eine niedrigere Erkenntnisform gelten, die aber an Wert in keiner Weise mit der philosophischen Erkenntnis sich messen dürfe. Es gibt gegenwärtig vielleicht wenige mehr, die mit jener fröhlichen Zuversicht, welche nur die ausschließliche Beschäftigung mit der Spekulation verleiht, derartige Dinge zu äußern wagen. Aber die Herzensmeinung unserer Philosophen kommt ziemlich deutlich in der Entrüstung zum Vorschein, mit der sie gelegentlich von der "Erniedrigung" der Psychologie zu einem Zweige der Biologie sprechen, oder in dem Eifer, mit dem sie die experimentelle Methode höchstens bei gewissen untergeordneten, halb und halb der Physiologie zugehörigen Gebieten, wie der Sinneswahrnehmung, als zulässig anerkennen, wobei übrigens auch hier ohne die höhere Weihe irgendwelcher metaphysischer Leitmotive nichts Rechtes zu Stande komme. Die übrigen Wissenschaften stehen zu fest in ihrem Ansehen, als daß es rätlich wäre, sie anzugreifen — die gescheiterten Versuche zu solchen Unternehmungen sind noch in allzu frischer Erinnerung. Hier aber wagt es eine ganz neue Wissenschaft, das Haupt zu erheben. Sie wird auch außerhalb der philosophischen Kreise mit zweifelhaften Augen betrachtet, und bis dahin stand sie in der ziemlich unbestrittenen Dienstbarkeit der Philosophie — Warum sollte es nicht erlaubt sein sie totzuschlagen, ehe ihr die Flügel gewachsen sind?

    Doch ich kehre zu dem "rohen Empirismus" zurück, der nach dem Urteil einiger unserer Fachphilosophen das Merkmal der Spezialforschung sein soll. Man stelle sich einen Menschen von zureichender Urteilskraft vor, der bisher weder mit der Philosophie noch mit den Einzelwissenschaften genauere Bekanntschaft gemacht hat. Dieser Mensch begebe sich an das Studium der Wissenschaften mit dem Feuereifer eines Geistes, der das All des Wissens umfassen möchte. Er wird finden, daß der Historiker, der Philologe, der Sprachforscher eifrig bemüht sind, die Objekte ihrer Untersuchung kritisch zu prüfen, die Zeugnisse für und wider zu sichten und abzuwägen, ehe sie sich entschließen, eine Tatsache als feststehend anzuerkennen. Er wird fast mit Erstaunen bemerken, wie der Naturforscher eigentlich immer an die Naturerscheinungen mit der Voraussetzung herantritt, daß die unmittelbare Erfahrung trügerisch sei, und daß daher durch tausenderlei Mittel und Wege, durch Schärfung der Beobachtungen, durch experimentelle Methoden und durch ein System verwickelter Schlußfolgerungen, welches nicht selten die schwierigsten Hilfsmittel der mathematischen Analyse erfordert, die unmittelbare Erfahrung so lange zergliedert, ergänzt und berichtigt wird, bis dem Bedürfnis nach logischer Verbindung der Tatsachen vollauf Genüge geleistet ist. Was für ein Schauspiel würde ihm dagegen die Philosophie darbieten? Er würde nicht selten durch die Wahrnehmung überrascht werden, daß der Philosoph, anstatt von den kritisch geprüften Resultaten der Wissenschaft auszugehen, den freilich bequemeren Weg einschlägt, an die Vorstellungen des gemeinen Bewußtseins seine Spekulationen anzuknüpfen. Demjenigen, der Hegel’s Naturphilosophie verstehen will, kann man bekanntlich keinen besseren Rat geben, als daß er vor allen Dingen alles vergesse, was er etwa aus der Physik gelernt hat, und einfach bei den Begriffen Schwere, Wärme, Sicht u. s. w. sich an das zurückerinnere, was man sich im gewöhnlichen Leben unter diesen Ausdrücken zu denken pflegt. Und Hegel’s Naturphilosophie ist zwar ein starkes Beispiel, aber es ist weder das einzige noch das neueste. Solche Dinge muß man sich gegenwärtig halten, um das Wort "roher Empirismus" richtig zu übersetzen. Es ist das abermals ein Beleg für den Wert philosophischer Schlagwörter. Man sollte ihnen gegenüber stets der Regel gedenken, die ein weiser Ratgeber seinem Zögling für die Interpretation schwieriger Schriftsteller einschärfte: in zweifelhaften Fällen muß man immer annehmen, daß das Gegenteil von dem gemeint ist, was der Sinn der Worte zu sagen scheint.

