Methode der Untersuchung.
§ 11. Sinnlose Silbenreihen.
Um den Weg zu tieferem Eindringen in die Gedächtnisvorgänge,
auf den die vorangegangenen Überlegungen hinweisen, einmal praktisch
– allerdings nur für ein sehr beschränktes Gebiet – zu erproben,
habe ich folgendes Verfahren eingeschlagen.
Aus den einfachen Konsonanten des Alphabets und
unseren elf Vokalen und Diphthongen wurden alle überhaupt möglichen
Silben einer bestimmten Art gebildet, und zwar alle in der Weise, dass
ein Vokallaut in der Mitte steht und zwei Konsonanten ihn umgehen1).
Diese Silben, ca. 2300 an der Zahl, wurden durcheinander gemengt und dann,
wie der Zufall sie in die Hand führte, zu Reihen von verschiedener
Länge zusammengesetzt, deren mehrere jedesmal das Objekt eines Versuchs
bildeten2). Bei der Zusammensetzung der
Silben wurden ursprünglich, übrigens nicht gerade peinlich, einige
Regeln beobachtet, die eine allzu rasche Wiederkehr ähnlich klingender
Elemente verhindern sollten; später wurde von diesen abgesehen und
nur der Zufall walten gelassen. Die jedesmal benutzten Silben wurden besonders
aufbewahrt, bis die ganze Masse durchgebraucht war, dann aufs neue gemischt
und wieder verwendet.
2) Ich werde die hier angedeuteten Bezeichnungen im folgenden beibehalten und nenne also "Versuch" eine Gruppe von mehreren "Silbenreihen" oder "Einzelreihen". Eine Mehrheit von "Versuchen" nenne ich "Versuchsreihe" oder "Versuchsgruppe".
§ 12. Vorzüge des Materials.
Das beschriebene, völlig sinnlose Material bietet,
zum Teil wegen seiner Sinnlosigkeit, mannigfache Vorteile. Es ist zuvörderst
verhältnismäßig einfach und verhältnismäßig
gleichartig. Bei den zunächst sich darbietenden Stoffen, Gedichten
oder Prosastücken, muß der bald erzählende, bald beschreibende,
bald reflektierende Inhalt, hier eine pathetische, dort eine lächerliche
Wendung, die Schönheit oder Härte der Metaphern, die Glätte
oder Eckigkeit von Rhythmus und Reim eine Fülle von unregelmäßig
wechselnden und deshalb störenden Einflüssen ins Spiel bringen:
hin- und herspielende Assoziationen, verschiedene Grade der Anteilnahme,
Rückerinnerungen an besonders treffende oder schöne Verse u.
s. w. Alles dies wird bei unseren Silben vermieden. Unter vielen tausend
Kombinationen begegnen kaum einige Dutzend, die einen Sinn ergeben, und
unter diesen wiederum nur einige wenige, bei denen während des Lernens
auch der Gedanke an diesen Sinn geweckt wurde.
Freilich darf man die Einfachheit und Gleichartigkeit
des Materials nicht überschätzen; sie bleiben weit von dem entfernt,
was man zu erreichen wünschen möchte. Das Lernen der Silben zieht
immer noch drei Sinnesgebiete in Mitleidenschaft, das Auge, das Ohr und
den Muskelsinn der Sprachorgane. Und wenn auch diese in wohlumschriebener
und immer sehr ähnlicher Weise beteiligt werden, so wird man doch
wegen ihrer zusammengesetzten Beteiligung auch eine gewisse Kompliziertheit
der Resultate voraussehen müssen. Namentlich aber bleibt die Gleichartigkeit
der Silbenreihen erheblich hinter dem zurück, was man in Betreff ihrer
erwarten würde; sie zeigen sehr bedeutende und fast unverständliche
Differenzen der Leichtigkeit und Schwierigkeit. Ja es scheint beinahe,
als ob unter diesem Gesichtspunkt die Unterschiede zwischen sinnvollem
und sinnlosem Material praktisch bei weitem nicht so groß seien,
als man a priori geneigt ist, sich vorzustellen. Wenigstens fand ich bei
dem Auswendiglernen einiger Cantos von Byrons Don Juan verhältnismäßig
keine größere Streuung der Zahlen als bei Silbenreihen, auf
deren Erlernen eine annähernd gleich lange Zeit verwendet worden war.
