Beilage XVIII.

Anwendung der reinen Intervalle beim Gesang.

Zu Seite 523.

Seit der ersten Veröffentlichung dieses Buches habe ich auch Gelegenheit gehabt, die vom General Perronet Thompson1) konstruierte enharmonische Orgel zu sehen, welche durch die Dur- und Molltonarten von 21 verschiedenen, harmonisch verbundenen Toniken in natürlicher Stimmung zu spielen erlaubt. Dieses Instrument ist viel komplizierter als mein Harmonium; es enthält 40 verschiedene Pfeifen für die Oktave, und drei verschiedene Manuale mit zusammen 65 Tasten für die Oktave, wobei dieselben Noten zum Teil in zwei oder auch in allen drei Manualen vorkommen. Das Instrument erlaubt viel ausgedehntere Modulationen auszuführen, als das von mir beschriebene Harmonium, ohne daß enharmonische Verwechselungen nötig werden. Auch kann man ziemlich schnelle Passagen und Verzierungen darauf ausführen, trotz seiner anscheinend sehr verwickelten Tastatur. Die Orgel ist gebaut durch Messrs. Robson, London. Sie enthält nur ein Register gewöhnlicher Prinzipalpfeifen, ist mit Jalousieschwellern und mit einem eigentümlichen Mechanismus versehen, um den Einfluß der Temperatur auf die Stimmung zu beseitigen.

1) Principles and Practice of Just Intonation, illustrated on the Enharmonic Organ. 7th Edition. London. 1863.

Herr H. W. Poole2) at neuerdings seine auf Seite 523 (Anmerkung) erwähnte Orgel so umgeformt, daß die Stimmung durch Registerzüge beseitigt ist, und hat eine besondere Tastatur konstruiert, welche erlaubt, in allen Tonarten mit demselben Fingersatz zu spielen. Seine Skala enthält nicht nur die reinen Quinten und Terzen aus der Reihe der Durakkorde, sondern auch die natürlichen Septimen für die Töne beider Reihen. Die Zahl der Pfeifen ist 78 für die Oktave, wobei die Vertauschung von Fes mit E, wie bei meinem Harmonium, angewendet ist.

2) American Journal of Science and Arts, Vol. XLIV, July 1867.

Die Akkordfolgen der Orgel von P. Thompson sind außerordentlich wohlklingend, wegen der milderen Klangfarbe vielleicht von noch auffallenderem Wohlklang als die meines Harmoniums. Aus demselben Grunde ist aber auch der Unterschied zwischen falschen und richtig gegriffenen Akkorden auf dieser Orgel nicht so einschneidend, wie auf dem Harmonium. Ich hatte Gelegenheit, eine Sängerin, die oft mit Begleitung der enharmonischen Orgel gesungen hatte, zu dem Instrumente zu hören, und kann versichern, daß dieser Gesang ein eigentümlich befriedigendes Gefühl vollkommener Sicherheit der Intonation gewährte, was bei der Begleitung mit dem Klavier zu fehlen pflegt. Auch ein Violinist war da, der noch nicht oft mit der Orgel zugleich gespielt hatte, und nach dem Gehör bekannte Arien begleitete. Er schmiegte sich der Intonation der Orgel vollkommen an, so lange die Tonart unverändert blieb, und nur in einzelnen schnellen Modulationen wußte er noch nicht ganz genau zu folgen.

In London ist auch Gelegenheit gegeben, die Intonation dieses Instruments mit der natürlichen Intonation solcher Sänger zu vergleichen, die ganz ohne alle Instrumentalbegleitung singen gelernt haben, und nur ihrem Gehöre zu folgen gewöhnt sind. Es ist dies die Gesellschaft der Solfeggisten (Tonic-Solfa-Associattons), welche sehr zahlreich (1862 schon 150 000) über die größeren Städte Englands ausgebreitet sind, und deren große Fortschritte für die Theorie der Musik sehr beachtenswert sind. Diese Gesellschaften brauchen zur Bezeichnung der Noten der Durskala die Silben Do, Re, Mi, Fa, So, La, Ti, Do, so daß Do immer die Tonika bezeichnet. Ihre Gesänge sind nicht in gewöhnlicher Notenschrift aufgeschrieben, sondern mit gewöhnlicher Druckschrift, wobei die Anfangsbuchstaben der genannten Silben die Tonhöhe bezeichnen.