    In der Psychologie besieht nun jene höhere Empirie, die sich der Metaphysiker im Gegensatze zu dem rohen Empirismus der Spezialforscher gefallen läßt, in der ausschließlichen Pflege der sogenannten Methode der Selbstbeobachtung. Was ist Selbstbeobachtung? Man findet leider in keinem der Werke, welche von dieser vortrefflichen Methode Gebrauch machen, eine Anleitung, wie man dieselbe anzuwenden habe, oder auch nur eine Auseinandersetzung, worin sie bestehe. Man scheint die Selbstbeobachtung für eine ebenso natürliche, aller wissenschaftlichen Anwendung vorausgehende Fähigkeit zu halten wie das Essen und Trinken. Und dennoch, wie ungeheuer verschieden nehmen sich die psychologischen Darstellungen aus, die von dieser Methode Gebrauch machen! Wenn heute der Bewohner einer anderen Welt zu uns hernieder stiege und, völlig unbekannt mit den Eigenschaften der menschlichen Seele, sich aus den Lehrbüchern der Psychologie eine Vorstellung von derselben verschaffen wollte, er würde wahrscheinlich zu dem Schlusse kommen, daß sich diese verschiedenen Schilderungen selbst wieder auf Wesen ganz verschiedener Welten bezögen. In der Tat, die Goethe’sche Regel: "Legt ihr nicht aus, so legt was unter", scheint auch hier Anwendung zu finden. Was kann man nicht alles aus dem eigenen Ich heraus- und in dasselbe hinein beobachten! Regeln der Beobachtung aufzustellen in einem Gebiet, wo eine exakte Beobachtung möglich ist, fällt nicht schwer, und in Wirklichkeit gibt es kaum einen Zweig der wissenschaftlichen Forschung, für welchen nicht solche Regeln von spezifischer Art sich entwickeln ließen, da der Charakter der Beobachtung, abgesehen von gewissen allgemeingültigen Grundsätzen, sich ändert mit den Objekten der Untersuchung. Warum weiß die Psychologie derartige Regeln nicht zu geben? Der Grund ist ein sehr einfacher: weil eine Selbstbeobachtung, wenn wir das Wort Beobachtung im wissenschaftlichen Sinne verstehen, unmöglich ist. Es gibt eine Wahrnehmung innerer Zustände und Vorgänge, so gut wie es eine Wahrnehmung äußerer Naturerscheinungen gibt. Aber logisch unterscheiden wir mit Vorbedacht die Wahrnehmung einer Naturerscheinung von ihrer Beobachtung. Die Wahrnehmung ist dem Zufall preisgegeben, sie ist darum stets lückenhaft und besitzt meistens nur insofern einen Wert, als sie zu künftigen Beobachtungen anregt. Bei der Beobachtung richten wir unsere Aufmerksamkeit auf erwartete Erscheinungen, noch ehe sie eintreten; wir verfolgen planmäßig die einzelnen Bestandteile derselben, fixieren, wenn möglich, die Objekte, damit sie unserer Aufmerksamkeit standhalten, und greifen zu künstlichen Hilfsmitteln, welche die Organe unserer sinnlichen Wahrnehmung unterstützen sollen. Wo wäre etwas Derartiges bei der inneren Wahrnehmung möglich? Je mehr wir uns anstrengen, uns selbst zu beobachten, um so sicherer können wir sein, daß wir überhaupt gar nichts beobachten. Der Psycholog, der sein Bewußtsein fixieren will, wird schließlich nur die eine merkwürdige Tatsache wahrnehmen, daß er beobachten will, daß aber dieses Wollen gänzlich erfolglos bleibt. Es ist nichts Besonderes dabei, sich einen Menschen zu denken, der irgendein äußeres Objekt aufmerksam beobachtet. Aber die Vorstellung eines solchen, der in die Selbstbeobachtung vertieft ist, wirkt fast mit unwiderstehlicher Komik. Seine Situation gleicht genau der eines Münchhausen, der sich an dem eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen will. Das Objekt der Selbstbeobachtung ist ja eben der Beobachter selber. Das Merkmal, wodurch sich die Beobachtung unterscheidet von der zufälligen Wahrnehmung, besteht aber gerade darin, daß wir die Objekte soviel als möglich unabhängig machen von dem Beobachter. Und hier ist es die Beobachtung, welche diese Abhängigkeit um so mehr steigert, je aufmerksamer und planvoller sie zu Werke geht. Das Einzige, was man einem subjektiven Psychologen anraten kann, ist darum — die Selbstbeobachtung ganz beiseitezulassen und sich in Gottes Namen mit den Tatsachen zufrieden zu geben, die sich ihm gelegentlich durch zufällige innere Wahrnehmungen verraten. Diese werden ganz gewiß verhältnismäßig um so zuverlässiger sein, je weniger er dabei an eine Selbstbeobachtung gedacht hat. Daß die zufällige innere Wahrnehmung an sich wertvoller sei als die äußere, will ich damit gewiß nicht behaupten. Sie leidet an den nämlichen Mängeln wie diese, womöglich in noch höherem Grade. Denn nichts vergessen wir leichter als die Zustände unseres eigenen Gemüts, und über nichts täuschen wir uns leichter als über uns selber. Wenn die angebliche Selbstbeobachtung hier der zufälligen Wahrnehmung den Platz räumen muß, so heißt dies also nur, daß auf diesem subjektiven Wege eine wissenschaftliche Psychologie überhaupt nicht zu gewinnen ist.

    Aber was will die experimentelle Psychologie an die Stelle setzen? Ist überhaupt auf diesem schwankenden Boden innerer Zustände und Vorgänge, auf welchem die Beobachtung ihre Ohnmacht eingestehen muß, ein Experiment möglich? Setzt nicht das Experiment die Beobachtung voraus? Können darum experimentelle Methoden jemals weiter reichen, als bis in jene Außenwerke der Seele, die Sinne und Bewegungsorgane, die mit gutem Recht die Physiologie für sich in Anspruch nimmt? Gewiß werden viele, auch wenn sie nicht unbedingte Anhänger der metaphysischen Psychologie sind, geneigt sein, dies zu verneinen. Aber jeder Unbefangene wird doch zugestehen, daß es sich dabei schließlich um eine Tatfrage handelt, und daß daher den Argumenten für und wider die einfache Entscheidung vorzuziehen ist, ob es wirklich etwas wie eine experimentelle Psychologie gibt. Einstweilen sei mir nur gestattet, auf zwei Punkte hinzuweisen, die von vornherein geeignet sein dürften, das Befremden, das ein ungewohnter Name erweckt, in diesem Fall etwas zu ermäßigen. Erstens braucht eine experimentelle Untersuchung nicht notwendig direkt in Veränderungen des Objektes zu bestehen, um dessen Erforschung es sich handelt, sondern infolge der überall bestehenden ursächlichen Verkettung der Erscheinungen können indirekte Einwirkungen unter Umständen eine vollkommen gleichwertige Bedeutung gewinnen. Zweitens sehen wir uns fast immer genötigt, unsere wissenschaftlichen Begriffe zu erweitern, wenn sie auf neue Gebiete Anwendung finden sollen. Auch mit den methodischen Begriffen ist dies der Fall. Solange nur diejenigen Eigenschaften erhalten bleiben, denen eine bestimmte Methode ihren Wert verdankt, wird es gestattet sein, den Namen beizubehalten, auch wenn sich die Bedingungen ihrer Anwendung erheblich verändern. In beiden Beziehungen führt in der Tat die experimentelle Psychologie zu einer Erweiterung des gewöhnlichen Begriffs der experimentellen Methode.