Dort scheinen die vorhin angedeuteten zahllosen störenden Einflüsse
sich doch bald zu einem gewissen mittleren Effekt zu kompensieren; während
hier die Prädisposition für verschiedene Buchstaben- und Silbenkombinationen,
durch den Einfluß der Muttersprache, eine sehr ungleichartige sein
muß.
Unzweifelhafter sind die Vorzüge unseres Materials
in zwei anderen Hinsichten. Einmal erlaubt es eine unerschöpfliche
Fülle neuer Kombinationen von ganz gleichartigem Charakter, während
verschiedene Gedichte, verschiedene Prosastücke immer etwas Unvergleichbares
haben. Sodann gestattet es eine sichere und bequeme quantitative Variierung;
wogegen ein Abbrechen vor dem Ende, ein Anfangen in der Mitte einer Strophe
oder eines Satzes durch die verschiedenartigen Störungen des Sinnes,
die es mit sich bringt, auch wieder zu neuen Komplikationen führt.
Zahlenreihen, die ich ebenfalls versuchte, schienen
mir für größere Untersuchungen sich zu schnell zu erschöpfen
wegen der geringeren Anzahl ihrer Grundelemente.
§ 13. Herstellung möglichst konstanter Versuchsumstände.
Für das Auswendiglernen waren folgende Bestimmungen
getroffen:
l. Die einzelnen Reihen wurden immer vollständig
von Anfang bis zu Ende durchgelesen; sie wurden nicht in einzelnen Teilen
gelernt, die dann zusammengeschweißt worden wären; auch wurden
nicht einzelne, besonders schwierige Stellen herausgegriffen und häufiger
memoriert. Mit dem Durchlesen und den ab und zu notwendigen Versuchen des
Auswendighersagens wurde zwanglos abgewechselt. Auch für die letzteren
aber galt als Regel, dass bei einer eintretenden Stockung erst der Rest
der Reihe zu Ende gelesen und dann auf ihren Anfang zurückgegriffen
wurde.
2. Durchlesen und Hersagen geschahen stets mit gleichförmiger
Geschwindigkeit, nämlich im Takt von 150 Schlägen auf die Minute.
Zur Regelung derselben wurde ursprünglich ein entfernt aufgestelltes
Metronom mit Schlagwerk benutzt; sehr bald aber, viel einfacher und weniger
störend für die Aufmerksamkeit, das Ticken einer Taschenuhr.
Die Echappementsvorrichtung der meisten Taschenuhren pendelt nämlich
300 mal in der Minute.
3. Da es fast unmöglich ist, andauernd ohne
Unterschiede der Betonung zu sprechen, so wurden, damit diese Unterschiede
stets dieselben seien, entweder je drei oder je vier Silben sozusagen zu
einem Takt zusammengefaßt, und also entweder die lste,
4te, 7te, oder die lste, 5te,
9te u. s. w. Silbe mit einem mäßigen Iktus versehen.
Sonstige Erhebungen der Stimme wurden möglichst vermieden.
4. Nach Erlernung jeder Einzelreihe wurde eine Pause
von 15 Sekunden gemacht und zur Aufzeichnung des Resultats benutzt. Dann
wurde unmittelbar zu einer folgenden Reihe desselben Versuchs fortgeschritten.