Wenn durch Modulation die Tonika gewechselt wird, so wird die Bezeichnung ebenfalls so geändert, daß die neue Tonika wieder Do heißt, welcher Wechsel in der Notenschrift dadurch angekündigt wird, daß die Note, auf welcher der Wechsel stattfindet, zwei Bezeichnungen erhält, eine für die frühere, die zweite für die neue Tonika. Durch diese Bezeichnungsweise wird also vor allen anderen Dingen die Beziehung jeder Note zur Tonika hervorgehoben, während die absolute Tonhöhe, in der das Stück auszuführen ist, nur im Anfang angegeben wird. Da die Intervalle der natürlichen Durskala auf jede neue Tonart übertragen werden, welche durch Modulation eintritt, so werden alle Tonarten ohne Temperierung der Intervalle ausgeführt. Daß bei einer Modulation von G-Dur nach G-Dur das Mi (oder h) der letzteren Skala genau dem Ti der ersteren, und das Re (oder a) der zweiten nahehin dem La (oder a) der ersteren entspricht, ist in der Bezeichnungsweise gar nicht angedeutet, und wird erst bei weiterem Fortschritte des Unterrichts gelernt. Es ist also auch gar keine Veranlassung für den Schüler gegeben, das a mit a zu verwechseln3).

3) Auskunft über die Prinzipien gibt A Grammar of Vocal Music founded on the Tonic Solfa Method by J.. Curwen. 19th Edition. London, Ward and Co. — Das Unterrichtsbuch für Schüler heißt: The standard Course of lessonson the Tonic Solfa Method by J. Curwen. London, Tonic Solfa Agency. 43 Paternoster Row. — Das Journal des Vereins ist The Tonic Sol-Fa Reporter and Magazlne of Vocal Muslc, London, Ward and Co. — Eine Menge Musikalien in der eigentümlichen Notenschrift der Solfeggisten, unter anderen Mendelssohn's Paulus, Händel's Messias, Israel in Ägypten, Judas Maccabäus, das Dettinger Te Deum, Haydn's Schöpfung, Frühling aus den Jahreszeiten etc. sind ebenfalls veröffentlicht. — In Frankreich wird der Gesang in der Schule Galin-Paris-Chevé nach ähnlichen Grundsätzen und mit Hülfe einer ähnlichen Notation gelehrt.

Es läßt sich nun nicht verkennen, daß diese Bezeichnungsweise für den Gesangunterricht den großen Vorteil hat das herauszuheben, was bei der Bestimmung des Tons für den Sänger am wichtigsten ist, nämlich das Verhältnis zur Tonika. Es sind nur einzelne außerordentliche Talente im Stande absolute Tonhöhen festzuhalten und wiederzufinden, namentlich wenn noch andere Töne daneben angegeben werden. Die gewöhnliche Notenschrift gibt aber direkt nur die absoluten Tonhöhen an und diese auch nur für die temperierte Stimmung. Jeder, der öfter vom Blatt gesungen hat, wird wissen, wie viel leichter dies nach einem Klavierauszuge zu tun ist, in welchem man die Harmonie übersieht, als nach einer einzelnen Stimme. Im ersteren Falle kann man leicht erkennen, ob die zu singende Note Grundton, Terz, Qninte oder Dissonanz des jedesmaligen Akkordes ist, wonach man sich leicht orientiert; im zweiten Falle bleibt nichts übrig, als nach den vorgeschriebenen Intervallen auf und ab zu schreiten, so gut es geht, und sich darauf zu verlassen, daß die begleitenden Instrumente und anderen Stimmen die eigene Stimme in die richtige Tonhöhe hineindrängen werden.

Was nun einen mit der musikalischen Theorie vertrauten Sänger der Klavierauszug erkennen läßt, das zeigt die Bezeichnungsweise der Solfeggisten unmittelbar auch dem Ununterrichteten. Ich habe mich selbst überzeugt, daß man bei Benutzung dieser Bezeichnung auch nach einer einzelnen Stimme viel leichter richtig singt, als nach einer solchen in gewöhnlicher Notenschrift, und ich habe Gelegenheit gehabt, mehr als 40 Kinder zwischen 8 und 12 Jahren in einer der Volksschulen Londons Singübungen ausführen zu hören, welche durch die Sicherheit, mit der sie Noten lasen, und durch die Reinheit ihrer Intonation mich in Erstaunen setzten. Alljährlich pflegen die Londoner Schulen der Solfeggisten ein Konzert von 2000 bis 3000 Kinderstimmen im Kristallpalaste zu Sydenham zu geben, welches, wie mir von Musikverständigen versichert wurde, durch den Wohlklang und die Genauigkeit der Ausführung den besten Eindruck auf die Hörer macht.