    Nehmen wir zunächst das Experiment in demjenigen Sinne, in welchem uns dessen Anwendung aus der Naturwissenschaft geläufig ist, so besteht hier der wesentliche Unterschied desselben von der Beobachtung darin, daß der Beobachter sich nicht darauf beschränkt, die Erscheinungen, welche sich ihm in der sinnlichen Wahrnehmung darbieten, genau zu verfolgen und soviel als möglich zu zergliedern, sondern daß er gleichzeitig durch seinen Willen irgendwie die Bedingungen derselben verändert. Es ist klar, daß ein derartiges Eingreifen in den Verlauf der Dinge uns weit schneller zur Kenntnis der Gesetze des Geschehens verhelfen muß. Schwerlich hätte Galilei die Gesetze des Falls der Körper zu entdecken vermocht, wenn er sich bloß auf die Sammlung von Beobachtungen verlassen hatte. Aber indem er willkürlich eine Kugel genau abgemessene Strecken auf einer schiefen Ebene herabrollen ließ, ergab sich ihm leicht jene Beziehung zwischen Fallraum und Fallzeit, welche zur Grundlage der ganzen Mechanik geworden ist. Wenn wir nun nach ähnlichen Grundsätzen uns selbst oder einen andern Menschen experimentellen Einwirkungen unterwerfen wollen, so ist es selbstverständlich, daß dieselben direkt nur seinen Körper treffen können. Aber wir werden sicherlich nicht von vornherein behaupten wollen, daß eben deshalb solche Einwirkungen uns über dessen psychisches Leben keinen Aufschluß zu geben vermögen. Sind doch alle unsere Vorstellungen ursprünglich abhängig von körperlichen Einwirkungen, und ist doch in diesem Sinne jeder Lichtstrahl, der in unser Auge, jeder Schall, der in unser Ohr dringt, ein Experiment, das die Natur mit uns anstellt. Schon diese natürlichen, freilich nur gleichnisweise so zu nennenden Experimente unterscheiden sich aber von der Selbstbeobachtung durch den bemerkenswerten Umstand, daß ihnen unser Bewußtsein standhält und daß sich an ihnen nicht deuteln läßt. Die Empfindungen, welche Lichtstrahl und Schall in uns erregen, sind Tatsachen, an denen wir nichts ändern können, und denen wir deshalb weit objektiver gegenüberstehen, als solchen Vorgängen in uns, die nicht aus äußeren Einwirkungen hervorgegangen sind. Wenn wir nun Sinneseindrücke willkürlich erzeugen, nach Qualität und Stärke sie angemessen verändern und die ihnen entsprechenden Veränderungen der Empfindung verfolgen, so liegt in der Ausführung solcher Beobachtungen offenbar schon ein Experiment vor, welches freilich nur erst teilweise ein psychologisches zu nennen ist, da auf die Abhängigkeit unserer Empfindungen als psychischer Zustände von den äußeren Sinneseindrücken die physiologischen Eigenschaften der Sinnesorgane und des Nervensystems gleichzeitig von Einfluß sind. Experimente dieser Art wurden daher sehr passend als psycho-physische bezeichnet. Indem dieser Name darauf hinweist, daß die Resultate solcher Versuche an und für sich gemischter Natur sind, ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß durch geeignete Veränderungen der Beobachtungen die psychischen und die physischen Einflüsse aus jener gemischten Abhängigkeitsbeziehung gesondert werden, oder daß sich einander parallel gehende Gesetze ergeben, die sich auf einen und denselben Vorgang beziehen, welcher eine innere und eine äußere, eine psychologische und eine physiologische Auffassung zuläßt.

    Von der Empfindung erheben wir uns zur Sinneswahrnehmung. Wir betrachten sie als denjenigen psychologischen Vorgang, durch welchen gewisse Verbände von Empfindungen auf äußere Objekte bezogen werden. Ich empfinde das Licht, das in mein Auge fällt, aber ich nehme die Sonne wahr, welche die Lichtstrahlen aussendet. Was unterscheidet hier die Wahrnehmung von der Empfindung? Offenbar nicht der unmittelbare Inhalt meines Bewußtseins. Die Wahrnehmung der Sonne besteht lediglich aus einer Summe von Lichtempfindungen. Was zu diesen hinzukommen muß, um den Wahrnehmungsakt zu verwirklichen, ist jene bestimmte Ordnung derselben, durch welche die Vorstellungen der Gestalt, der Entfernung und dadurch schließlich eine Beziehung auf einen Gegenstand außerhalb meines Bewußtseins möglich wird. Gewiß wird eine solche Ordnung der Empfindungen durch physiologische Einrichtungen und Vorgänge vermittelt. Die optische Entwerfung des Bildes auf unserer Netzhaut, die Anordnung der lichtempfindenden Elemente in derselben, endlich die Bewegungen des Auges sind unerläßliche Hilfsmittel jeder Gesichtswahrnehmung. Aber insofern diese uns Vorstellungen verschafft über die Beschaffenheit der äußeren Gegenstände und ihr Verhältnis zu uns, ist sie zugleich ein psychischer Vorgang, der bei der Entstehung aus seinen Elementen, den Empfindungen, psychologischen Gesetzen unterworfen sein muß. Und da sich nun die Einwirkungen auf unsere Sinnesorgane, welche die Wahrnehmungen erzeugen, in der willkürlichsten Weise von uns variieren lassen, so wird man nicht anstehen dürfen, derartigen Versuchen den Charakter von Experimenten zuzugestehen, welche gleichzeitig eine physiologische und eine psychologische Seite haben. Wie sehr in der Tat auch bei diesen Versuchen unser Bewußtsein, ganz anders als bei der gewöhnlichen Selbstbeobachtung, dem Willen des Experimentators sich fügen muß, das lehren am schlagendsten jene Sinnestäuschungen, die durch bestimmte Kombinationen äußerer Eindrücke entstehen, und denen wir unrettbar auch dann noch unterliegen, wenn wir uns von ihrer illusorischen Natur überzeugt haben. Daß uns die Sonne größer erscheint, wenn sie am Horizont auf- oder untergeht, als wenn sie über uns im Zenit steht, ist eine bekannte Erscheinung. Aber der Physiker und der Physiologe, welche genau wissen, daß die objektive Größe und Entfernung des Gestirns dieselben geblieben sind und daß sogar das Bild in unserem Auge sich nicht verändert hat, sind dieser Täuschung ebenso unterworfen wie jeder andere.