5. Soweit es anging, wurde während des Lernens
stets die Absicht festgehalten, das erstrebte Ziel so schnell als möglich
zu erreichen. Es wurde also, in dem begrenzten Maße, in dem der bewußte
Wille hier von Einfluß ist, beständig versucht, die Aufmerksamkeit
auf die ermüdende Arbeit und ihren Zweck möglichst konzentriert
zu halten. Selbstverständlich wurde zur Ermöglichung dieser Absicht
auf die gänzliche Fernhaltung äußerer Störungen Bedacht
genommen; auch die geringeren Zerstreuungen, die durch Anstellung der Versuche
in verschiedener Umgebung herbeigeführt werden, wurden tunlichst vermieden.
6. Es wurde niemals versucht, die sinnlosen Silben
durch irgendwelche hineingedachte Beziehungen, z. B. nach den Regeln der
Mnemotechniker, zu verbinden; das Lernen erfolgte rein durch die Einwirkung
der bloßen Wiederholungen auf das natürliche Gedächtnis.
Da ich nicht die mindeste praktische Kenntnis der mnemotechnischen Künste
besitze, hatte die Erfüllung dieser Bedingung für mich keine
Schwierigkeit.
7. Endlich und hauptsächlich wurde darauf geachtet,
dass die äußeren Lebensumstände, während der Perioden
der Versuche, wenigstens vor allzu großen Veränderungen und
Unregelmäßigkeiten bewahrt blieben. Natürlich ist dies
im Verlauf vieler Monate nur mit erheblichen Einschränkungen möglich.
Allein es wurde dann wenigstens Sorge getragen, dass diejenigen Versuche,
deren Resultate direkt mit einander verglichen werden sollten, unter möglichst
gleichen Bedingungen der Lebensweise angestellt wurden. Namentlich war
die den Versuchen unmittelbar vorausgehende Beschäftigung immer möglichst
gleichartig. Da das geistige Leben des Menschen, nicht minder wie das körperliche,
einer deutlich hervortretenden 24 stündigen Periodizität unterworfen
ist, so wurde bestimmt, dass gleiche Versuchsumstände nur zu gleichen
Tageszeiten vorausgesetzt werden sollten. Indes wurden, um einen Tag zu
mehr als einem Versuche auszunutzen, gelegentlich verschiedene Untersuchungen
zu verschiedenen Tageszeiten gleichzeitig betrieben. Bei allzu großen
Änderungen des äußeren oder inneren Lebens wurden die Versuche
vorübergehend ausgesetzt. Ihrer Wiederaufnahme gingen dann, verschieden
je nach der Dauer der Unterbrechungen, einige Tage erneuter Einübung
voraus.
§ 14. Fehlerquellen.
Der leitende Gesichtspunkt bei der Wahl des Materials
sowie bei den Bestimmungen für seine Verwendung war, wie man erkennt,
überall das Streben, die Bedingungen, unter denen die zu beobachtende
Gedächtnistätigkeit ins Spiel trat, möglichst zu vereinfachen
und möglichst konstant zu erhalten. Natürlich entfernt man sich,
je besser dies gelingt, nur desto mehr von den komplizierten und wechselnden
Verhältnissen, unter denen diese Tätigkeit im gewöhnlichen
Leben funktioniert und für uns von Bedeutung ist. Aber das ist kein
Einwand gegen die Notwendigkeit jenes Verfahrens. Der freie Fall, die reibungslosen
Maschinen u. s. w., mit denen sich die Physik beschäftigt, sind auch
im Vergleich mit dem, was im wirklichen Geschehen der Natur vorkommt und
für uns wichtig ist, nur Abstraktionen. Ein annäherndes Verständnis
des Komplizierten und Wirklichen ermöglichen wir uns fast nirgendwo
direkt, sondern auf Umwegen, durch sukzessive Zusammensetzung von Erfahrungen,
deren jede an künstlich zurechtgemachten und von der Natur selbst
in dieser Weise selten oder nie erzeugten Fällen gewonnen wurde.