Die Solfeggisten nun singen nach natürlichen, nicht nach temperierten Intervallen. Wenn ihre Chöre von einer temperierten Orgel begleitet werden, so entstehen sehr merkliche Differenzen und Störungen, während sie sich in vollkommenem Einklange mit General P. Thompson's enharmonischer Orgel finden. Manche Äußerungen sind sehr charakteristisch. Ein junges Mädchen sollte ein Solostück ans F-Moll singen und nahm die Noten mit nach Haus, um am Klavier zu üben. Sie kam wieder mit der Erklärung, daß auf ihrem Klavier das As und Des nicht richtig wären, die Terz und Sexte der Tonart, bei denen die Abweichung in der temperierten Stimmung in der Tat am bedeutendsten ist. Eine andere ähnliche Schülerin war so befriedigt durch die enharmonische Orgel, daß sie drei Stunden hinter einander darauf übte, und erklärte, es sei so sehr angenehm, einmal wirkliche Noten zu spielen. Überhaupt stellte sich in einer großen Anzahl von Fällen heraus, daß junge Leute, die nach der Solfa-Methode singen gelernt hatten, sich durch Probieren auf der verwickelten Tastatur der enharmonischen Orgel von selbst und ohne Anweisung zurecht fanden, und stets die theoretisch richtigen Intervalle wählten.

Sänger finden, daß es leichter ist, nach der Begleitung der genannten Orgel zu singen, und auch wohl, daß sie das Instrument während des Singens nicht hören, weil es nämlich in vollkommener Harmonie mit ihrer Stimme ist und keine Schwebungen macht.

Ich selbst habe übrigens beobachtet, daß auch Sänger, welche an Klavierbegleitung gewöhnt sind, wenn man sie eine einfache Melodie an dem natürlich gestimmten Harmonium singen läßt, natürliche Terzen und Sexten singen, nicht temperierte oder pythagoräische. Ich begleitete den Anfang einer Melodie und pausierte, wenn der Sänger die Terz oder Sexte der Tonart einsetzen sollte. Nachdem er eingesetzt hatte, gab ich auf dem Instrumente entweder das natürliche oder das pythagoräische oder das temperierte Intervall an. Das erste war stets im Einklange mit der Singstimme, die beiden anderen gaben scharfe Schwebungen.

Nach diesen Erfahrungen, glaube ich, kann kein Zweifel darüber bleiben, wenn noch einer da war, daß die theoretisch bestimmten Intervalle, welche ich in dem vorliegenden Buche die natürlichen genannt habe, wirklich die natürlichen für das unverdorbene Ohr sind; daß ferner die Abweichungen der temperierten Stimmung dem unverdorbenen Ohre in der Tat merklich und unangenehm sind; daß drittens trotz der feinen Unterschiede in einzelnen Intervallen, das richtige Singen nach der natürlichen Skala viel leichter ist, als nach der temperierten Skala. Die komplizierte Intervallenberechnung, welche die natürliche Skala nötig macht, und durch welche die Handhabung der Instrumente mit festen Tönen allerdings erschwert wird, existiert für den Sänger und auch für den Violinisten nicht, wenn letzterer sich nur von seinem Ohre leiten läßt. Denn im natürlichen Fortschritte einer richtig modulierten Musik haben sie immer nur nach Intervallen der natürlichen diatonischen Skala fortzuschreiten. Nur für den Theoretiker gibt es eine komplizierte Rechnung, wenn er schließlich das Resultat einer großen Menge solcher Fortschreitungen mit dem Ausgangspunkte vergleichen will.