    Von allen diesen Versuchen über Empfindung und Wahrnehmung bleiben jedoch die zentraleren Seelenvorgänge, wie es scheint, immer noch unberührt. Wie sich aus dem Schatze unsers Gedächtnisses Vorstellungen von selbst erneuern, wie sich solche Vorstellungen miteinander verbinden und daraus bald lockere Assoziationen, bald fester geschlossene logische Denkakte entstehen, wie sich mit allen diesen Vorgängen unsere Gefühle und Gemütsbewegungen verweben, wie endlich der Wille hervortritt und bald auf den inneren Verlauf unseres Denkens, bald auf unsere körperlichen Organe herüberwirkt und sie zu äußeren Handlungen bestimmt: über alles dies können wir aus jenen Untersuchungen, welche die unmittelbaren psychischen Effekte äußerer Sinneseindrücke verfolgen, schlechterdings nichts erfahren. Aber der Experimentator darf nicht zu früh verzagen. Haben die Vorstellungen, die unser Gedächtnis zu künftigem Gebrauche bewahrt, aus Sinneseindrücken ihren Ursprung genommen: warum sollte man nicht hoffen, daß die nämliche experimentelle Methode, welche zur Untersuchung der ersten Entstehung der Vorstellungen gedient hat, bei gehöriger Umbildung auch zur Erforschung ihrer weiteren Schicksale und Umwandlungen ein brauchbares Werkzeug sein werde?

    Man hat zuweilen behauptet, bei der Unzuverlässigkeit der Selbstbeobachtung bleibe der einzige Ausweg zur Gewinnung einer sicheren Antwort auf diejenigen Fragen, welche die Psychologie anregt, die ausschließliche Erforschung der physischen Vorgänge, welche mit den psychischen verbunden sind. Sei die Entstehung einer Erinnerungsvorstellung, eines Willensaktes unserer Untersuchung unzugänglich, so bleibe doch Aussicht, daß wir die Prozesse in unserem Gehirn kennen lernen, welche jene Erscheinungen begleiten. Habe man auf diese Weise erst eine vollständige Einsicht in die Mechanik unseres Nervensystems gewonnen, so müsse sich die Zugehörige Mechanik unseres Geistes von selbst ergeben; man würde dann nur jeden Gehirnvorgang in den ihm entsprechenden psychischen Vorgang übertragen müssen. Ich lasse die metaphysische Voraussetzung, die dieser Betrachtung zu Grunde liegt, völlig dahingestellt; ich will annehmen, sie sei zulässig. Wo aber in aller Welt sollen wir, nachdem jene ideale Mechanik des Gehirns zu Stande gekommen ist, die Gewißheit hernehmen, daß irgendein spezieller Gehirnvorgang einem bestimmten psychischen Akt entspreche? Diese Gewißheit kann doch nur die psychologische Untersuchung geben, die sich Schritt für Schritt mit der physiologischen verbinden muß. Wenn wir von jener ganz absehen wollten, so würden wir möglicherweise von der Physiologie des Gehirns eine so vollständige Kenntnis wie von dem Mechanismus einer Taschenuhr besitzen und doch nebenbei unsere Vorstellungen und Gefühle in die Leber verlegen können. Trotz aller Redensarten von Gehirnmechanik, die merkwürdigerweise in dem nämlichen Cartesius ihren Stammvater haben, welcher der Schöpfer der spiritualistischen Psychologie ist, befindet sich übrigens die Gehirnphysiologie noch in so bescheidenen Anfängen, daß sich die experimentelle Psychologie lange Feiertage bereiten könnte, wenn sie warten wollte, bis jene fertig ist. Damit soll wahrlich nicht geringgeachtet werden, was die neuere Zeit, was namentlich die pathologische Beobachtung an der Hand der anatomischen Untersuchung hier schon geleistet hat. Die Beobachtungen über die Störungen der Sprache bei gewissen Gehirnverletzungen, die rationelle Behandlung der Gehirnpathologie durch die moderne Psychiatrie sind auch psychologisch von unschätzbarer Bedeutung. Aber man möge doch niemals verkennen, daß selbst für den Physiologen und Pathologen vielfach erst mit Hilfe der psychologischen Interpretation die Resultate ihren Wert gewinnen, und daß man mit manchen Resultaten vielleicht nur deshalb nichts anzufangen weiß, weil die zureichende psychologische Kenntnis mangelt.

    Die experimentelle Psychologie muß also auf eigenen Füßen stehen, wenn sie eine selbständige wissenschaftliche Bedeutung soll beanspruchen können. In der Tat gibt es ein Gebiet von Tatsachen, welches gleich der Empfindung und Sinneswahrnehmung der Anwendung des Experiments zugänglich ist, zugleich aber aus dem Umkreise psycho-physischer Beziehungen mitten hinein in die zentraleren Vorgänge des Bewußtseins führt: es sind dies die zeitlichen Verhältnisse der Entstehung und des Wechsels unserer Vorstellungen und alle die Erscheinungen, die, wie z. B. die qualitative Assoziation der Vorstellungen, mit diesem zeitlichen Wechsel in unmittelbarem Zusammenhange stehen. Freilich sind wir auch hier darauf angewiesen, allmählich von außen nach innen zu dringen. Nicht unmittelbar läßt sich die Zeitdauer psychischer Akte messen. Aber indem wir die Versuche so einrichten, daß gewisse physiologische Vorgänge, die zur objektiven Zeitbestimmung unerläßlich sind, in einer größeren Zahl von Beobachtungen unverändert bleiben, während zu ihnen in wechselnder Weise die Tätigkeiten der Aufmerksamkeit, der Unterscheidung, des Willens, der Vorstellungsassoziation, der Urteilsbildung hinzutreten, werden wir in den Stand gesetzt, teils auf dem Wege der Ausschließung die absolute Dauer jener psychischen Akte zu bestimmen, teils aber zu ermitteln, ob mehrere derselben gleichzeitig oder in einer meßbaren Aufeinanderfolge vonstatten gehen, wie groß die Zahl der Vorstellungen sei, die unser Bewußtsein unter gewissen Bedingungen beherbergen kann, wie sich bestimmte Reihen von Vorstellungen infolge ihrer Aufbewahrung im Gedächtnisse verändern, u. s. w. Die experimentelle Psychologie wird im Gebiete aller dieser, von psycho-physischen Methoden ausgehenden Untersuchungen ihre Aufgabe gelöst haben, wenn ihr eine vollständige Zerlegung der Bewußtseinserscheinungen in ihre Elemente und eine genaue Kenntnis ihrer Koexistenz und Aufeinanderfolge gelungen ist. Niemals natürlich kann sie hoffen, dies für jeden einzelnen Fall zu erreichen, so wenig wie der Physiker im Stande ist, immer vorauszusagen, was irgendwo im nächsten Augenblick sich ereignen muß. Wohl aber wird es ihr möglich sein, gewisse allgemeine Regeln und Nonnen zu ermitteln, die sich in der unendlichen Vielgestaltigkeit der einzelnen Erscheinungen immer wieder bewährt finden.