Einstweilen ist es nicht sowohl von Bedeutung, dass
der Anschluß an die Betätigung des Gedächtnisses im gewöhnlichen
Leben vorläufig verloren geht, sondern vielmehr umgekehrt, dass dieser
Anschluß an die Verwickelungen und Schwankungen des Lebens notgedrungen
immer noch ein zu enger ist. Jenes Streben nach möglichst einfachen
und gleichartigen Bedingungen stößt natürlich in zahlreichen
Punkten auf Schwierigkeiten, die in der Natur der Sache wurzeln und es
vereiteln. Die unvermeidliche Ungleichartigkeit des Materials und die ebenso
unvermeidlichen Unregelmäßigkeiten der äußeren Lebensbedingungen
habe ich bereits berührt. Ich weise noch auf zwei andere solcher unumgänglichen
Fehlerquellen hin.
Die Reihen werden durch die sukzessiven Wiederholungen
sozusagen auf ein immer höheres Niveau gehoben. In dem Moment, wo
sie zuerst hergesagt werden können, ist das erreichte Niveau, wie
man annehmen sollte, allemal ein gleiches; und nur wenn das der Fall ist,
wenn das charakteristische erstmalige Hersagen überall ein äußerlich
gleiches Zeichen einer innerlich gleichen Festigkeit der Reihen ist, hat
es ja für uns eigentlich einen Wert. Tatsächlich nun ist das
doch nicht der Fall; die inneren Zustände verschiedener Reihen in
dem Moment der erstmöglichen Reproduktion sind nicht immer dieselben,
sondern höchstens kann man annehmen, dass sie bei verschiedenen Reihen
immer um denselben Zustand innerer Festigkeit herum oszillieren. Man erkennt
dies deutlich, wenn man nach Erreichung jenes ersten spontanen Hersagens
mit dem Wiederholen und Lernen der Reihen weiter fortfährt. In der
Regel bleibt dann die gewonnene Möglichkeit willkürlicher Reproduktion
bestehen; in zahlreichen Fällen dagegen ist sie unmittelbar nach ihrem
ersten Auftreten wieder verschwunden und wird erst durch mehrmaliges Wiederholen
aufs neue erworben. Dies beweist, dass die Prädisposition für
die Aufnahme der Reihen, abgesehen von ihren Unterschieden im großen,
je nach den Tageszeiten, den äußeren und inneren Umständen
u. s. w., kleinen, kurzdauernden Schwankungen unterliegt, mag man diese
nun als Schwankungen der Aufmerksamkeit oder sonstwie bezeichnen. Nähert
sich die Festigkeit des Gelernten dem gewünschten Punkt, und es tritt
ein vorübergehender Moment besonderer Lucidität ein, so erhascht
man die Reihe gewissermaßen im Fluge, oft zur eigenen Verwunderung,
aber man kann sie nicht lange festhalten. Durch das Dazwischentreten eines
Moments besonderer Schwerfälligkeit wird umgekehrt die fehlerlose
Reproduktion eine Weile hinausgeschoben, obgleich man wohl fühlt,
dass man die Reihe "eigentlich" beherrscht und sich ebenfalls wundert über
die immer wieder auftretenden Stockungen. Im ersten Falle bleibt die Reihe
trotz der Gleichheit des äußerlich Erscheinenden etwas unter
dem Niveau der durchschnittlich hiermit verbundenen inneren Festigkeit,
im zweiten geht sie etwas darüber hinaus, und man kann, wie gesagt,
höchstens die plausible Vermutung aufstellen, dass diese Abweichungen
sich bei größeren Gruppen von Reihen kompensieren werden.
Die andere Fehlerquelle kann ich nur als eine möglicherweise
vorhandene, dann aber als eine sehr gefährliche bezeichnen. Das ist
der geheime Einfluß von sich bildenden Theorien und Ansichten. Eine
Untersuchung pflegt auszugehen von bestimmten Voraussetzungen in Betreff
der Resultate. Ist das aber auch von vornherein nicht der Fall, so bilden
sich diese allmählich, falls man gezwungen ist, alleine zu experimentieren.