Daß das natürliche System für Sänger durchführbar ist, zeigen die englischen Solfeggisten; daß es auf den Streichinstrumenten durchgeführt werden kann, und von ausgezeichneten Spielern in der Tat durchgeführt wird, bezweifle ich nicht mehr nach den üben erwähnten Untersuchungen von Delezenne und nach dem, was ich selbst von dem Violinspieler, der mit der enharmonischen Orgel spielte, gehört habe. Von den übrigen Orchesterinstrumenten haben die Blechinstrumente schon von selbst natürliche Stimmung und können sich nur mit Zwang dem temperierten System anschließen. Die Holzblaseinstrumente würden ihre Töne etwas verändern können, um sich der Stimmung der übrigen anzuschließen. Ich glaube also nicht, daß man die Schwierigkeiten des natürlichen Systems für unüberwindlich erklären könne; ja ich glaube, daß manche von unseren besten Musikaufführungen ihre Schönheit dem unbewußten Einführen des natürlichen Systems verdanken, daß wir aber solchen Genuß öfter haben könnten, wenn dasselbe schulmäßig gelehrt und allem Musikunterricht zu Grunde gelegt würde, statt des temperierten Systems, welches die menschliche Stimme und die Streichinstrumente verhindern will, ihren vollen Wohlklang zu entfalten, um nicht der Bequemlichkeit des Klaviers und der Orgel zu nahe zu treten.

Gegen die hier aufgestellten Sätze ist von Musikern zum Teil in sehr absprechender Weise polemisiert worden. Ich zweifle keinen Augenblick, daß viele dieser meiner Gegner in der Tat sehr gute Musik machen, weil ihr Ohr sie zwingt besser zu spielen, als es ihre bewußte Absicht ist, und als es ausfallen würde, wenn sie die Vorschriften der Schule wirklich ausführten und genau in pythagoräischer oder temperierter Stimmung spielten. Andererseits kann man sich meist aus diesen Schriften selbst davon überzeugen, daß die Schreibenden sich nie die Mühe genommen haben, die reine und temperierte Stimmung methodisch zu vergleichen. Ich kann nur immer wieder auffordern erst zu hören, ehe man, auf eine unvollkommene Schultheorie gestützt, Urteile in die Welt sendet über Dinge, die man nicht aus eigener Erfahrung kennt. Und wer zu solchen Beobachtungen keine Gelegenheit hat, sehe doch nur die Literatur aus der Zeit an, als die gleichschwebende Temperatur eingeführt wurde. Zu der Zeit, wo die Orgel eine leitende Rolle unter den musikalischen Instrumenten hatte, war sie noch nicht temperiert gestimmt. Und das Klavier ist allerdings ein äußerst nützliches Instrument, um musikalische Literatur kennen zu lernen, sowie für die häusliche Unterhaltung oder zur Begleitung anderer Stimmen. Aber für höhere künstlerische Zwecke hat es doch keine solche Wichtigkeit, daß man seinen Mechanismus zur Grundlage des ganzen musikalischen Systems machen dürfte.

Etwas abweichend von der in dieser Auflage meines Buches gebrauchten ist die von Herrn A. Ellis4) vorgeschlagene Bezeichnungsweise der natürlichen Stimmung für die gewöhnliche Notenschrift. Er braucht dabei nur zwei neue Zeichen, nämlich für die Erhöhung des Tons um ein Komma 81/80 und  für die Erniedrigung durch dasselbe Intervall; dagegen bedeutet # die Erhöhung am ein Limma 135/128 und  die Erniedrigung durch dasselbe Intervall. Die Noten ohne Versetzungszeichen C, D, E, F, G, A, H, haben diejenigen Werte, welche ihnen in der natürlichen Stimmung von C-Dur zukommen wie auf S. 449.

Dann bekommt G-Dur, außer dem # vor F, ein vor A.

D-Dur bekommt dazu ein zweites # vor C und ein zweites vor E

          A-Dur (oder vielmehr A-Dur) bekommt ein drittes # vor G und ein drittes vor H.

        Man sieht leicht, wie dies in Quinten fortschreitend, weiter geht.

        Umgekehrt bekommt F-Dur, außer dem  vor H, noch ein  vor D.

        B-Dur bekommt ein zweites  vor E, und ein zweites  vor G.

Es-Dur ein drittes  vor E, und ein drittes  vor C, etc. Die absteigende Molltonleiter von A-Moll unterscheidet sich von der G-Durleiter durch ein  vor D. In der aufsteigenden Molltonleiter ist der Leitton zu A zu bezeichnen mit  # G, denn # G ist der Leitton zu A, wie sich vorher ergab, und ebenso ist  # F die Terz zu D zu nehmen. Die entsprechenden Vorzeichnungen sind an den übrigen Molltonleitern zu machen.

Für die Haupttonart werden die betreffenden und  an den Anfang jeder Zeile gesetzt wie die # und . Wo Modulationen eintreten, müssen sie vor die einzelnen Noten gesetzt werden.

4) Proceedings Royal Society, 1864, Nro. 90.