    Doch, wird der Metaphysiker fragen, wenn ein solches Ziel auch wirklich erreicht wäre, wenn wir die Koexistenz und Aufeinanderfolge der psychischen Akte und ihre Zusammensetzung aus einfacheren, nicht weiter zerlegbaren Vorgängen ebenso genau zu beschreiben vermöchten wie irgendein wohlbekanntes äußeres Naturereignis — wüßten wir nun von dem Wesen unserer Seele mehr, als wir jetzt wissen? Zunächst gewiß nicht! Die genaueste Beschreibung eines Gebietes von Erscheinungen läßt den Zusammenhang derselben dunkel, solange sie nicht zu einer erklärenden Hypothese geführt hat, aus welcher die einzelnen Tatsachen wiederum abgeleitet werden können. So wichtig die drei Gesetze, in denen Kepler seine Beobachtungen über die Bewegung der Planeten niederlegte, für die Astronomie sind, über den Zusammenhang unseres Sonnensystems geben sie keine Rechenschaft; dies leistete erst Newton’s Gravitationstheorie. Aber wo wäre die Gravitationstheorie ohne die Kepler’schen Gesetze? Was ein Genie auf Grund unzureichender Kenntnisse zu leisten vermag, hat Aristoteles in seiner Physik geleistet, und hätte er nicht gelebt, so würde irgendeine andere, vielleicht völlig von der seinigen verschiedene spekulative Naturphilosophie das Mittelalter beherrscht haben. Doch wenn den Entdeckungen Galilei’s und Kepler’s kein Newton gefolgt wäre, so würde die Welt möglicherweise etwas später, aber sie würde mit der nämlichen Sicherheit in den Besitz der Gravitationstheorie gekommen sein, mit welcher die Gestirne selbst ihre Bahnen wandeln. Die Psychologie hat vermutlich noch lange zu warten, bis diese Vergleiche für sie einigermaßen zutreffend werden, und es mag sogar fragwürdig sein, ob eine Vereinfachung der Bedingungen, wie sie zur Gewinnung fundamentaler Naturgesetze stets erfordert wird, hier jemals erreichbar ist. Aber sollte jemand im Ernste daran zweifeln, daß Hypothesen, die sich auf eine exakte Kenntnis der Tatsachen gründen, besser sind als solche, bei deren Aufstellung eine derartige Kenntnis mangelt?

    Gleichwohl müssen wir zugeben, daß die experimentelle Psychologie, wenn man ihr die in den obigen Erörterungen festgehaltenen Grenzen setzt, an einem Mangel leidet, gegen welchen in der Rüstkammer psycho-physischer Methoden keine Hilfe zu finden ist. Unsere physiologischen Experimente wenden sich an das Bewußtsein des entwickelten Menschen; sie versagen selbstverständlich überall da, wo ein verständnisvolles Eingehen auf die Absichten des Psychologen nicht vorausgesetzt werden kann. Über die psychische Entwickelung erfahren wir durch sie wenig. Auf die psychischen Störungen wird ihre Anwendung voraussichtlich eine beschränkte sein; die Natur tieferer Störungen wird sie weniger durch direkte Untersuchung als durch die Nachweisung der Veränderungen aufhellen, welche die Anlage und Entstehung derselben begleiten. Vor allem aber ist das psycho-physische Experiment auf die Zergliederung verhältnismäßig elementarer Vorgänge angewiesen, einzelner Vorstellungs-, Willens-, Erinnerungsakte; nur in geringem Umfange vermag es noch die Verbindungen dieser einfacheren Vorgänge zu verfolgen. Dagegen bleibt ihm die Entwickelung der eigentlichen Denkprozesse, sowie der höheren Gefühls- und Triebformen verschlossen; im höchsten Falle lassen sich über die äußere zeitliche Aufeinanderfolge auch dieser Prozesse einige unzureichende Beobachtungen ausführen.