Denn es ist unmöglich, die Untersuchung längere Zeit fortzuführen,
ohne von den Resultaten Kenntnis zu nehmen. Man muß wissen, ob die
Fragestellung eine richtige war, oder ob sie vielleicht einer Ergänzung
oder Korrektur bedarf; man muß die Schwankungen der Resultate kontrollieren,
um die Einzelbeobachtungen so lange fortzusetzen, dass der Mittelwert die
für den jeweiligen Zweck erforderliche Sicherheit erhält. Dabei
ist es unvermeidlich, dass sich nun hinterher an der Anschauung der Zahlen
Vermutungen entwickeln über die Gesetzmäßigkeit, die in
ihnen verborgen sein könnte und – einstweilen noch unvollkommen –
zur Erscheinung kommt. Bei der Fortsetzung der Untersuchungen bilden dann
diese Vermutungen ebenso wie die anfänglich schon vorhandenen ein
komplizierendes Moment, welches auf den ferneren Ausfall der Resultate
wahrscheinlich einen gewissen Einfluß übt. Selbstverständlich
meine ich keine irgendwie bewußte Beeinflussung, sondern ein ähnliches
Geschehen, wie wenn man sich Mühe gibt, recht unbefangen zu sein oder
sich eines Gedankens zu entschlagen und eben dadurch Gedanken und Befangenheit
erst recht nährt. Man geht den Resultaten mit einer halbwegs antizipierenden
Kenntnis, mit einer Art von Erwartung entgegen. Dadurch, dass man sich
immer wieder sagt, dieselbe dürfe natürlich die Unbefangenheit
der Untersuchung nicht alterieren, geschieht dies doch nicht ohne weiteres,
vielmehr bleibt sie und spielt in der inneren Gesamtattitüde ihre
Rolle. Jenachdem man merkt (und im allgemeinen merkt man dies ja während
des Lernens), dass sie sich bestätigt oder nicht bestätigt, wird
man, wenn auch in noch so geringem Grade, eine Art Vergnügen oder
Überraschung empfinden. Und sollte nicht, trotz der größten
Gewissenhaftigkeit, die Überraschung über besonders auffallende
Abweichungen nach oben oder nach unten ganz unwillkürlich dahin führen,
dass man sich dort etwas mehr zusammennimmt, hier etwas mehr gehen läßt,
als ohne jede Kenntnis oder Voraussetzung von der präsumtiven Größe
des Resultats geschehen wäre? Ich kann nicht behaupten, dass dies
immer oder auch nur häufig der Fall sei, da es sich nicht um direkt
zu Beobachtendes handelt, und da zahlreiche Resultate, bei denen man eine
solche geheime Beugung der Wahrheit am ehesten erwarten sollte, eine evidente
Unabhängigkeit zeigen. Ich muß nur sagen: nach unserer sonstigen
Kenntnis von der menschlichen Natur müssen wir auf solche Machinationen,
sozusagen, gefaßt sein, und bei Untersuchungen, bei denen die jeweilige
innere Haltung von viel größerer Bedeutung ist, als z. B. bei
Experimenten über Sinnesempfindungen, müssen wir ihren möglichen
täuschenden Einfluß besonders aufmerksam im Auge behalten.
Man erkennt, wie sich dieser Einfluß im allgemeinen
äußern würde. Bei mittleren Werten würde er auf die
Beschneidung der Extreme hinzielen, bei solchen, bei denen man eine erhebliche
Größe oder eine erhebliche Kleinheit voraussieht, auf eine weitere
Erhöhung resp. Herabdrückung der Zahlen. Eine sichere Vermeidung
des Einflusses ist nur da zu hoffen, wo die Versuche von zwei Personen
gemeinsam angestellt werden, von denen eine für geraume Zeit
das Lernen über sieh ergehen ließe, ohne nach Zweck und Resultaten
desselben zu fragen. Anderenfalls kann man sich auf Umwegen, und dann vermutlich
nur teilweise, helfen. Man kann die genauen Resultate, wie ich immer getan
habe, wenigstens möglichst lange vor sich selbst verbergen;
man kann die Untersuchung ausdehnen auf möglichst extreme Werte der
Veränderlichen, sodass die eventuelle Beugung der Wahrheit immer schwieriger
wird und relativ immer belangloser; und man kann endlich möglichst
vielfache und für unsere Einsicht von einander unabhängige Fragen
stellen, in der Erwartung, dass dadurch das wahre Verhalten des innerlich
Zusammenhängenden sich doch schließlich Bahn brechen werde.
Wie weit nun bei den im folgenden mitgeteilten Resultaten
die besprochene Fehlerquelle eine Trübung herbeigeführt hat,
entzieht sich natürlich genauerer Schätzung. Die absolute
Größe der Zahlen wird durch sie zweifellos vielfach tangiert
sein, allein da die Absicht der Untersuchungen einstweilen nirgendwo auf
die genaue Bestimmung absoluter Zahlen gerichtet sein konnte, sondern auf
die Gewinnung komparativer (allerdings numerisch komparativer) und verhältnismäßig
immer noch allgemeiner Resultate, so ist kein Grund zu allzu ängstlichem
Mißtrauen gegeben. In einem wichtigen Falle (§ 38) konnte ich
mich direkt vergewissern, dass durch Ausschluß jedes Wissens der
Charakter der Resultate keine Veränderung erlitt; wo, in einem anderen
Falle, ich selbst einen Zweifel nicht ausschließen konnte, habe ich
ihn ausdrücklich hervorgehoben. Jedenfalls wird derjenige, der a priori
geneigt ist, den unwillkürlichen Einfluß geheimer Wünsche
auf die geistige Gesamthaltung sehr hoch zu veranschlagen, billigerweise
auch berücksichtigen müssen, dass der geheime Wunsch, sachliche
Wahrheiten zu finden und nicht mit unverhältnismäßiger
Mühe Geschöpfe der eigenen Phantasie auf tönerne Füße
zu setzen, in dem verwickelten Getriebe jener möglichen Beeinflussungen
ebenfalls eine Stelle beanspruchen darf.
§ 15. Messung der gebrauchten Arbeit.
Die Anzahl der Wiederholungen, welche für das
Auswendiglernen einer Reihe bis zur erstmöglichen Reproduktion erforderlich
war, bestimmte ich ursprünglich nicht direkt durch Nachzählen
derselben, sondern indirekt durch Messung der Zeit in Sekunden, welche
für das Lernen gebraucht wurde. Ich wollte so die mit dem Nachzählen
eventuell verbundene Zerstreuung vermeiden und konnte ja andrerseits voraussetzen,
dass Proportionalität bestehen würde zwischen den Zeiten und
der jedesmaligen Anzahl der in bestimmtem Rhythmus geschehenden Wiederholungen.
Als eine ganz genaue kann man diese Proportionalität freilich von
vornherein nicht erwarten, da bei der Messung der Zeit die Momente des
Stockens und Besinnens mitgemessen werden, bei dem Zählen der Wiederholungen
nicht. Schwierige Reihen, bei denen ja die Stockungen relativ häufiger
sein werden, bekommen dadurch bei der Messung der Zeiten verhältnismäßig
größere, leichte Reihen verhältnismäßig kleinere
Zahlen als bei Bestimmung der Wiederholungen. Allein bei größeren
Gruppen von Reihen darf man offenbar ein leidlich gleichartiges Vorkommen
der schwierigen und leichten Reihen voraussetzen, sodass sich für
jede Gruppe die Abweichungen von der Proportionalität in derselben
Weise kompensieren würden.