    Man hat zuweilen, um nach der Seite der geistigen Entwicklung diesen Mängeln abzuhelfen, auf die Beobachtung des Kindes einen großen Wert gelegt. Ich kann meinerseits diese Hochschätzung der Kinderpsychologie nicht völlig teilen. Es ist ja sicherlich von einigem Interesse, festzustellen, zu welcher Lebenszeit gewisse psychische Äußerungen zum ersten mal erscheinen, ob sie unabhängig von äußeren Einwirkungen auftreten oder nicht, u. dgl. Aber gerade in letzterer Beziehung ist man viel mehr der Täuschung ausgesetzt, als gewöhnlich angenommen wird. Wie oft stellt sich ein anscheinend selbständig entstandener Gedanke oder ein erfundenes Wort bei näherer Nachforschung als eine Nachahmung heraus, die infolge der Veränderung, welche sie im Munde des Kindes erfahren hat, für den ersten Eindruck unkenntlich geworden ist! Ist doch die ganze sogenannte Kindersprache, in der so mancher Beobachter eine Quelle fortdauernder Spracherzeugung hat finden wollen, nichts anderes als eben diejenige Sprache, welche die Mütter und Ammen reden, wenn sie der Bewußtseinsstufe des Kindes sich anzupassen suchen. Eine bessere Ausbeute scheint auf den ersten Blick das große Gebiet der psychischen Anthropologie zu gewähren. Die Lebensanschauungen, Sitten und Religionsvorstellungen der Naturvölker werden in der Tat von vielen als wichtige Fundgruben objektiver psychologischer Forschung betrachtet. Gleichwohl läßt sich nicht zweifeln, daß die Ausbeute auf diesem Gebiete bisher eine äußerst dürftige gewesen ist, und zunächst scheint kaum Aussicht vorhanden, daß hierin eine wesentliche Änderung eintreten werde. Der geistige Zustand eines sogenannten Naturvolkes ist das Resultat einer unabsehbaren Kette von Bedingungen, die sich vor dem Auge des Beobachters um so verwickelter gestalten, je mehr bei unserer Nachforschung die zuerst gebildete Meinung zu schwinden pflegt, als wenn in unseren heutigen Naturvölkern primitive Zustände des Menschengeschlechts verwirklicht seien. Tatsächlich geschieht es daher stets, daß der Ethnolog, der sich die Welt- und Lebensanschauungen solcher Völker zu enträtseln sucht, umgekehrt von feststehenden psychologischen Vorstellungen ausgeht, zu denen dann die ethnologische Erfahrung mannigfache Anwendungen und Beispiele liefert. Aber ich wüßte nicht, daß irgendeine maßgebende Tatsache der reinen Psychologie bis jetzt auf diesem Wege wäre gefunden worden. Nur eins unter den genannten Gebieten möchte wohl eine solche Bedeutung gewinnen können: das Gebiet der mythologischen Vorstellungen. Ist doch schon die Existenz dieser Vorstellungen vom höchsten psychologischen Interesse. Auch kann man wohl sagen, daß das mythologische Denken eine neue Erscheinung ist, welche der Psychologie auf ihren gewöhnlichen Forschungswegen gar nicht oder höchstens in schwachen Nachbildern begegnet, welchen sich erst durch die Kenntnis ihrer lebensfrischeren Urbilder ein gewisses Verständnis abgewinnen läßt. Doch abgesehen von der einen Tatsache der Existenz des mythologischen Denkens, wo sind die psychologischen Aufschlüsse, die wir der Mythologie zu verdanken haben? Wie im Morgengranen die nebelumflossenen Gipfel entfernter Gebirge, so dämmert uns wohl aus dem Wechsel der mythologischen Vorstellungen die Ahnung von Veränderungen entgegen, denen das menschliche Bewußtsein nach bestimmten Gesetzen im Laufe der Zeiten unterworfen ist. Aber wer wagt es, heute schon diese Gesetze auszusprechen? Wer unternimmt es, hier das Allgemeingültige zu trennen von dem, was ein Erzeugnis zufälliger äußerer Bedingungen ist? Sicherlich nicht derjenige, der den Versuch gemacht hat, tiefer in die Kenntnis der Erscheinungen einzudringen. Nur Eins möchte mit ziemlicher Sicherheit vorauszusagen sein. Wenn dereinst einmal die Mythologie der psychologischen Forschung fruchtbare Dienste leistet, so werden diese nicht den wüßten Kosmogonien der Naturvölker zu verdanken sein, vielleicht noch untermischt mit den kühnen Erfindungen, mit denen der geschwätzige Eingeborene das Ohr des reisenden Fremdlings zu erfreuen hofft, sondern gerade den uns zeitlich ferner gerückten, aber durch unvergängliche Denkmale für die Forschung aufbewahrten Mythologien der Kulturvölker. Doch zunächst ist die wissenschaftliche Forschung selbst einem Entwickelungsgesetze unterworfen, von dem sie sich noch niemals ungestraft emanzipiert hat. Keine Disziplin kann einer anderen als Hilfsmittel dienen, ehe sie selbst hinreichend gesicherte Resultate besitzt. Wie die Mythologie auf die Archäologie der Kunst und auf die Erschließung der ältesten Literaturwerke lange Zeit gewartet hat und zum Teil immer noch wartet, so wird auch die Psychologie sich bescheiden müssen, in den mythologischen Forschungen einen Schatz anzuerkennen, dessen Hebung wahrscheinlich erst einer ferneren Zukunft vorbehalten ist.

    Dennoch gibt es eine verwandte Wissenschaft, für welche der Zeitpunkt einer psychologischen Verwertung schon jetzt näher gerückt sein dürfte. Es ist dies die Sprachwissenschaft. Auch sie fällt in den Umkreis der psychischen Anthropologie, obgleich sie von den Darstellungen der letzteren in der Regel ausgeschlossen bleibt. So findet man in der sonst vortrefflichen "Anthropologie der Naturvölker" von Theodor Waitz, welche hauptsächlich psychologische Interessen verfolgt, gerade die Sprachen der Naturvölker nicht berücksichtigt. Es mag dies in dem Umfang, welchen die Sprachwissenschaft gewonnen hat, seine Rechtfertigung finden; an sich würde jedenfalls das psychologische Interesse gefordert haben, daß der Sprache hier die erste Stelle angewiesen werde. In vielen Beziehungen ist sie, verglichen mit anderen Erzeugnissen des Völkerbewußtseins, von hervorragendem Werte. An keinem anderen erhalten sich wohl so unauslöschlich die Spuren einer längst vergangenen Urzeit; kein anderes verbindet damit in gleichem Maße die Fähigkeit, von den Veränderungen, die in der Vorstellungswelt des Menschen vor sich gehen, bleibende Nachwirkungen zu bewahren. Nun ist freilich auch die Sprachwissenschaft nichts weniger als abgeschlossen. Über die wichtigsten Grundfragen gehen in ihr die Meinungen weit auseinander. Aber nicht darum handelt es sich, daß eine Wissenschaft, um für die andere nutzbringend zu werden, völlig vollendet sei — wann wäre dies überhaupt jemals möglich? — sondern daß sie über eine hinreichende Anzahl feststehender Tatsachen verfügt; über die Deutung dieser Tatsachen mögen dann immerhin die Ansichten schwanken. Es gibt, wie ich glaube, ein niemals täuschendes äußeres Kennzeichen, welches den Zeitpunkt andeutet, wo eine derartige Einwirkung einer Wissenschaft auf eine andere bevorsteht: dieses Kennzeichen besteht in der wechselseitigen Annäherung, welche stattfindet. In vielen Fällen sind ja solche Einwirkungen Wechselwirkungen, und mit dem Verhältnis zwischen Sprachwissenschaft und Psychologie ist es in der Tat so. Wie wichtig die Dienste auch sein mögen, welche die Sprache der Psychologie leisten kann, wer zweifelt andererseits daran, daß die Sprache selbst psychologisch zu erklären sei?

    Dieser letztere Umstand ist es nun aber, welcher gerade die Sprachforscher nicht selten zu einer, wie ich glaube, einseitigen Anschauung über das Verhältnis beider Gebiete führt. Der Sprachforscher empfindet vor allem das Bedürfnis, sich über gewisse Grundprobleme bei der Psychologie Rats zu erholen, und er wird daher geneigt, der letzteren ein größeres Recht einzuräumen, als sie, bis jetzt wenigstens, verdient. Der Psycholog, wenn er über die Schwächen seiner Hilfsmittel sich nicht selbst täuscht, wird vielleicht eher im Stande sein, zu ermessen, was er dem Sprachforscher bieten, und was er andererseits von ihm erwarten kann. Wenn wir eine zureichende Psychologie besäßen, so würden sich ja wahrscheinlich die Dinge so gestalten, daß die Sprachwissenschaft bestimmte Erscheinungen unmittelbar aus psychologischen Gesetzen erklären könnte. Aber diese Psychologie besitzen wir nicht, und ich meine, die Sprachwissenschaft muß uns mithelfen, sie zu gewinnen.

    Ein um die Prinzipien seiner Wissenschaft hochverdienter Sprachforscher, der den seltenen Vorteil genießt, diese Eigenschaft mit der des Psychologen zu vereinigen, Steinthal, hat, wie ich fürchte, durch seine "Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft", welche den ersten Band eines umfassenderen sprachwissenschaftlichen Werkes zu bilden bestimmt ist, dieses Vorurteil einigermaßen begünstigt. Der Psycholog, der dies Buch zur Hand nahm, konnte wohl erwarten, hier aus der Fülle linguistischer Erfahrungen einen Reichtum neuer psychologischer Gesichtspunkte zu gewinnen. Statt dessen stützt sich Steinthal teils auf Beobachtungen am Kinde, teils auch auf subjektive Wahrnehmungen, die er in einem, im ganzen den Hebart’schen Anschauungen verwandten Sinne, doch mit der Selbständigkeit des unabhängigen Denkers verwertet. Daß der Verfasser dieser Psychologie zugleich Sprachforscher ist, erscheint fast als ein zufälliger Umstand. Ich muß es den Fachleuten aus der Linguistik überlassen, zu entscheiden, welche Aufschlüsse sie für ihr Gebiet dem Werke zu entnehmen im Stande find; meinerseits bekenne ich freimütig, daß ich aus Steinthal’s kleinem Büchlein über die Mande-Negersprache mehr Psychologie gelernt habe als aus der umfangreichen "Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft". Gleichwohl ist es, glaube ich, gerade das Vorurteil des Sprachforschers, welches an diesem Mißverständnis die Schuld trägt. Auch Steinthal ist der Meinung, es gebe eine, von objektiven Tatsachen unabhängige Psychologie, oder sie könne geschaffen werden, und nachträglich stehe es dann frei, dieselbe auf alle möglichen Objekte psychologischer Beobachtung anzuwenden, während in Wahrheit einzig und allein aus diesen Objekten eine wissenschaftliche Psychologie zu gewinnen ist. Solchen Irrtümern entgegenzutreten scheint mir um so mehr geboten, je leichter sie bei den der Psychologie ferner stehenden Sprachforschern Anklang finden, und es dann geschehen kann, daß irgendein psychologisches Phantasieschloß als ein fester wissenschaftlicher Bau angesehen wird, in welchem sich auch der Sprachforscher wohnlich einrichten müsse, um die ihm verfügbare Tatsachen unterzubringen, so gut es eben gehen will. In der Tat, ganz in diesem Sinne hat noch neuerlich Hermann Paul in seinem vortrefflichen Buche über die "Prinzipien der Sprachgeschichte" die Psychologie als eine "Gesetzeswissenschaft" bezeichnet, von welcher die Sprachwissenschaft, ebenso wie andere historische Disziplinen, abhängig sei. Es ist ein glücklicher Umstand, daß der Verfasser von dieser Voraussetzung im einzelnen nicht eben viel Gebrauch macht. Seinen, auch psychologisch wertvollen Betrachtungen würde es wahrlich nicht zum Vorteil gereicht haben, wenn sie zuvor irgendeiner psychologischen Gesetzesordnung sich hätten fügen müssen.

    Vor einem Mißbrauch der Grammatik muß man sich freilich in der Psychologie ebenso sehr hüten wie in der Logik. Die Grammatik sieht sich durch das ihr innewohnende systematische Bedürfnis genötigt, die lebendige Sprache in einen von außen an sie herangebrachten Formalismus zu zwängen, welcher zwar logischen Ursprungs, aber, da er sich auf eine, keineswegs allein aus logischen Motiven entstandene geistige Schöpfung bezieht, selber weder Logik noch Psychologie ist. Doch die Grammatik ist nicht die Sprache. Die erstere kann dem Psychologen wertvolle Anhaltspunkte gewähren; das Objekt, welchem er allein Tatsachen von psychologischem Wert entnehmen darf, ist die Sprache selber, ist namentlich die zum Teil völlig außerhalb der grammatischen Normen sich bewegende Entwickelung derselben. Und wo sollte man anders die Tatsachen hernehmen, aus denen die psychologischen Gesetze des Denkens und der Entwickelung der Begriffe zu erschließen sind, als eben aus der Sprache, die gleichzeitig das Erzeugnis und das Werkzeug des Denkens ist? Es ist wahrlich ein günstiges Ereignis, daß gerade da, wo die Hilfsmittel der physiologischen Psychologie zu versagen beginnen, bei den höheren Bewußtseinsvorgängen, die Sprache sich als ein Objekt darbietet, dessen Untersuchung durch seine Unabhängigkeit von dem Beobachter und durch die mannigfachen Gestaltungen, die es unter wechselnden Bedingungen annimmt, einen experimentellen Wert gewinnt.