Als für bestimmte Versuche das direkte Abzählen
der Wiederholungen dennoch notwendig wurde, habe ich mich folgenden Verfahrens
bedient. Kleine hölzerne Kugelkappen von ca. 14 mm Durchmesser und
4 mm größter Dicke, die in der Mitte durchbohrt waren (sogenannte
Knopfformen), wurden auf eine so starke Schnur gezogen, dass sie sich an
derselben noch bequem verschieben ließen, aber nicht von selbst hin-
und hergleiten konnten. Jedes zehnte Holzstückchen war schwarz, die
übrigen hatten ihre Naturfarbe. Während des Lernens wurde die
Schnur in den Händen gehalten und bei jeder neuen Wiederholung ein
Holzstückchen um einige Zentimeter von links nach rechts verschoben.
Konnte die Reihe hergesagt werden, so genügte, bei der dekadischen
Einteilung der Holzstückchen, ein Blick auf die Schnur, um die Anzahl
der erforderlich gewesenen Wiederholungen zu erfassen. Die Manipulation
erforderte so wenig Aufmerksamkeit, dass an den Mittelwerten der (immer
gleichzeitig notierten) gebrauchten Zeiten keine Verlängerung gegen
früher wahrzunehmen war.
Durch diese gleichzeitige Messung der Zeit und der
Wiederholungen wurde beiläufig Gelegenheit gegeben, das, was über
das Verhältnis der beiden zu einander vorauszusehen war und soeben
angedeutet wurde, zu bestätigen und genauer zu präzisieren. Bei
genauer Innehaltung des vorgeschriebenen Rhythmus von 150 Schlägen
auf die Minute müßte auf jede Silbe eine Zeit von 0,4 Sekunden
entfallen, und bei Unterbrechung des einfachen Lesens der Reihen durch
Versuche, sie auswendig herzusagen, müßte diese Zeit wegen der
unvermeidlichen Stockungen eine mäßige und durchschnittlich
gleiche Verlängerung erfahren. Dies zeigte sich im allgemeinen aber
nicht ganz genau bestätigt, vielmehr ergaben sich folgende Modifikationen.
Bei vorwiegendem Durchlesen der Reihen fand leicht
ein gewisses Drängen, eine Beschleunigung des Rhythmus statt, die,
ohne zum Bewußtsein zu kommen, doch im ganzen den Durchschnitt der
auf jede Silbe fallenden Zeit noch unter den Normalwert 0,4 herabdrückte.
Bei Abwechslung von Durchlesen und Hersagen dagegen war die eintretende
Verlängerung nicht überall annähernd gleich, sondern bei
größerer Länge der Reihen wesentlich größer.
Es trat in diesem Falle, da die Schwierigkeit mit wachsender Länge
sehr rasch zunimmt, wiederum unwillkürlich und direkt nicht bemerkbar,
eine Verlangsamung des Tempos ein. Beides wird durch folgende Zusammenstellung
einiger Zahlen illustriert.
Reihen von 16 Silben wurden vorwiegend gelesen | Dabei entfiel auf jede Silbe durchschnittlich eine Zeit von | Zahl der Reihen | Zahl der Silben |
8 mal | 0,398 Sek. | 60 | 960 |
16 " | 0,399 " | 108 | 1728 |
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Der Silben |
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Sobald übrigens die Richtung dieser Abweichungen
von genauer Proportionalität bemerkt wurde, trat bei dem Lernen eine
gewisse bewußte Reaktion gegen sie ein.
Endlich zeigte sich noch, dass die wahrscheinlichen
Fehler der Zeitbestimmungen verhältnismäßig etwas
größer ausfielen als diejenigen der Wiederholungen. Dieses Verhalten
ist wohl verständlich, wenn man sich des vorhin Auseinandergesetzten
erinnert. Bei der Messung der Zeiten müssen die größeren
Werte, die natürlich an den schwierigeren Reihen gewonnen wurden,
relativ noch etwas größer ausfallen als bei Zählung
der Wiederholungen, weil sie relativ am meisten durch Stockungen verlängert
werden; die kleineren Zeiten umgekehrt werden relativ etwas kleiner
sein als die kleineren Anzahlen von Wiederholungen, weil sie im allgemeinen
den leichteren Reihen entsprechen werden. Die Streuung der Werte für
die Zeiten ist also größer als die der Werte für die Wiederholungen.