    Nur auf wenige Erscheinungsgebiete sei hier hingewiesen, in denen sich gegenwärtig schon dem Sprachgelehrten, der sich mit den elementaren Teilen der experimentellen Psychologie vertraut gemacht hat, fruchtbare und für die Psychologie wertvolle Gesichtspunkte ergeben dürften. Zu diesen Gebieten rechne ich vorläufig noch nicht die gegenwärtig mit Vorliebe von der Linguistik gepflegte Lautphysiologie. Zwar ist man gewiß mit Recht mehr und mehr zu der Überzeugung gekommen, daß die Gesetze des Lautwandels mindestens in demselben Maße aus psychologischen wie aus physiologischen Motiven hervorgehen. Aber solange, wie hier, die Tatsachen selber noch so vielfach umstritten sind, dürfte die Zeit zu ihrer psychologischen Verwertung schwerlich gekommen sein. Einigermaßen günstiger scheint die Sache schon bei der Wortbildungslehre zu stehen. Hier ist wenigstens die große Mehrheit der Fachgelehrten über gewisse fundamentale Tatsachen einig. In dem Aufbau des Wortes aus Bestandteilen von ursprünglich verschiedener Bedeutung, in der mehr oder weniger innigen Verschmelzung derselben zum Zweck des Ausdrucks neuer zusammengesetzter Vorstellungen verraten sich aber psychische Kräfte, auf deren Natur aus ihren Äußerungen ein gewisser Rückschluß möglich sein muß. Das Verhältnis kann doch hier kaum anders gedacht werden, als daß in den Verbindungs- und Verschmelzungsgesetzen der Wortelemente ihnen entsprechende Verbindungs- und Verschmelzungsgesetze der Vorstellungen zum Ausdruck gelangen, die freilich vielleicht nur in wenigen Punkten von allgemeingültiger Beschaffenheit sind, in den meisten Beziehungen aber, wie die ungeheuere Verschiedenheit der Sprachen andeutet, von speziellen Entwickelungsbedingungen des Bewußtseins abhängen. Hier gerade versprechen die Sprachen der Naturvölker dem Psychologen vielleicht eine reichere Ausbeute als die seit Jahrtausenden zu einem festen Abschluß ihrer Organisation gelangten Kultursprachen. Wenigstens möchte man dies aus so manchen bedeutungsvollen Beobachtungen schließen, wie sie z. B. in den "Etymologischen Forschungen" und sonstigen Schriften des sprachbewanderten Pott zerstreut sind.

    Ganz anders verhält es sich mit den Regeln des Satzbaues, die vorzugsweise in den Kultursprachen zu einer deutlicheren Ausbildung gekommen sind. Die syntaktischen Verschiedenheiten der einzelnen Sprachen, die Veränderungen, welche selbst eine einzelne im Laufe der Zeiten erfährt, dürften aber nicht weniger als die Regeln der Wortbildung auf die Gesetze der Verbindung der Vorstellungen und, weil sie Veränderungen leichter unterworfen sind als das festere Wortgefüge, namentlich auch auf die leiseren Schwankungen in der Bevorzugung der einzelnen Bestandteile eines Vorstellungskomplexes ein überraschendes Licht werfen. In noch höherem Grade endlich wird ein anderer, vielleicht im gegenwärtigen Augenblick schon am meisten zur Verwertung geeigneter Zweig der psychologischen Sprachforschung an die Kultursprachen gebunden sein: die Lehre vom Bedeutungswandel, für welche auf indogermanistischem Gebiete, aber wohl auch nur hier, ein reiches Material bereit liegt. In diesem Falle ist es ja augenscheinlich, daß die Resultate der Sprachgeschichte unmittelbar einen psychologischen Wert besitzen. Wer die Geschichte eines einzigen Wortes durch die Jahrtausende seiner Existenz verfolgt hat, der hat eben damit die Geschichte einer Vorstellung erzählt. Manche einzelne Beispiele dieser Art sind namentlich in allgemeineren sprachwissenschaftlichen Schriften bereits erörtert worden. Aber es fehlt noch an Untersuchungen, welche für bestimmte Sprachgebiete in umfassender Weise die Aufgabe lösen, indem sie die einzelnen Formen des Bedeutungswandels nach psychologischen Gesichtspunkten ordnen, die relative Häufigkeit der verschiedenen Formen, ihr Zusammentreffen mit anderen Erscheinungen in dem Leben der Sprache feststellen und auf diese Weise die geistigen Triebfedern dieser wichtigen Erscheinung möglichst vollständig zu erkennen suchen. Man sollte denken, daß selbst eine Arbeit aus zweiter Hand hier schon nutzbringend werden könnte. Wie reich ist der Stoff, den allein ein Werk wie Curtins’ "Griechische Etymologie" für das Griechische oder (soweit es vollendet ist) das Grimm’sche "Wörterbuch" für das Deutsche darbietet!

    Der Sprachforscher wird diese dürftige Aufzählung der Objekte psychologischer Untersuchung auf seinem Gebiete leicht noch vermehren können. Hier kam es nur darauf an, hervorzuheben, daß es zahlreiche Quellen objektiver Erkenntnis gibt, welche bessere Ergebnisse versprechen als die unzulängliche und trügerische Selbstbeobachtung, und daß die Psychologie, auch wenn sie sich auf die Untersuchung von Tatsachen beschränkt, noch lange nicht in die Gefahr gerät, daß ihr der Stoff ausgehe. Ist sie nur erst soweit gelangt, daß sie das Gebiet, das sich ihr auf diesem experimentellen Wege eröffnet, einigermaßen zu übersehen vermag, so werden auch die grundlegenden Anschauungen, die sie über Ursprung und Wesen der geistigen Entwicklung gewinnt, auf sichererem Boden stehen als jene metaphysischen Reminiszenzen der Vergangenheit, die gleichzeitig das Recht wissenschaftlicher Wahrheiten und unantastbarer Glaubenssätze für sich in Anspruch nahmen. Es wäre zwar nicht das erste mal, daß eine philosophische Tradition zum Dogma wird. Aber kaum ist es wahrscheinlich, daß sich ein solcher Wandel mitten im Licht moderner Geschichte vollziehen sollte. Das lange Übergewicht der mechanischen Naturwissenschaften über die Psychologie hat jenen Cartesianischen Dualismus, der tatsächlich nichts anderes als ein durch ethische Bedürfnisse ermäßigter Materialismus ist, allmählich so weit erstarken lassen, daß er immer wieder aus den Evolutionen der neueren Philosophie als die herrschende Geistesrichtung hervorging. Die Psychologie muß dieses Gegners Herr werden, indem sie der mechanischen Naturwissenschaft die Waffen aus der Hand nimmt und mit den exakten Methoden, die sie von ihr gelernt hat, die Gesetze des geistigen Lebens zu erforschen trachtet. Ist es ihr auf solchem Wege erst gelungen, eine reinere Auffassung von der geistigen Natur des Menschen zu vermitteln, so darf sie vielleicht hoffen, daß die Dienste, die sie der Philosophie geleistet, bessere sind als diejenigen, die sie bis dahin von ihr empfangen hat.