Die Differenzen der beiden Bestimmungsweisen sind,
wie man sieht, erheblich genug, um unter Umständen, bei sehr genauen
Untersuchungen, zu verschiedenen Resultaten zu führen. Bei den bisher
gewonnenen Ergebnissen ist das nicht der Fall; es ist also für das
folgende einerlei, ob man sich an die Zahl der Sekunden oder die der Wiederholungen
hält.
Welche Art des Messens die richtigere sei,
d. h. ein adäquateres Maß der aufgewandten psychischen Arbeit,
läßt sich a priori nicht ausmachen. Man kann sagen, die Einprägung
finde lediglich durch die Wiederholungen statt; sie seien also das, worauf
es ankomme; eine stockende Wiederholung sei ebenso gut wie eine glatt verlaufende
nur eine einmalige Vorführung der Reihe, und beide müßten
gleich gezählt werden. Allein andererseits kann man doch bezweifeln,
dass die Momente des Besinnens reiner Verlust seien. Es findet in ihnen
jedenfalls meist eine gewisse Energieentfaltung statt: einerseits eine
sehr rapide nochmalige Zusammenfassung des unmittelbar Zurückliegenden,
ein neuer Anlauf sozusagen, um über den Punkt des Anstoßes hinwegzukommen,
andererseits eine erhöhte Anspannung der Aufmerksamkeit für das
Folgende. Wenn hiermit, wie doch wahrscheinlich, eine festere Einprägung
der Reihen an den betreffenden Stellen verbunden ist, so haben diese Momente
auch Anspruch auf Berücksichtigung, die ihnen nur durch Messung der
Zeiten zu teil wird.
Erst wenn einmal irgendwo eine erhebliche Verschiedenheit
der durch die beiden Messungsweisen erhaltenen Resultate zu Tage tritt,
wird man die eine Art vor der anderen bevorzugen können. Man wird
dann diejenige wählen, welche die einfachere Formulierung der betreffenden
Resultate gestattet.
§ 16. Perioden der Versuche.
Die Versuche sind in zwei Perioden, nämlich in den Jahren 1879/80 und 1883/84 angestellt worden und erstreckten sich jedesmal reichlich über ein Jahr. Den definitiven Versuchen der ersten Periode waren während geraumer Zeit tastende Versuche ähnlicher Art vorangegangen, sodass für alle mitgeteilten Resultate die Zeit der wachsenden Übung wesentlich als überwunden angesehen werden darf. Zu Beginn der zweiten Periode wurde auf eine erneute Einübung Bedacht genommen. Diese zeitliche Verteilung der Versuche, mit einer trennenden Zwischenzeit von über drei Jahren, gibt die erwünschte Möglichkeit einer gewissen gegenseitigen Kontrolle mancher Resultate. Freilich sind dieselben nicht vollkommen vergleichbar. Bei den Versuchen der ersten Periode war nämlich, um das oben (§ 14) erwähnte flüchtige Erhaschen der Reihen in Momenten besonderer Konzentration einzuschränken, die Bestimmung getroffen, dass die Reihen gelernt würden, bis zwei fehlerfreie Reproduktionen nach einander möglich seien. In der späteren Zeit habe ich diese Bestimmung, die ihren Zweck doch nur unvollkommen erreicht, wieder fallen gelassen und an der ersten glatten Reproduktion festgehalten. Durch die ältere Bestimmung wird offenbar in manchen Fällen ein etwas längeres Lernen bedingt. Außerdem bestand ein Unterschied der Tagesstunden für die Versuche. Die der späteren Periode fallen alle in die Nachmittagsstunden von 1–3 Uhr, die der früheren verteilen sich ungleich auf die Stunden 10–11 Vorm., 11–12 Vorm., 6–8 Nachm., die ich der Kürze halber gelegentlich mit A, B, C bezeichne.